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V
Die neue Bibel

Zweiter Teil

§ 3

In den vorhergehenden Abschnitten haben wir die Weltentstehung, den geschichtlichen Teil und die Gesetzesvorschriften der modernen Bibel besprochen. Dies ist jedoch, wie wir wissen, bloss die Grundlage der Bibel. Wir kommen nun zu den Psalmen, Sprüchen, dem Hohen Lied, dem Buch Hiob und den Propheten. Welches wäre nun der moderne Gegenwert dafür?

Was enthielten diese Bücher?

Sie enthielten die gesamte hebräische Literatur bis zur Zeit Esra's; es sind heilige Lieder, Liebeslieder, dramatische Dialoge; die Bücher Ruth und Esther sind eine Art Romane. Was wäre in der modernen Bibel der Ersatz dafür? In der Bibel der allgemeinen Weltzivilisation?

Ich vermute, es könnte nichts anderes sein als die gesamte Literatur der Welt.

Dies wäre, ich muss es gestehn, allerdings eine ungeheure Zumutung. Können wir annehmen, dass die moderne Bibel aus 20-35 Bänden bestehen wird? Eine so umfangreiche Bibel würde sich von selbst verbieten. Wir brauchen eine Bibel, die jeder Einzelne kennen soll, die jedem Einzelnen fasslich ist. Dies ist für eine Bibel als sozialer Zusammenhalt die Hauptsache.

Glücklicherweise weist uns die alte Bibel hier den Weg. Ihr Inhalt ist eingeteilt. Wir haben erst die kanonischen Bücher, die als die wichtigsten angesehen werden; es sind, um in der Sprache des englischen Gebetsbuchs zu reden, »heilsnotwendige« Bücher; dann hätten wir die Apokryphen, mehr nebensächliche Schriften, wenn auch zum Teil sehr schön und bewundernswert, lesenswert als »Lebens- und Sittenbilder«, doch nicht durchaus notwendig. Wir wollen diese Gedanken aufnehmen und untersuchen, ob es möglich wäre, aus der gesamten Weltliteratur ein Buch von so ausserordentlichem Wert zusammenzustellen, dass es der ganzen Menschheit von Nutzen wäre. Dieses wäre unser Äquivalent der kanonischen Bücher. Ich komme sogleich wieder darauf zurück.

Sollten wir nun ausser den kanonischen Büchern, die ganze übrige Literatur als Apokryphen zusammenfassen? Ich hege hier einige Zweifel. Ich würde vorschlagen, den kanonischen Büchern, die in der ganzen zivilisierten Welt gekannt werden sollten, und den Apokryphen, die je nach Gefallen gelesen oder nicht gelesen werden können, noch eine andere Reihe von Büchern anzuschliessen. Diese Zwischenstufe würde ich die Grossen Bücher der Welt benennen. Sie würden nicht der Bibel angehören, ihr jedoch im Wertgehalt nahestehen, nicht unbedingt notwendig, jedoch der Kenntnisnahme eines Jeden gut und nützlich sein.

Diese kanonische Literatur wäre der dritte wesentliche Teil unserer modernen Bibel. Ich betrachte sie als etwas, das in der kommenden, grossen Zivilisationsentwicklung, von der wir träumen, allen zugänglich wäre. Im Zusammenhang mit der Weltgeschichte und dem Buche des Gesetzes, des Rechtes und der Weisheit, die ich vorhin ausführte, und einem andern Buch, auf das ich noch zurückkomme, würde die kanonische Literatur jenes moralische und geistige Bindeglied unserer gesamten menschlichen Gesellschaft bilden, eben jenes geistige und moralische Band, das uns fehlt und ohne das die Welt heute in politischen und sozialen Verfall gerät. Auf einer solchen Grundlage, auf der Grundlage des Gedankens gemeinschaftlicher, allgemeiner Morallehre, gefühlsbewegender und ästhetischer Auffassung wäre es noch möglich, die Menschheit zu einer verständnisvollen, zusammenhängenden Gemeinschaft umzubilden.

Halten wir uns die Bibel als gemeinschaftliches Bindeglied recht klar vor Augen, so haben wir ein Kriterium für das, was in den literarischen Teil aufgenommen und was ausgeschlossen werden muss.

