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Die Rettung der Zivilisation

I
Die wahrscheinliche Zukunft der Menschheit

Zum erstenmal erschienen in der »Rewiew of Rewiews«.

§ 1

Der gegenwärtige Ausblick auf die menschlichen Dinge gehört zu denen, die weiteste Verallgemeinerung gestatten und weiteste Verallgemeinerung zu verlangen scheinen. Wir befinden uns in einer jener Erfahrungsphasen, die in der Geschichte ausschlaggebend werden. Eine Reihe unermesslicher und tragischer Ereignisse hat die Selbstgefälligkeit der Menschheit zertrümmert, sie hat Willen und Einsicht herausgefordert. Jener leichte allgemeine Fortschritt menschlicher Dinge, der mehrere Generationen hindurch den Glauben an ein notwendiges, unbezwingliches Wachstum zu rechtfertigen schien, ein Wachstum zu grösserer Macht, grösserem Glück und fortschreitender Lebenserweiterung, ist gewaltsam gehemmt und möglicherweise gänzlich aufgehalten worden. Die Katastrophe des grossen Krieges hat in unserer äusserlich gedeihlichen Gesellschaft eine Anhäufung von Vernichtungsgewalten offenbart, die wenige von uns sich hätten träumen lassen; sie hat ebenfalls die tiefe Unfähigkeit bewiesen, diese Mächte zu behandeln und sie zu zähmen. Die zwei Jahre des allgemeinen Mangels, der Unordnung und Unentschlossenheit, die dem Weltkrieg in Europa und Asien folgten, die Ungewissheit, die sogar das verhältnismässig ungestörte Leben in Amerika beunruhigt haben, erscheinen dem wachsamen Verstande noch verhängnisvoller, für unsere soziale Ordnung, als der Krieg selbst. Was geschieht mit unserer Rasse? fragt man sich. Bedeutet der Wohlstand und die zuversichtlichen Hoffnungen, mit denen das 20. Jahrhundert begann, nichts mehr, als den Gipfel zufälliger Glückserscheinungen? Hat sich der Kreis von Wohlstand und Fortschritt schon geschlossen? Wohin wird uns dieses Taumeln, Stolpern, werden uns diese Missgriffe, die feindseligen Ereignisse der Jetztzeit führen? Steht die Welt im Beginn solcher Zeiten des Unglücks und der Verwirrung, wie sie den Untergang des weströmischen Reiches verursachten und in China das Ende der Handynastie? Und wenn dies der Fall sein sollte, wird sich das Unglück auch auf Amerika erstrecken? Oder ist das amerikanische System selbständig genug, durch die Entfernung genügend gesichert, um eine eigene Fortschrittsbewegung beizubehalten, wenn die alte Welt zusammenbricht.

Irgend eine Antwort, wenn auch eine noch so allgemeine und unbestimmte, muss ein jeder von uns auf diese Fragen finden, bevor wir ein einsichtsvolles Interesse an fremden Angelegenheiten nehmen oder eine wirksame Stimme abgeben können. Auch wenn es jemandem nicht möglich sein sollte, eine bestimmte Ansicht zu formulieren, so muss er doch zum mindesten eine stillschweigende Überzeugung besitzen, ehe er in diesen Dingen handeln kann. Ist es ihm nicht gelungen, zu einer klaren Entscheidung zu gelangen, so wird er sich von instinktiven Forderungen des Unterbewusstseins leiten lassen. Es ist sehr viel nützlicher, dass er diese in die Beleuchtung des klaren Gedankens stelle.

Die Unterdrückung der kriegerischen Ereignisse steht, der allgemeinen Anschauung nach, im Mittelpunkt unserer zeitgenössischen Probleme. Der Krieg ist jedoch der menschlichen Erfahrung nichts Neues, jahrhundertelang konnte die Menschheit trotz häufiger Kriege fortbestehen. Die meisten Staaten und Reiche befanden sich in den Zeiten ihres Wohlstandes und ihrer Festigkeit stets in abwechselnde Kriege verwickelt. Aber ihre Kriegsführung war eine andere als heutzutage. Das was die Energie der fortschrittlichen Entwicklung der verflossenen anderthalb Jahrhunderte zu so plötzlichem Stillstand gebracht hat, ist nicht die alte bekannte Kriegführung; die Kriegführung hat sich durch die neuen Bedingungen seltsam verändert und verschärft. Es ist daher diese Veränderung der Bedingungen, nicht der Krieg an sich, die wir als Tatsache ins Auge zu fassen haben, in ihrer Wirkung auf unsere politischen und sozialen Ideen. Die Grossmächte Europas entschlossen sich im Jahre 1914 zum Kriege, wie sie's bei so vielen früheren Anlässen getan hatten, um gewisse Streitpunkte zu schlichten. Dieser Krieg griff mit unerwarteter Schnelligkeit um sich, bis die ganze Welt hineingezogen war. Er entwickelte eine zerstörende Gewalt, ungeheuerlich und grauenhaft, und vor allen Dingen einen Mangel ausschlaggebender Entscheidungskraft, der allen vorhergehenden Kriegen ganz ungleich war. Diese Ungleichheit ist das Wesen der Sache. Was man auch zur Rechtfertigung früherer Kriege vorbringen kann: dass unter den neuen Bedingungen der Krieg nicht mehr ein gangbares Mittel ist, internationale Händel zu schlichten, ist jetzt Vielen klar geworden. Diese Erkenntnis liegt an der Oberfläche. Der Gedanke eines Völkerbundes, mit einem obersten kriegsersetzenden Schiedsgerichtshof erwachte nicht an irgendeinem besonderen Ort, sondern brach gleichzeitig hervor, wo einsichtsvolle Leute zusammen waren.

Worin bestand die Veränderung der Bedingungen, die die Menschheit vor die verblüffende Notwendigkeit stellte, auf den Krieg zu verzichten? Denn verblüffend ist es sicherlich. Bis zum heutigen Tage war, in allen Gesellschaftsschichten, Krieg ein herrschender, angenommener Begriff; nur wenige werden dies bestreiten wollen. Politik hat sich in sehr naher Beziehung zum Begriff des Krieges entwickelt; die äussere Form der Staaten ist durch Angriff und Abwehr geschaffen worden, wie sich ihre innere Organisation durch den Zwang des Zusammenschlusses entwickelte. Fasst man nun plötzlich den Entschluss, Kriegsführung überhaupt aufzugeben, so wird man zur Entdeckung gelangen, dass dieser Entschluss die weitgehendsten, eingreifendsten Veränderungen in politischen, sozialen Begriffen, die auf den ersten Blick gar keine Beziehung zu kriegerischer Betätigung zu haben scheinen, mit sich bringt.

Die drei folgenden Aufsätze behandeln das allgemeine Problem, welches sich aus diesen Betrachtungen ergibt; die Frage: was soll den Krieg ersetzen, falls dieser aus dem menschlichen Dasein ausscheidet? und das Problem, was soll geschehen, wenn er in der Zukunft auf ewig aus den Möglichkeiten und Erfahrungen unseres Geschlechts gestrichen werden soll? denn wir wollen der Wahrheit ins Auge sehen: die Abschaffung des Krieges ist kein leichter, selbstverständlicher Schritt, nicht der Bruch mit einer altertümlichen, barbarischen, nun veralteten Sitte; die Abschaffung des Krieges wird, falls wir soweit kommen können, nicht nur eine vollständige Wandlung des bisherigen menschlichen Daseins, sondern auch der allgemeinen Naturordnung bedeuten, einer Ordnung, die auf Streit und Vorherrschaft basiert. Es wird eine neue Phase in der Geschichte des ganzen Daseins sein, nicht bloss eine neue Seite in der Geschichte der Menschheit. In diesem kurzen Aufsatz wird versucht werden, der Menschheit die ganze Grösse der sie erwartenden Aufgabe vor Augen zu halten, falls der Krieg wahrhaftig beseitigt werden soll, und zu beweisen, dass das Projekt, den Krieg durch gelegentliche Versammlung eines Völkerbundes und dergleichen aus der Welt zu schaffen, ebensoviel Wahrscheinlichkeit des Gelingens bietet, als der Vorschlag Hunger, Durst, Tod durch einen kurzen, gesetzlichen Beschluss abzuschaffen.

Wir wollen erstlich die Veränderungen der menschlichen Daseinsbedingungen prüfen, die den Krieg um sein normales Aussehen brachten, den eines Daseinskampfes innerhalb der menschlichen Gesellschaften, und ihn in einen Schrecken und eine Bedrohung für die gesamte Gattung verwandelten. Die Veränderung liegt wesentlich in einer Änderung der menschlichen Zwecken erreichbaren Machtmittel, sie liegt spezieller in der Anhäufung materieller Macht, die einem einzigen Individuum unterworfen sein kann. Bis vor ein paar Jahrhunderten besass die menschliche Gesellschaft hauptsächlich das Menschen- und Pferdekraftsystem, dazu kam ein beschränktes Mass von Wind- und Wasserkraft. Die ersten Anzeichen der Umwälzung begannen vor sieben Jahrhunderten mit dem Auftreten der Explosivstoffe. Im 13. Jahrhundert machten die Mongolen sehr wirksam Gebrauch des von den Chinesen entdeckten Schiesspulvers. Sie eroberten den grössten Teil der damals bekannten Welt und die Einführung eines geringgradigen Explosivs, zu Kriegszwecken, vertilgte schleunigst die Vorherrschaft fester Städte und Burgen, vernichtete das Rittertum und zerstörte vollständig die Bewässerungsanlagen Mesopotamiens, vor der Geschichtsschreibung, einst eines der fruchtbarsten, bevölkertsten Länder. Die damaligen noch sehr bedingten Kenntnisse der Metallbehandlung beschränkten den Umfang und die Tragweite der Kanonen. Erst im 19. Jahrhundert machte die grössere Produktionsmöglichkeit von Gussstahl und die Erweiterung chemischer Kenntnisse verschiedentliche Explosivstoffe militärischen Zwecken dienlich. Die systematische Ausbreitung menschlicher Macht begann im 18. Jahrhundert mit der Nutzbarmachung von Dampf und Kohle. Damit begann ein Wachstum auf dem Gebiet der Entdeckung und Erfindung, das der Menschheit immer neue, sich anhäufende materielle Macht in die Hände spielte. Auch heute hat dieses Wachstum vielleicht noch nicht seinen Höhepunkt erreicht.

Wir brauchen die altbekannten Geschichten von der daraus folgenden Aufhebung jeder Entfernung, nicht noch einmal zu wiederholen: wie durch Radiogramm und Telegramm jede in der Welt sich ereignende wichtige Begebenheit gleichzeitig zu einem Ereignis für jeden Einzelnen werden kann; wie Reisen, die früher Monate und Wochen in Anspruch nahmen, jetzt in Tagen oder Stunden erledigt werden können, oder wie Papier und Buchdruckerkunst die allgemeine menschliche Bildung gehoben haben usw. Noch wollen wir den Einfluss dieser Erscheinungen auf die Kriegsführung schildern. Das was uns dabei interessiert ist dieses: vor dem Zeitalter der Erfindungen stritten und kämpften die verschiedenen menschlichen Gemeinschaften, wie unartige Kinder in einem überfüllten Kinderzimmer, innerhalb der Grenzen ihrer Möglichkeit. Sie verletzten, verwundeten sich, aber es ist selten vorgekommen, dass eines das andere vollständig vertilgt hätte. Ihre Händel mögen auch viel Unglück verursacht haben, sie waren jedoch noch immer erträglich. Man kann diese früheren Kriege sogar als gesundende, kräftigende lebenserneuernde Konflikte betrachten. In diese Kinderstube aber trat nun die Wissenschaft, sie drückte den Kindern vergiftete Rasierklingen in die Faust, Explosivbomben von erschreckender Sprengkraft, ätzende Flüssigkeiten und dergleichen. Der verhältnismässig harmlose Streit der Kinder ist nun plötzlich mit so fürchterlichen Mitteln ausgerüstet, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, wann sich die Kinderstube früher oder später in einen Leichenhaufen verwandeln oder in die Luft gesprengt werden wird. Eine wirkliche Kinderstube, in die eine gewissenlose Person, solche Gabe verteilend, eindränge, würde bald durch das Eingreifen der Kinderfrau gerettet werden. Aber die Menschheit besitzt keine solche Pflegerin, sie besitzt nichts, als ihre eigene armselige Einsicht. Und ob diese armselige Einsicht sich zur Höhe wirksamen Eingriffs aufraffen kann, das ist heutzutage das wesentliche Problem der weltgeschichtlichen Dinge. Die todbringenden Erfindungen nehmen ihren Fortgang. Von 1914 bis zum Beginn des Jahres 1918 kann man in den Kriegsmitteln ein beständiges Anwachsen der fürchterlichen Zerstörungskraft bemerken; Material- und Energiemangel milderten diesen Fortgang; aber seit dem Waffenstillstand hat sich die Kriegswissenschaft wesentlich entwickelt. Man versichert uns, dass der nächste, gut organisierte Krieg sehr viel rascher und ausgiebiger wirken wird, namentlich auf die Zivilbevölkerung. Die Heere werden sich nicht mehr auf Strassen fortbewegen, sondern in Linien ausgerollt, auf schweren Tanks, durch die von ihnen überschwemmten Gegenden, dieselben vollständig aufpflügend, sich heranwälzen; der Luftkampf wird mit Bomben, die jede einzeln eine kleine Stadt vernichten kann, tausende von Meilen hinter der Front geführt werden, und die See wird durch Minen und Unterseeboote von jeglicher Schiffahrt gesäubert werden. Es wird kein Unterschied zwischen Kämpfenden und Nichtkämpfenden gemacht werden, weil jeder gesund gestaltete Bürger, männlichen oder weiblichen Geschlechts, als wirksamer Erzeuger von Nahrungs- und Munitionsmitteln gilt, und wahrscheinlich werden in diesem allgemeinen Untergang nur die Hauptquartiere der streitenden Heere das bestgeschützte und sicherste Obdach gewähren. Von dort aus werden militärisch hochgeschulte Leute von sehr beschränktem Horizont das Zerstörungswerk über das Mass ihres eigenen Verständnisses hinaus, vollenden. Die rauhe Kriegslogik, die den Sieg stets dem energischsten und gewaltätigsten Kämpfer erteilt, wird die Kriegsführung mehr und mehr aus einem um Beute und Eroberungssucht geführten Unternehmen, in einen Vorgang verwandeln, der die endgültige Vernichtung des Gegners zum Zwecke hat. Beharrliche und unnachgiebige Tapferkeit ist für kriegerische Zustände charakteristisch. Krieg ist Krieg und Ungestüm liegt in seinem Wesen. Man muss immer so stark als möglich losschlagen. Offensive und Gegenoffensive gewinnen die Oberhand über die blosse Verteidigung. Im nächsten grossen Kriege wird der Sieger nicht weniger als der Besiegte aus der Luft bombardiert, ausgehungert und weissgeblutet werden. Sein Sieg wird kein leichter sein; es wird der Triumph des Erschöpften, Sterbenden über den Toten sein.

Man hat beweisen wollen, dass ein so lang vorbereiteter, gut organisierter Krieg wie der, den die Welt von 1914-1918 erlebte, sich, wegen der Schäden, die die soziale Stabilität dadurch erlitten, in absehbarer Zeit wahrscheinlich nicht wieder so bald ereignen kann. Es wird vielleicht ein paar zufällige, kurze Kriege geben, ungenügend vorbereitet, so urteilen diese hoffnungsfrohen, oberflächlichen Kritiker, aber keine noch so in sich gefestigte, der Bevölkerung sichere Staatsführung kann einen wissenschaftlich geführten Krieg vorbereiten und unternehmen. Diese Aussicht bietet der Menschheit jedoch keinen befriedigenden Ausblick, denn es läuft daraus hinaus, dass solange die Menschheit so verarmt und ungeordnet ist, sie sich zu der Höhe eines gutgeführten Krieges, nicht mehr aufschwingen kann. Augenscheinlich wird dies aber nur solange dauern, als sie sich in so verarmten und zerrütteten Verhältnissen befindet. Kaum genesen, wird sie sich von neuem erheben, um das frühere Unheil heraufzubeschwören, mit all den modernen Vervollkommnungen und Erfindungen, die der menschliche Geist in der Zwischenzeit ersonnen haben mag. Die neue Phase von Streit, Unordnung, sozialer Auflösung, in der wir uns befinden, dieser Zustand des Verfalls, den wir den anwachsenden, zunehmenden Verwüstungs- und Zerstörungsmitteln, über die die Menschheit verfügt, verdanken, muss daher solange anhalten, als die auf veralteten Konfliktsvorstellungen beruhenden Spaltungen währen; und sollte der Niedergang zeitweilig aufgehalten scheinen, so wird es nur dazu dienen, um unter dem Einfluss jener Ideen, neuen Kriegsstoff anzuhäufen, genugsam zerstörend, verheerend, um den Auflösungsprozess von neuem herbeizuführen.

Wofern die Menschheit ihre sozialen und politischen Begriffe nicht auf dieses wesentlich neue Faktum der ungeheueren, vergrösserten Machtmittel einstellt, wofern sie ihre Streitsucht nicht einschränkt und bändigt, scheint uns keine andere Möglichkeit, als Verfall offen zu stehn, wenigstens bis zu einem solchen Grad des Rückschritts, dass wir alle wissenschaftlichen und industriellen Vorzüge unserer Zeit dabei einbüssen und vergessen. Wenn alle Möglichkeiten auf ihre frühere, primitive Stufe herabgesunken sein werden, dann wird sich unsere Rasse vielleicht in einer Art von Gleichgewicht zwischen den Vorteilen und Schäden von Krieg und Frieden halten können. Da unser dekadentes Geschlecht aber sehr viel weniger Lebensfähigkeit und Widerstand besitzt als in früheren, primitiven Zeiten, so wird es vielleicht auch irgend einem animalischen Feind zum Opfer fallen oder durch eine Seuche vernichtet werden, die durch Ratten, Hunde, Insekten oder dergleichen verbreitet wird, die dazu bestimmt sein mögen, die Erben unserer heutigen modernen, rostenden Städte, Höfe, Brücken, Strassen zu werden.

Um diesen Rückschritt zu verhindern, scheint es mir nur eine Möglichkeit zu geben, und das ist der sorgsame, systematische Neuaufbau der menschlichen Gesellschaft. Die Welt ist für die Gemeinschaft geschaffen, und mit der Zeit wird der menschliche Verstand auch fähig werden, dieses einzusehen und sich der Tatsache anzupassen. Es wird der Menschheit gelingen, sich von Krieg und Kriegsführung abzukehren und sich in einem unendlichen, weltumfassenden Streben gegenseitiger Mitwirkung, Duldung und Hilfe zusammenzuschliessen. Sie werden Kraft finden, um ihre alte Gewohnheit in getrennten Staaten zu leben, aufzugeben, sie werden ihre Rauflust und die Zerstörungsmittel ihrer traditionellen Feindseligkeit zu bändigen wissen und ihre Lebensbedingungen in ein einziges Gesetz und in einen Frieden einigen. Diese neuen, in der Natur noch vergeudeten Kräfte, die ihnen verliehen worden sind und die, falls ihre Ziele streitsüchtig und ungeeint bleiben, sicherlich ihren Ruin herbeiführen werden, werden dann ein Mittel sein, um eine neue Ordnung, ein kaum vorstellbares Glück, Nutzen und Vollendung herbeizuführen. Aber ist unsere Rasse zu solch einer Anstrengung fähig, zu einer solchen Umkehr ihrer angeborenen, instinktiven Impulse? Können wir in dem heutigen politischen, geistigen Leben Vorzeichen finden zu solch kühnem, umstürzlerischem Bestreben? Inwieweit dienen wir, Leser und Schreiber dieser Zeilen, z. B. diesen grossen, neuen Lebenszielen? Halten wir sie getreulich im Herzen? Und wie ist es mit unserer Umgebung? Lassen wir uns und das ganze menschliche Geschlecht nicht von der Strömung der Umstände treiben wie vor 1914? Ohne eine gewaltige Anspannung unsererseits (oder seitens irgend eines andern) wird diese Strömung, die unser Geschlecht zeitweilig in einen Sonnenschein von Hoffnungen und Glücksfällen gezogen hat, die Menschheit sicherlich unrettbar in neue Kriege, neues Elend, Hunger, Mangel, soziales Unglück reissen, und entweder vollständiger Vertilgung oder weit über unser gegenwärtiges Verständnis reichender Erniedrigung entgegentreiben.

§2

Die dringende Notwendigkeit einer grossen, schöpferischen Anstrengung in den Menschheitsdingen ist klar ersichtlich. Es ist klar ersichtlich, dass wofern in der Welt nicht eine Zweckseinheit vollendet wird, wofern die immer heftigeren, vernichtenderen Zufälle der Kriege nicht verhütet werden können, wofern nicht eine gemeinsame Oberaufsicht in der unbesonnenen Verschwendung, der beschränkten menschlichen Mittel von Kohle, Öl und moralischer Energie, wie sie jetzt vor sich geht, eingeführt wird, die Geschicke der Menschheit baldigst in einer Art von Untergang enden müssen, in welcher das Elend des grossen Krieges noch überboten werden wird, chaotische soziale Zustände entstehen und der degenerierende Prozess in einer allgemeinen Austilgung gipfeln wird. Soweit scheinen jetzt alle vernünftigen Leute einig. Über die Frage jedoch, wie und in welcher Weise eine Zweckeinheit und gemeinschaftliche Kontrolle aller menschlichen Angelegenheiten eingeführt werden soll, darüber besteht noch eine grosse und bedauerliche Meinungsverschiedenheit und als Folge davon Schwäche und vergeudende Willensspaltung. Fürs erste ist nichts anderes erzeugt worden, als der erwiesenermassen unzulängliche, in Genf tagende Völkerbund und eine Anzahl sehr unbestimmter Bestrebungen allgemeiner Entwaffnung, allgemeiner Weltregeln und dergleichen. Der schwache Punkt aller dieser verschiedenen Bestrebungen ist eine gewisse wohlgesittete Schüchternheit und der fehlende Sinn für den Umfang des uns bevorstehenden Unternehmens. Einer der bedenklichsten Fehler unserer zeitgenössischen Erziehung ist gerade der Mangel an Verständnis für die Bedeutung der Aufgabe. Aus der Notwendigkeit eines ausgedehnten politischen Organs ergibt sich durchaus nicht, dass ein sogenannter Völkerbund, ohne repräsentatives Gewicht, militärische Macht und jede Art von Autorität, ein Bund, aus dem ein grosser Teil der Welt völlig ausgeschlossen ist, diesem Bedürfnis entspricht. Die Leute meinen, es sei besser als garnichts. Aber es kann auch schlimmer sein als garnichts, es kann die welteinigenden Bestrebungen durch Enttäuschung vernichten. Wenn ein toll gewordener Elefant in einem Garten losbricht, so tut man am besten, dem Gärtner eine Flinte zu überantworten, aber es muss auch ein entsprechendes Gewehr sein, ein Elefantengewehr. Ihm eine kleine Büchse in die Hand zu drücken, mit der man Saatkrähen erlegt, ihm zu sagen dies sei besser als garnichts und ihn aufzufordern, es mit dem Elefanten aufzunehmen, wäre jedenfalls das direkte Mittel nicht den Elefanten, sondern den Gärtner loszuwerden. Wenn die Leute nur klarer denken wollten, so würden sie einsehen, dass ein oberster Rat ohne souveräne Macht etwas undenkbares ist, aber den Urhebern dieser frühzeitlichen Welteinigungsbestrebungen fehlt in dieser Beziehung der Mut der Offenheit. Sie befürchteten neue Ausbrüche von tobendem Patriotismus, deshalb versuchten sie selbst zu glauben und die Leute glauben zu machen, dass sie nichts anderes als einen Völkerbund im Auge hätten, während es sich doch in Wahrheit um die Unterordnung aller Nationen und Regierungen unter ein allgemeines Gesetz und eine Führung handelt. Die elementare Notwendigkeit, dass der oberste Rat einer allgemeinen Friedensorganisation, die mehr als eine internationale, sentimentale Geste sein will, nicht nur absolute Erfahrung und Kenntnisse besitze, sondern auch wirksame Kontrolle aller militärischen Hilfsmittel und Einrichtungen ausübe, erschreckt sie. Sie haben nicht einmal um eine solche Kontrolle nachgesucht. Die düstere Dauerhaftigkeit der bestehenden Dinge war stärker; sie wollten Änderung schaffen, aber als es sich darum handelte Hand anzulegen, oh nein! und sie beschlossen lieber die Dinge sich selbst zu überlassen. Sie verlangten nach einer neuen Welt – aber diese neue Welt soll das gleiche enthalten wie die alte.

Aber irren sich diese Intellektuellen nicht in der Einschätzung des gemeinen Mannes? Ist er solch ein hitzköpfiger, leerer Narr, wie sie anzunehmen scheinen? Ist er so patriotisch, wie sie es in Erfahrung gebracht haben? Soll die Menschheit vor dem Untergang bewahrt werden, so muss eine oberste Weltführung entstehen; eine oberste Weltführung ergibt aber eine allgemeine Weltregierung, es ist bloss eine andere Benennung für das Gleiche. Selbstverständlich muss diese Regierung eine Flotte haben, die der englischen Seemacht überlegen ist, eine Artillerie, die stärker ist als Frankreichs Artillerie, Luftstreitkräfte, die alle anderen Luftstreitkräfte ausschalten usw. Anstatt aller Flaggen eine allerhöchste Flagge; erbis terrarum.

Solange die oberste Weltregierung nicht darauf beruht, so ist sie eben so lächerlich, wie ein Richter, der, sich auf zwei unbewaffnete Polizeidiener, einen Zeitungsreporter und Hofkaplan stützend, seinen Urteilsspruch gegen die schwerbewaffneten Anhänger des Klägers und des Beklagten durchsetzen will. Man hält den gemeinen Mann aber für so blind und hoffnungslos vernarrt in seine englische Flotte, französische Armee oder was sein besonderes Steckenpferd militärischer Gewaltmittel sei, dass es als unmöglich gilt, dies geliebte, vergötterte Spielzeug abzuschaffen. Wenn dies der Fall ist, so ist ein weltumfassendes Gesetz unmöglich, und wir werden gut daran tun, uns mit einem geringen Mass von Glückseligkeit, das wir erhaschen können, zu begnügen, und dem tollen Elefanten im Garten den Willen zu lassen. Aber ist dies wirklich so? Wenn die Masse der gewöhnlichen Leute unheilbar patriotisch und kriegerisch gesinnt ist, warum findet man dann in der gesamten patriotischen Literatur so oft den Ton klagender Warnungsrufe? Warum z. B. schreibt Mr. Rudyard Kipling in seiner Geschichte Englands so streng und scheltend? Für jeden, der sich mit der Zukunftsaussicht der Menschheit beschäftigt, war die allgemeine Entgegnung auf Präsident Wilsons Verteidigung des Völkerbundsgedankens, in seinem ersten Stadium 1918, vor der vernichtenden und erschlaffenden Enttäuschung der Versailler Konferenz, ausserordentlich bedeutsam. Kürzlich noch hatte es den Anschein, als wenn Präsident Wilson vor einer ganz neuen Ordnung der Dinge stände, als wenn er Einsicht, Macht und Willen besässe, um die Fäden von Hass, Nationalismus und Diplomatie, in die die alte Welt verstrickt ist, zu zerreissen. Und damals, als er dazu fähig schien, als er der Welt in diesem Sinne die grössten Versprechungen machte, fand er auch in der ganzen Welt den grössten Anhang und die äusserste Unterstützung. In der letzten Hälfte von 1918 gab es schwerlich in irgend einem Land der Welt nicht Leute, die bereit gewesen wären, für Präsident Wilson zu sterben. Eine grosse Hoffnungsfreudigkeit ging durch die Welt. Sie schwand, schwand wieder rasch dahin. Aber diese kurze Welle des Enthusiasmus, welche die Gemüter in der gesamten Welt, in China, Buchara, in Island, Basutoland, Irland und Marokko, durch denselben grossen Gedanken eines Gerechtigkeitsfriedens in Bewegung setzte, war in der Tat als Faktum vielleicht denkwürdiger, als das Ereignis des grossen Krieges. Es eröffnet die Möglichkeit, dieselben allgemeinen Ideen gleichzeitig in der ganzen Welt zur Ausführung zu bringen, etwas was weit über den Begriff früherer Erfahrung ging. Es bewies, dass die Allgemeinheit der Menschen fähig ist, ebenso friedliebend und kosmopolitisch zu empfinden, wie patriotisch und kriegerisch. In beiden Neigungen liegt eine Ausdehnung und Erhebung, die weit über den Durchschnitt der Empfindung des täglichen Lebens geht, in dem weder das eine noch das andere zu finden ist. Beides sind vergängliche Stimmungen, durch äusseren Antrieb entstanden. Auf diese erste Welle populären Empfindens für ein Weltgesetz als Gegenbewegung gegen die heutige Führung und Diplomatie, nicht auf die schüchterne Gesetzmässigkeit der Urheber des Völkerbundgedankens, müssen wir zurückblicken, wenn wir überhaupt auf eine dauernde Neuordnung der Dinge hoffen. Wir wollen auf den Geist jenes sehr flüchtigen Enthusiasmus, der auf Präsident Wilsons ebenfalls sehr flüchtige Grösse erfolgte, zurückgreifen; wir müssen daran festhalten, ihn zurückrufen, erweitern und festigen, ihn zu einer Flut weltumfassenden Patriotismus machen, zum Schöpfer neuer Gesinnung, neuer Treue und Aufopferung; aus dem Staub unserer heutigen Einrichtungen heraus neues erbauen und diesem Geist, in der Gestalt eines wahren Weltstaats, neues Leben geben.

Wir haben die Notwendigkeit der Errichtung eines starken, gerüsteten Weltstaats, falls die Menschheit nicht an der Hypertrophie der Kriegsführung zugrunde gehen soll, klar gelegt. In diesem Geist, der schon einmal in der Welt aufleuchtete, liegt die mögliche Kraft, einen solchen Weltstaat zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Was hindert nun aber die Erfüllung dieses allgemeinen menschlichen Bedürfnisses? Warum tut sich keine umfassende, schöpferische Bewegung kund, an der Millionen von Frauen und Männern teilnehmen, mit ihrem ganzen Herzen teilnehmen, da doch die Gründe so überwältigend sind, die Neigung so verbreitet ist? Wie ist es möglich, dass ausser dieser kläglichen Geste des Genfer Völkerbundes, ausser einigen Büchern und Zeitungsartikeln, einigen Flugschriften, zusammenhangloser Vereinstätigkeit, hauptsächlich seitens einer aufdringlichen Sorte von Leuten, gelegentlichen Vorträgen, Reden und Andeutungen, kein Versuch gemacht wird, den Trieb, der die Menschheit offenbar neuen Streitigkeiten und endgültigem Unglück entgegenführt, aufzuhalten? Die Antwort darauf greift tief in die leitenden Fragen menschlicher Motive.

Es muss wohl daran liegen, dass wir alle so sehr von unserer unmittelbaren Umgebung abhängen, unser Geist und unsere Wirksamkeit hauptsächlich von den Geschäften des täglichen Lebens in Anspruch genommen sind und wir alle nur unser eigenes Leben leben und nur wenige von uns, ausser in einer Art unbewusster Mitempfindung, das Leben der Menschheit. In Augenblicken geistiger Regsamkeit, durch Studium und Beschaulichkeit, gelingt es uns zuweilen, die Bedürfnisse und Gefahren menschlicher Bestimmungen zu erfassen. Doch scheint es nur Ausnahmeseelen, Charakteren von prophetischer Begabung möglich, ohne äusseren Beistand daran festzuhalten und ihr Dasein auf verhältnismässig so riesenhafte Erwägungen einzustellen. Der Durchschnitt der Frauen und Männer, soweit ihre natürlichen Fähigkeiten reichen, ist schwerlich eher dazu fähig die Zukunft der Menschheit zu begreifen und ihr bewusst zu dienen, als eine Tonne voll gut gemästeter Kaninchen es erfassen wird, dass ihre Tonne stetig und langsam einen Abhang herunterrollt, dem Meere zu. Nur durch das Ergebnis erziehlichen Strebens zur Überwindung der vielfachen Widerstände kann unser Geist zu einer weiteren Auffassung gelangen. Seit Tausenden von Jahren haben in jedem Zeitalter Männer von aussergewöhnlicher Weitsichtigkeit ihr Leben in leidenschaftlicher Anstrengung verbracht, um uns gewöhnlichen Sterblichen die Augen zu öffnen und uns in Beziehung zu bringen zu den grossen Fragen des Daseins. Diese Pioniere der Erkenntnis haben der Welt ihre religiösen und philosophischen Glaubensausübungen gebracht, ihre Gebräuche und Gesinnungstreue; sie haben ihren Mitmenschen die Begriffe von Grösse und Pflicht eröffnet. In jedem Zeitalter hat sich der gewöhnliche Mensch widerstrebend diesen Lehren gefügt, er hat sich durch die ihm eigentümlichen Kompromisse damit abgefunden, sie so viel als möglich zu blossem Schein und Form entwertet und ist dann wieder, so schnell als möglich, zu den natürlichen Nahrungswünschen, persönlichen Feindseligkeiten, Nebenbuhlerschaften, Freuden und Seligkeiten, die seine Wirklichkeit ausmachen, zurückgekehrt. Die grosse Masse von heute scheint wenig danach zu fragen, sie wollen auch garnicht danach fragen, wohin die politischen und sozialen Einrichtungen, an die sie gewöhnt sind, sie führen. Solche Betrachtungen überanstrengen uns. Nur durch das äusserste Streben derjenigen, die Sinn für die Gefahren und Pflichten der Menschheit haben, kann jemals die gesamte Menschheitsenergie vereint, organisiert und auf das allgemeine Beste gerichtet werden. Fast alle Frauen und Männer werden, wenn sie nicht besonders dazu befähigt sind, Erörterungen, wie die obigen, weder als besonders richtig oder unrichtig ansehen; es interessiert sie nicht wahrhaft, langweilt sie und grösstenteils würden sie sie am liebsten übersehen, wie die Kaninchen der Tonne einen Vortrag über Kreisbewegung, Gravitation und die physiologischen Folgen anhaltenden Unterwassertauchens verachten würden. Aber der Mensch ist als Wesen ein sehr anderes Geschöpf als ein Kaninchen, und wenn er auch weniger instinktiv sozial veranlagt ist, so ist ers dafür bewusster. Eine der Hauptverschiedenheiten ist das Vorhandensein eines Triebes, den wir Gewissen nennen; das stete Sehnen, gut zu sein und das Gute zu tun, die Grundlage des moralischen und vielleicht auch zum grössten Teil des religiösen Lebens; und darauf beruhen unsere Hoffnungen für die Menschheit. Der Mensch liebt es, nicht auf das Gute hingewiesen zu werden und doch möchte er gerne das Gute tun; er ist ein Wesen, das in sich gespalten, seinen Egoismus zu erhalten und zu überwinden sucht. Auf Letzteres müssen wir in Bezug auf die Entwicklung eines Weltstaatsgedankens unsere Hoffnungen setzen, auf ein gradweises Zusammenfassen aller jetzt noch zerstreuten, chaotischen und herkömmlichen Bestrebungen in eine einzige, machtvolle, aufbauende Bewegung; einen andern Weg gibt es nicht. Und so lange der Weltstaat nicht erreicht ist, bietet der Ausblick in die Zukunft der Menschheit nichts als anhaltende Missordnung, Streitigkeit, von immer zerstörenderer, verderblicherer Art, einen stetigen Prozess der Gewalttätigkeit, des Verfalls und Elends, bis zur vollständigen Vernichtung oder bis zu einer Erniedrigung unseres Urbildes, weit über das Mass unseres heutigen Begreifens und Nachempfindens hinaus.

§ 3

Sucht man die Zukunft der Menschheit zu schätzen, so sind zwei leitende Tatsachen dabei vorwiegend. Erstens die klar ersichtliche Notwendigkeit einer politischen Neubildung der Welt zu einer Einheit, um unsere Rasse vor sozialer Auflösung und vollständiger Vernichtung, wie der unter den modernen Bedingungen geführte Krieg sie schliesslich herbeiführen muss, zu schützen und zweitens das augenscheinliche Nichtvorhandensein eines hinreichenden Willensstrebens in der heutigen Menschheit, eine solche Neuordnung möglich zu machen. Faktoren dieses Strebens treten auf, doch grösstenteils noch unerweckt oder unorganisiert und unzulänglich. Eine merkwürdige Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu erfassen, den wahren Zustand der Menschheit zu erkennen, einen tatsächlichen Widerstand, die Dinge zu sehen wie sie sind – denn der Mensch ist ein Wesen, das Anstrengungen scheut – hindert zum grossen Teil die Entwicklung eines solchen Willens. Und da die Wirkung eines starken Willens fehlt, so werden die Dinge von Gewohnheit, Bedürfnissen, Tradition und zufälligen Kursänderungen getrieben. Nach der tragischen Erschütterung, die die Menschheit durch den grossen Krieg erlitten, scheint sie neuen, wahrscheinlich noch verderblicheren Erschütterungen entgegenzutreiben.

Die Katastrophe des grossen Krieges hat eine gewisse Anzahl umsichtiger Leute von der Notwendigkeit überzeugt, dass eine allgemeine Aufsicht den alten herkömmlichen Gang der Ereignisse zu ersetzen habe. Aber die Schwierigkeit eines solchen Unternehmens schreckt sie zurück. Das einzig mögliche Mittel, um eine allgemeine Weltführung vor den Augen der bestehenden Regierungen, Einrichtungen, Vorurteile, Hemmungen und der allgemein herrschenden Geringschätzung zu bewerkstelligen, ist: den Gedanken in die grosse Masse zu tragen. Dies bedeutet noch nie dagewesene erziehliche Bestrebungen, Appellation an das menschliche Verständnis, die menschliche Vorstellung, wie die Welt dies noch nie gesehen hat. Wird es möglich sein, das bisher noch so chaotische Willensstreben der Menschheit vernunftgemäss wirksam zu machen? Diese Möglichkeit, wenn überhaupt eine solche besteht, ist die wichtigste in den gegenwärtigen Menschheitsdingen.

Wir fordern hier etwas Ungeheures: eine neue Gedankeneinstellung, ungeheure Begriffserweiterungen und etwas, was einer neuen Herzensbildung in Millionen menschlicher Wesen gleichkommt. Aber dafür gilt es auch das Schicksal der Gesamtheit, es gilt für Jahrhunderte im voraus, Krieg, Hunger, Wirrsal, Elend und Mangel zu verhindern. Einzusetzen haben wir dabei fürs erste nichts, als das erwachende Verständnis und Gewissen einiger Tausende. Kann ein geringes Mass von Sauerteig so viel Teig durchsäuern? Ist in der grossen Masse der Menschheit Verständnis dafür latent? Können wir in der Geschichte irgend ein Beispiel finden, das uns zu der Hoffnung auf eine so riesenhafte geistige Umwälzung unseres Geschlechts berechtigt? Der Rückblick auf die Verbreitung des Christentums im 4. Jahrhundert, die Verbreitung des Islams im 7. Jahrhundert kann die Frage, ob eine Sinnesänderung der Menschheit denkbar ist, ob sie sich möglicherweise vollziehen kann, bejahen. Betrachten wir die beiden angeführten Beispiele. Die Verbreitung der christlichen und islamitischen Lehre hat die politischen und sozialen Aussichten für weiteste Gebiete der Erdoberfläche auf ewig umgewandelt. Dabei ging die Verbreitung dieser Lehren von einem einzigen Mittelpunkt aus, anfänglich von nichts anderem getragen, als von Wort und Einfluss einzelner Persönlichkeiten, während heute der Trieb einer Welteinigung gleichzeitig in vielen Ländern, allen möglichen Gesellschaftskreisen eingesetzt hat, und während wir heute mit Bevölkerungsschichten rechnen können, die des Lesens kundig sind, während wir sie durch Druck und Schrift erreichen können, durch allgemeine Verbreitung von Schriften, organisierten Vorträgen und dergleichen, wurden jene früheren Umwälzungen durch nichts anderes als das gesprochene Wort und Handschriften, die weitergegeben wurden, vollzogen. Einen wirksamen Gebrauch der ausgedehnten Möglichkeiten unserer modernen Zeit macht bisher nur der Handeltreibende. In der Welt des Gedankens zögert man noch immer, sich der jetzt gangbaren Mittel zu bedienen. Geschichte und politische Philosophie zeigen sich in der modernen Welt zurückhaltend wie exclusive Gäste bei einem Diner; sie sprechen im Unterton und hübschen Anspielungen mit ihren nächsten Tischnachbarn, sind aber entsetzt bei dem Gedanken, sich an die ganze Tischgesellschaft wenden zu sollen. Aber in einer Welt, in der sich der Gott des Krieges in einer einzigen Nacht erheben und eine ganze Stadt zerstören kann, dürfen wir es nicht dulden, dass die Weisheit ihre Stimme nur zu kaum hörbaren Artigkeiten erhebt. Wenn Weisheit und Einsicht gut genug für die Besten unter uns sind, so sind sie's auch für die Allgemeinheit. Das Evangelium der Brüderlichkeit von gleichem Gesetz und Recht für die ganze Menschheit, der Versuch, der zwingenden Notwendigkeit einer allgemeinen Führung der menschlichen Dinge zu entsprechen, die in der Tat nicht eine neue Religion ist, sondern nur der Versuch, das was alle in der Welt bestehenden Religionen lehren, praktisch zu verwirklichen, sollte mit beherrschender Stimme in der ganzen Welt, von einem Pol zum andern, vernehmbar werden. Dies Evangelium muss ein Bestandteil der universalen Erziehung werden, muss in allen Schulen und Universitäten fortgepflanzt werden. Es wird zu häufig übersehen, vielleicht in Amerika noch häufiger als in Europa, dass Erziehung für die Gemeinschaft und für den Einzelnen nur insofern Wert hat, als es den Einzelnen zu einem brauchbaren Mitglied der Gesellschaft macht. Der Hauptzweck der Erziehung ist, den uns angeborenen rohen Egoismus den gemeinsamen Zielen der Menschheit zu unterstellen und ihn zu veredeln. Jede Schule, jede Hochschule lehrt direkt und noch mehr indirekt und stillschweigend Beziehung zu einer Gemeinschaft und gegenseitige Anpassung. Aber nur zu häufig ist die Gemeinschaft, zu der unsere Kinder in den Schulen und Hochschulen erzogen werden, zu eng begrenzt; es ist nichts als die Gemeinschaft einer Klasse, einer Sekte, einer Nationalität. An Zahl haben die Schulen der ganzen Welt im letzten Jahrhundert bedeutend zugenommen, aber an erzieherischer Bedeutung haben sie wenig oder garnichts gewonnen. Die Erziehung ist verbreitet, aber nicht vertieft worden. Soll die Menschheit durch die Bildung eines Weltstaats vor Selbstvernichtung bewahrt werden, so muss der Unterricht in allen Schulen der Welt in enger Beziehung zu dem Gedanken einer Welteinheit stehen. Umfassende, erziehliche Entwicklung und Reformen sind die notwendigen Begleiterscheinungen des politischen Wiederaufbaus der Welt. Eines ist vom andern ebenso abhängig wie die rechte und die linke Hand voneinander abhängig sind.

Es ist nun ganz klar, dass die Reorganisation der Weltgeschehnisse und Welterziehung, die unserer Meinung nach gebieterisch durch die veränderte Kriegsführung, durch wissenschaftliche Entdeckungen, neugeschaffene Verkehrsmittel und andere Lebensbedingungen verlangt wird, den Anspruch jeder in der Welt existierenden Regierung ablehnt, mehr als etwas Provisorisches, Ersetzbares zu sein. Das ist die Schwierigkeit, die hunderte von Leuten nach dem anfänglichen Beginn ihrer Friedensarbeit zurückgeschreckt hat. Sie bedingt die Prüfung ihrer Untertanstreue; muss sie bedingen. Bestenfalls können wir die bestehenden Regierungen als Hüter und Pfleger des kommenden Weltstaats ansehn. Sind sie das nicht, so sind sie notwendigerweise hinderlich und gegnerisch. Wenige Führer, wenige Verwaltungen und Beamte besitzen die Geistesgrösse, um diese offenbare Tatsache einzusehn und zuzugestehn; sie zwingen die Bevölkerung notwendigerweise in Loyalitätskonflikte. Der kraftlose Lauf, der die Weltdinge seit dem Waffenstillstand von 1918 von einer Basis eigennütziger Vereinbarungen oder feiger Ausflucht zur andern treibt, ist grösstenteils verursacht durch den hartnäckigen Vorsatz der in verantwortlicher Stellung Befindlichen, die Lehren des grossen Krieges und seine Folgen zu übersehen. Sie sind widerständige Organe; ihr Sinn wehrt sich gegen die Aufopferung ihres Stolzes, ihrer Autorität, die sich aus der Unterordnung unter ein allgemeines Weltwohl ergeben würde. Es scheint, als seien sie bereit, das Werk der Rettung der Welt zu verhindern, sobald ihre altgewohnte Stellung bedroht ist. Auch in den Schulen und in der Geisteswelt führt der Bestand der Dinge seinen ungerechten Daseinskampf. Stumpfe und unredliche Elemente unterdrücken an höchster Stelle diese weitsichtigen Begriffe, solange es in ihrer Macht steht und übersehen dieselben, wenn sie sie nicht unterdrücken können. Die Hoffnung, dass eine bestehende Autorität Bereitwilligkeit zeigen könnte, die Veraltung des Systems einzusehen und seine Verschmelzung in eine Weltführung vorzubereiten, scheint undenkbar. Es ist nicht der schaffende Geist, der Revolutionen herbeiführt, sondern der eigensinnige Konservatismus der bestehenden Autorität. Es ist die absolute Weigerung, den Gedanken einer folgerichtigen Entwicklung zu einem neuen Stand der Dinge einzusehen, der jedem aufbauenden Vorschlag den revolutionären Beigeschmack verleiht. Die ungeheure Aufgabe des politischen und erziehlichen Wiederaufbaus, der erforderlich ist, um den gegenwärtigen katastrophalen Niedergang der Menschheitsdinge aufzuhalten, kann nur, sofern sie überhaupt geleistet werden kann, durch freiwillige, unamtliche Hilfe vollbracht werden, und dies grösstenteils im Kampf gegen den offiziellen Widerstand.

Es bestehen ein oder zwei Staaten, von denen die Menschen ein ehrliches Erkennen ihrer Pflichten gegen die Menschheit im allgemeinen und der notwendigerweise nur vorläufigen Art ihrer Verfassungen erwartet haben. Die vereinigten Staaten von Amerika haben ein politisches System, das sich seinem Ursprung und seinem Geist nach gänzlich von den Staaten der alten Welt unterscheidet; hier schienen Entwicklungshoffnungen möglich; und in den ruhmvollen Tagen Präsident Wilsons schien es in der Tat kurze Zeit so, als wenn die neue Welt der alten zu Hilfe kommen wollte, als wenn Amerika Propaganda treiben und den neuen Gedanken der Gleichheit und Freiheit, den treibenden Geist der Einigung unter die Nationen der Erde tragen könnte. Diese Erwartung hat sich jetzt in eine unvernünftige, übertriebene Reaktion verwandelt. Präsident Wilson wurde seinem anfänglichen Ideal eines allgemeinen Weltbündnisses untreu, sein Geist und seine Absicht wurden von dem Getöse streitsüchtigen Patriotismus und den listigen Ausflüchten der Diplomatie überwältigt; aber der Gedanke eines Weltbündnisses hat in Amerika weder mit ihm begonnen, noch mit seinem Fehlschlag geendet. Amerika ist noch immer eine hoffnungsvolle Werkstatt für Welteinigungsgedanken; Amerika besitzt den Vorteil einer Anzahl panamerikanischer Projekte, die in absehbarer Zeit zum mindesten auf eine gesamte kontinentale Vereinigung hinzielen, Amerika hat stets lebhafteres Verständnis und grössere Aufnahmefähigkeit für den Gedanken internationalen Zusammenschlusses gezeigt, als die europäischen Staaten.

Auch auf das britische Reich, das nach der Ansicht vieler seiner liberalen Verfechter bereits eine Art Völkerbund darstellt, durch einen gegenseitigen, vorteilhaften Frieden verbunden, blickte man in der Hoffnung einer Bewegung internationaler Vereinigung; das was die Welt jetzt am meisten entbehrt. Aber bisher hat England dieser Erwartung nicht entsprochen. Der Krieg hat England überanstrengt und erschöpft, er hat die Führung grösstenteils der starken Faust der Militärkaste überlassen, der gefährlichsten, unwissendsten Klasse der ganzen Gesellschaft. Sie haben dem Reich in Irland, Ägypten, Indien vielleicht unermessliches Unheil zugefügt und den Anspruch Englands, ein vorbildlich einigendes Regierungssystem zu besitzen, für viele hoffnungslos lächerlich gemacht. Es ist ein grosses Unglück für die Menschheit, dass England, das im Weltkrieg eine so mächtige, zentrale Rolle spielte, ihn nicht durch eine grossartige hilfreiche Geste der Welterneuerung zu Ende geführt hat.

Seit dem Waffenstillstand war England seltene Gelegenheit geboten, Verständnis für die neuen Bedürfnisse der Welt zu entfalten und der internationalen Neugeburt den Weg zu eröffnen. England hätte die Führung ergreifen können, die Präsident Wilson angeregt und aufgegeben hatte, es hätte Gebrauch von seiner Sonderstellung machen können durch eine noch nie dagewesene Appellation an die Menschheit. Dies hätte der Welt eine neue Epoche eröffnet. Der Prinz von Wales bereiste die ausgedehnten Staaten, deren gekröntes Haupt er dermaleinst sein wird. Er hat Zuschriften erhalten, Sehenswürdigkeiten besucht, die Hände Tausender geschüttelt und den starken Eindruck grosser Volksmassen auf sich wirken lassen. Jeder geringste seiner Schritte wurde mit vorbereiteter Bewunderung aufgenommen, das kleinste Wort, das er sprach, der Erinnerung einverleibt. Er ist kein Knabe mehr; er hat etwas vom grossen Kriege gesehen, wenn ihm auch durch seinen erhabenen Stand die wirkliche Anteilnahme an Elend und Gefahren versagt war. Er kann der allgemeinen Lage nicht blind gegenüber stehen. Sicherlich wäre hier der Augenblick gewesen, um etwas Königliches und etwas Weitherziges zu sagen, etwas, das von einem Ende der Welt zum anderen gehört worden wäre. Es war die Gelegenheit geboten, einen Überschlag über die Pflichten und Verantwortung des Reiches zu machen. Aber vom Anfang bis zum Ende seiner Reise hat der Prinz, kein Wort geäussert, dass das Verständnis der grossen Massen seiner Untertanen für die unermesslichen Möglichkeiten dieser Zeit geöffnet hätte, nichts, um die fremdländischen Zuschauer zu überzeugen, dass das britische Reich etwas anderes verkörpert, als den kolossalen nationalen Egoismus des englischen Volkes, seine unveränderliche Selbstzufriedenheit. »Hier sind wir und hier bleiben wir«, sprach die alte Ordnung, »wir bleiben genau das was wir waren, Engländer!« Diese nichtssagende Reise des Prinzen von Wales in dieser traurigen, ungewissen und elenden Zeit, ist in ihrer Art als Zeugnis weltlicher Leerheit und Eitelkeit noch nie dagewesen.

Auch bei den Repräsentanten und Herrschern der anderen Staaten finden wir kein klares Verständnis für die Notwendigkeit einer grossen monumentalen Umgestaltung. Diese offiziellen, regierenden Leute unterliegen dem Einfluss der Gewohnheit noch mehr als die anderen. Sie sind für ihre Stellung erzogen worden oder haben ihre Stellung durch eine politische Tätigkeit erreicht, die einem Drill gleichkommt. Und dieser Drill fördert weder den Unternehmungsgeist noch die Entwicklung, sondern Rückständigkeit und Festhalten am Bestehenden. Wir können von ihnen nichts erwarten, wir können uns bloss glücklich schätzen, wenn der Widerstand, den die Regierungen der bestehenden Staaten dem Gedanken eines Weltstaats entgegensetzen, ein rein passiver ist. Es ist wenig oder so gut wie gar keine Aussicht dafür vorhanden, dass irgend ein Regierungssystem, ausser föderalistischer wie die Schweiz oder die Vereinigten Staaten, ohne weiteres und ohne grosse, innere Umwälzungen in einem Weltstaat aufgehen können. Die unabhängigen Staaten werden als System inneren Widerstand leisten, sie werden so lange und so hartnäckig widerstehen, bis eine überwältigende Erkenntnis über die Menschheit kommt, sie durchdringt, die Gewissen ihrer Führer erleuchtet und die Macht ihres Widerstandes bricht. Aber es ist doch nur ein lockerer Widerstand, weil die Beschaffenheit der unabhängigen Staaten heute ein lockerer ist. Die unabhängigen Staaten können sich nicht in einem allgemeinen Zusammenschluss gegen den Weltstaatsgedanken vereinigen, weil dies im Kampf gegen den Weltstaat denselben bereits ergeben würde.

§ 4

In den drei vorhergehenden Aufsätzen wurde der Versuch gemacht, die traurige Lage darzustellen, in die die Menschheit geraten ist, die Gefahren und das Unglück, die unsere Rasse bedrohen und die Notwendigkeit eines kühnen Versuchs, das endlose Streiten der Völker und Reiche zu enden und ein einheitliches Streben herbeizuführen. Hervorgehoben wurde dabei das unendliche Unheil und Übel, welches die Fortsetzung unserer gegenwärtigen Spaltungen, unseres Nationalismus, Imperialismus usw. unweigerlich ergeben werden. Diese schlimmen Erwägungen sind jedoch nur die negativen Argumente für die schöpferische Tat; ich habe damit begonnen, weil Kriege, Unordnung, Mangel, Krankheit, Entbehrung, Spaltung, Mühsal und Unglück, als Ergebnis dieser Dinge, im Bereich unserer Erfahrung liegen und absolut glaubhaft sind? die positiven Beweise, die für eine allgemeine neue Weltordnung sprechen, bedingen mehr Glauben, mehr Einbildungskraft. Durch ein allgemeines Weltrecht, Weltschutz, Befreiung aus den engen Netzen der staatlichen Grenzen, weltumfassende Freiheit und Bewegung und weltumfassende Brüderlichkeit würden tausend gute Dinge, die jetzt jenseits aller Träume und Hoffnungen liegen, dem täglichen Leben erreichbar werden. Die ganze Welt würde zu unserem Wohnort werden und die Fähigkeiten der Menschen, von Wettbewerb und Zank befreit, würden der Wissenschaft reichlich zufliessen, d. h. sie würden dem Wachstum körperlicher und geistiger Gesundung, menschlicher Macht, Glück und Ansehen dienen. Auch heute erwarten uns die schönsten Möglichkeiten, unerreichbar für uns alle durch die allgemeine Unsicherheit, das Misstrauen und den bösen Willen. Der Flugdienst könnte uns in einer friedlichen Welt durch die höheren Regionen glatt und sicher an das Ende der Erde in fünf oder sechs Tagen tragen; in zwei bis drei Tagen könnten wieder Überfluss an Nahrung und entsprechender Kleidung für jeden Einzelnen in der ganzen Welt beschafft werden. Die Menschen könnten ihre Spelunken, ihre verpesteten Behausungen verlassen. Wenn wir nur Frieden, Eintracht und Vertrauen hätten, so könnten wir die jährlichen Erzeugnisse alles dessen was das Leben begehrenswert macht verdoppeln und uns noch dazu in Musse den Gedanken der Geisteswelt hingeben. Wir könnten in einem allgemeinen Wunderschloss leben und das gesamte Erdrund wäre unser Garten und Tummelplatz.

Aber es sind dies nicht Betrachtungen, die die Menschheit anzutreiben vermögen. Der Sporn ihres Strebens war bisher immer nur Hass und Angst, nicht Hoffnung und Verlangen. Die populärste Religion war stets nur die, die den meisten Fluch verkündete. Unser Dasein ist ein Dasein der Gewohnheit, des Herkommens, wir misstrauen den Versprechungen wundervoller Erlebnisse und Verwirklichungen, die sich unserer Gewohnheit entziehen, es kränkt unsere Selbstzufriedenheit sie als wahrscheinlich ansehn zu sollen und daraus die Nichtigkeit unseres täglichen Lebens zu folgern. Wir sind alle immer sehr bereit über Utopien zu spotten, gleich alten, kranken Leuten, die über die schwungvollen Hoffnungen der Jugend die Nase rümpfen und ihr Bestes tun, um sie als unwahrscheinlich hinzustellen. Die Alten und Resignierten sind auf nichts anderes als auf ihren Schaukelstuhl erpicht, ihre täglichen kleinen Mittelchen und bekunden der rohen Verständnislosigkeit, die diese erprobten Vorzüge aus der Welt schaffen will, tiefes Mitleid. Die meisten Leute fassen die Versprechen einer freien, vollen Daseinsführung mit nichts als mit einem Achselzucken auf, sie sagen die Welt würde an Poesie verlieren; die Poesie der Passbüros und Zollstationen, des Lebensmittelmangels, der zahllosen Entbehrungen, Spelunken, Seuchen, verwahrlosten, verkrüppelten Kinder, zahllosen jungen Leute, die in den Schützengräben umkommen, des fast allgemeinen Mangels an Vitalität und all der pittoresken Einzelheiten des gegenwärtigen Daseins. Wir haben nicht die lebenspendenden Aussichten des zukünftigen Weltstaats hervorgehoben, sondern nur die lebenserhaltenden. Wir haben nicht bewiesen, dass unser jetziges Leben der Gewohnheiten und des Herkommen durch eine sehr viel bessere Lebensweise ersetzt werden könnte, wir haben vielmehr nur hervorgehoben, dass wenn die Dinge so weitergehn wie sie's eben tun, dieses Dasein von Sitte und Herkommen unerträglich unsicher werden wird. Nicht die Vorstellung der leichtbeflügelten Reisen durch die Lüfte kann die Mehrzahl der Menschheit zu einem Weltfrieden bestimmen, wenn sie sich überhaupt bestimmen lassen, sondern der Gedanke an die bombenwerfenden Luftschiffe.

Ob nun Sehnsucht oder Furcht der treibende Hebel ist, so muss die Mehrzahl der Menschen in absehbarer Zeit, wenn das Menschengeschlecht nicht untergehen soll, zur Einsicht über die Notwendigkeit einer einzigen allgemeinen Weltführung gelangen. Und da anfänglich jede bestehende Einrichtung vorhandener Tradition, erziehlicher Organisation und alles dergleichen passiv, wenn nicht aktiv, der Verbreitung dieses rettenden Gedankens widerstrebt und in noch grösserem Masse dem Versuch, den rettenden Gedanken zu verwirklichen, widerstreben wird, so können wir gegenwärtig, zu Beginn der riesigen Kraftanstrengung geistiger Umwälzung, auf nichts anderes unsere Hoffnung setzen, als auf den Eifer, die Hingabe und Selbstaufopferung einzelner überzeugter Individuen. Der Weltstaat muss beginnen; er kann nur durch eine Glaubenspropaganda beginnen, durch Leute, die sich der Pflege dieses Gedankens rücksichtslos, ohne Beachtung der für sie daraus entstehenden Folgen, mit aller ihrer Energie hingeben. Die Begründung eines Weltstaats muss seine Anhänger notwendigerweise mit der bestehenden Gewalt und den gemeingültigen Anschauungen in Konflikt bringen, weil der Weltstaat als Gebäude da aufgerichtet werden soll, wo sich schon ein Durcheinander von Baulichkeiten befindet; sie werden ein Leben voller Kampf, voll von Missverständnissen und undankbaren Bemühungen auf sich nehmen müssen; sie werden mit wenig Anerkennung und vielfach bewiesener Missbilligung zu rechnen haben; sie werden ihren einzigen Trost aus dem Kampf und der Vorstellung schöpfen, dass die Welt endlich durch ihre Anstrengung friedvoll gesichert und mächtig erstehen wird, aber eine Welt, die sie nicht einmal zu erleben hoffen können. So dargestellt, erscheint es ein wenig vorteilhaftes Geschäft, zu der Arbeit am Weltstaat aufgefordert zu werden, aber es hat in der Welt nie an Leuten gefehlt, die bereit waren, solche Dinge auf sich zu nehmen, und sie werden auch jetzt nicht fehlen. Es gibt schlimmere Dinge als Kampf ohne offenbaren Sieg und Mühe ohne sichtbaren Lohn. Wertvollen Gemütern erscheint es unsäglich viel tragischer und unheilvoller, dass das Dasein so zwecklos sein soll. Viele Menschen, die durch Unbefriedigung ihres Gewissens gequält sind, die eine befriedigende Richtschnur ihrer Lebensführung verlangen, heisser verlangen als sie je irgend eine andere Befriedigung gewünscht haben, werden in der Pflege des Weltstaatsgedankens die stützende Wirklichkeit finden, die sie brauchen, und ihre Zahl wird wachsen. Weil es eine vernunftgemässe Lebensform ist, sich selbstverständlich aus einer richtigen Auffassung der Geschichte und Naturwissenschaft ergebend, die Verkörperung der Lehren aller grossen Religionen. Nicht um zu zerstören, sondern um zu vollenden, naht es sich uns.

Die Pflege eines Weltstaatsgedankens würde erstlich eine propagandistische sein, intellektuell und erzieherisch, und erst wenn die Meinungen in genügender Menge gewonnen sind, könnte man an eine ausgedehnte politische Tätigkeit denken. Dieser Kult sollte namentlich unter der Jugend gelehrt und gepflegt werden. Bisher hat sich die Propaganda für einen Weltstaat, die Propaganda für den Völkerbund, in dem Versuch unmittelbare politische Resultate zu erzielen, fast ausschliesslich an die Erwachsenen gewandt; sie hat sich folglich ihren historischen und politischen Vorurteilen anpassen müssen, sowie auch einem gänzlichen Mangel einer auf die allgemeine Wohlfahrt der Menschheit eingestellten Blickweite. Durch die Anerkennung der bestehenden Auffassungen über Politik und Nationalismus hat die Bewegung diese unbefriedigende Form eines Völkerbundes angenommen, während das was eigentlich beabsichtigt war, viel mehr war als ein Völkerbund, nämlich die sehr bedeutende Unterordnung aller nationalen Staatsgewalt. Ursache an der gegenwärtigen Unwirksamkeit des Völkerbundes ist auch, dass die Menschen den Begriff eines Völkerbundes sehr verschieden auffassen, je nach den fundamentalen geschichtlichen Begriffen, die sie besitzen, Begriffen, die bisher von der Propaganda unberührt geblieben sind.

Der Arbeiter am Weltstaate wird weiter blicken und tiefer pflügen müssen. Diese fundamentalen Begriffe sind die wesentlichen Hindernisse einer auf die Welteinigung hinzielenden Bewegung. Diese weltumfassende Einheitlichkeit, die für den dauernden Frieden der Menschheit Bedingung ist, kann nur erreicht werden, wenn in der ganzen Welt allen Kindern Geschichte im Hinblick auf die Allgemeinheit und Gesamtheit gelehrt wird und ihr Blick auf die allgemeine Zukunft ihrer Nachkommen gerichtet wird. Die treibende Kraft für Krieg oder Frieden keimt da, wo Jugend unterwiesen wird. Die Lehrer der Jugend, seien es Mütter, Priester oder Schullehrer, sind es, die die Geschichte schaffen; Herrscher, Staatsbeamte und Soldaten führen nur die Möglichkeiten aus, die durch die Erzieher der Jugend geschaffen sind. Dies ist keine Schönrednerei, sondern eine einfache Tatsache. Die Politiker und die Masse von heutzutage hängen an den Fäden ihrer frühesten Erziehung.

Unterricht ist demnach der grundlegende und entscheidende Faktor für die Zukunft der Menschheit, und die erste Pflicht für jeden, der die Begabung und die Gelegenheit dazu hat, ist zu lehren oder dem Unterricht der wahren Menschheitsgeschichte die Möglichkeiten, die die Geschichte uns im Hinblick auf den Weltstaat eröffnet, zu fördern. Frauen und Männer können in tausenderleiweise dazu beitragen, die rettende Lehre zu verbreiten, denn nicht nur in den Familien und den Schulen wird der Geist gebildet. Sie können Bücher drucken und veröffentlichen, für Schule und Unterricht Sorge tragen, die Verbreitung guter Literatur organisieren, achten, dass die Kinder zu Brüderlichkeit und weitherziger Barmherzigkeit erzogen werden, jede Art der Hemmung und der Unterdrückung richtiger Erziehung bekämpfen, auf politischem, sozialem Wege Druck ausüben, dass in jeder Lehranstalt Geschichte richtig gelehrt werde, Missionen unterstützen, eine neue Art der Glaubensbotschaft, die Glaubensbotschaft von der Erkenntnis und dem Gedanken einer Weltzivilisation und Weltgemeinschaft unter die Menschheit bringen, sie können den Fortschritt historischen, ethnologisch-politischen Wissens fördern, sie können sich jedem Hassesfeldzug widersetzen, jedem Rassenmisstrauen und jeder patriotischen Lüge, sie können jeder öffentlichen Gewalt, welche Klasse gegen Klasse, Rasse gegen Rasse, Volk gegen Volk aufhetzt und gegeneinander erbittert, den Gehorsam verweigern, sie sind sogar dazu verpflichtet, ihren Gehorsam zu verweigern. Sie können sich gegen eine kriegerische Regierung auflehnen; sie können sich weigern, jede militärische Unternehmung zu unterstützen und zu dulden, die nicht die Erhaltung des Weltfriedens zum Zwecke hat. Heutzutage ist es die klare Pflicht jedes ehrlichen Mannes, die Obrigkeit kritisch zu beurteilen und ihr nur dann zu gehorchen, wenn es sich mit seinem Gewissen verträgt; Cäsar nicht das zu geben, was er Gott und der Menschheit schuldig ist. Und diejenigen, die die Bedeutung der grossen schöpferischen Anstrengungen, die der Menschheit jetzt bevorstehen, voll erkannt haben, müssen sonderlich darnach trachten, alle Daseinsfragen vom moralischen Standpunkt des Weltstaatsgedankens zu beurteilen. Lärmender Patriotismus, Aggressivität, das Aufstacheln der Nation gegen andere, was gewöhnlich damit Hand in Hand geht, ist ebenso verbrecherisch und unserer Rasse viel schädlicher, als zum Beispiel unanständige Anreizung und öffentliche Anregung sexueller Laster; sie erzeugen viel tierischere grausamere Instinkte und verdienen zum mindesten gleiche Verurteilung. Und doch kann man heute sogar Priester und Geistliche sehen, die die Kriegsleidenschaft in ihren Herden entzünden und von den Stufen des Altars aus den Kampf predigen.

Soweit fehlt der Weltstaatbewegung jede leidenschaftlich treibende Kraft. Der Gedanke der Welteinheit und -brüderlichkeit ist gewissermassen demütig der Welt wiedergekehrt, er hängt heute von der Fürsprache gewandter Politiker ab und dem Wohlwollen der Könige. Und doch lag die Forderung eines Weltreiches der Gerechtigkeit den Lehren Buddhas zu Grunde, er leuchtete kurze Zeit mit dem Schwert des Islams auf und ist in irdischen Dingen die Verkörperung des Geistes Christi. Er ruft die Menschen zu einem rechtmässigen Gehorsam auf, es ist nicht eine Aufforderung, die sie ablehnen, eine Stimme, die sie überhören können. Es ist eine viel zu grosse Sache, um vor den äusseren Grenzen der aktiven Welt, die sie zu retten kommt, schüchtern Halt zu machen. Heutzutage sagt der Weltstaat: »Hört mir bitte zu, schafft mir Bahn«, morgen wird er sprechen: »Mach mir Platz, du kleines Völkchen«. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem die überlegenen »Patrioten«, die heute noch vor der Menge prahlen, gewaltsam dem Lichte zugekehrt werden, das sie nicht sehen wollen. Erst kommt der Gedanke und dann langsam die volle Erkenntnis, kommt Verwirklichung und mit der Verwirklichung flammender Zorn über alles Gemeine, Gewöhnliche, Niedrige, Gierige, die Torheit, die diese klare Stimme nicht hören will, sich weigert, der Forderung unserer rassischen Notwendigkeit nachzugeben. Heute lehren wir; wenn das Verständnis zu wachsen beginnt, werden wir zu handeln beginnen müssen. Wir müssen uns selbst, unsere Führer, unsere Mitmenschen auf die Probe stellen, wir müssen fragen: »Was haben sie getan, um den Frieden und die Ordnung der Menschheit zu fördern oder zu hindern?« Es wird die Zeit kommen, wo einem Politiker, der willkürlich Kriege entfesselt und internationale Zwistigkeiten fördert, die Anklagebank und noch viel mehr der Galgen sicherer ist, als einem Mörder. Es ist nicht vernunftgemäss, dass Leute, die mit dem Leben anderer spielen, nicht auch das ihrige dabei wagen. Der Dienst am Weltstaat fordert mehr als passiven Widerstand gegen kriegsliebende Gewalt, mehr als nur beispielsweise Märtyrertum. Er fordert aktiven Widerstand gegen Störenfriede und Unheilstifter. »Ich würde an den Völkerbund glauben,« schrieb einer, »sobald die Menschen dafür kämpften.« Für diesen Genfer Völkerbund würde es natürlich niemandem einfallen wollen zu kämpfen, für den grossen Menschheitsstaat jedoch werden die Leute sehr bald bereit sein zu kämpfen und, wenn es nötig ist, auch zu töten und zu sterben. Die Dinge müssen ihren Lauf nehmen: erst der Gedanke, darauf die zündende Einbildungskraft und dann der weltverbreitete Kampf. Wir, die wir die dunklen Tage nach schweren Krisen erleben, brauchen um der scheinbaren Gleichgültigkeit willen ebensowenig mutlos zu werden, wie Felder, die, in feuchten Februartagen gepflügt und besät, die kalte Unbekümmertheit frühmärzlicher Winde auszuhalten haben. Der Pflug ist hinübergegangen, der Boden hat die Saat empfangen, und der Weltstaat regt sich in vielen sprossenden Herzen.


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