Selbstverständlich entnehmen wir vor allen Dingen einiges dem Alten und Neuen Testament. Das weiter zu begründen halte ich nicht für nötig. Es steht ausser allem Zweifel, dass viele der Psalmen aufgenommen werden – ich frage mich bloss, ob wir alle nehmen sollen – und viele der herrlichen Kapitel der Propheten. Sollten wir das Hohe Lied ebenfalls aufnehmen? Ich vermute, dass die Verfasser der modernen Bibel hier einige Bedenken hegen werden. Und wie ist es mit dem Buche Hiob? Es ist dies in der Tat eine schwer zu lösende Frage. Das Buch Hiob behandelt in wunderbarer Weise das tiefe Problem des Übels, das in die Welt gekommen ist. Es ist ausserordentlich lehrreich, aber ist es durchaus notwendig? Ich denke, das Buch Hiob könnte, wenn möglich, mit den Illustrationen von Blake, nicht in den kanonischen, sondern in den sogenannten Grossen Büchern Aufnahme finden. Es gehört zu der umfangreichen Literatur, die sich mit der Erforschung von Problemen befasst und die ich sogleich noch besprechen werde. Fraglich ist es ebenfalls, ob die Bücher Ruth und Esther für unsere moderne Zivilisation in Frage kämen. Daniel könnte den Apokryphen zugeteilt werden. Ich komme darauf später noch zurück.

Die Geschichte der Evangelien käme natürlich zu unserm geschichtlichen Teil, doch müsste eine jede der vier Evangelienerzählungen – mit Auslassung der Stammtafeln – in ihrer makellosen Schönheit, Schlichtheit und Offenheit noch einmal den kanonischen Büchern zugeteilt werden. Die Schilderung, die Stimmung können keinen vollendeteren Ausdruck finden und sind von bleibendem Wert für uns. Auch in den Episteln finden wir einen grossen Reichtum. So ist es z. B. undenkbar, dass eine Stelle, wie die aus der Epistel Pauli an die Corinther: »wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle« und das ganze dazugehörige wundervolle Kapitel, der Menschheit jemals vorenthalten werden könnte.

Dies, was wir der alten Bibel für unsere neue zu entnehmen haben: alles was sie an Erleuchtung, Schönheit und heiligem Feuer besitzt. Und was weiter?

Vom englischen Standpunkt aus wäre hier natürlich sogleich der eine Name zu nennen, Shakespeare. Wie verhalten wir uns zu Shakespeare? Redete man mit einem Engländer oder einem Amerikaner von einer neuen Bibel und früge man ihn, ob der gesamte Shakespeare Aufnahme finden sollte, so wäre seine Antwort sicherlich eine bejahende.

Aber sollte er darin Recht haben?

»Nicht den ganzen Shakespeare« wäre vielleicht späterhin nach einiger Überlegung eine Antwort, aber »Hamlet, der Sturm, Romeo und Julia, der Sommernachtstraum«. Aber wäre auch dies nicht noch zuviel?? Sind diese Werke Shakespeare's »von allgemeinem Nutzen für unsere Rettung?« Unser Geist geniesst die Schätze Shakespeare's, wie wir unsere Finger über köstliche Juwelen gleiten lassen – zweifelnd, mit welchen wir einen Jüngling zum Kampf ausrüsten sollen.

Nein. Dieser Reichtum dient nur dem Schmuck, dem Genuss. Ich bezweifle es, dass wir ein einziges von Shakespeare's Dramen, eine einzige Szene derselben, in unseren Canon aufnehmen sollten. Das gesamte Werk Shakespeare's käme zu den Grossen Büchern; zu den vornehmsten Büchern der Apokryphen. Und ich meine, dass alle grossen Dramen der Welt ihm folgen sollten. Euripides, Sophokles, Schiller und Ibsen. Vielleicht könnten einige ihnen entnommene Dialoge und dergleichen im Canon angeführt werden, mehr aber nicht.

Denken Sie daran, dass unser Canon als wesentlich verbindende Substanz unserer Gemeinschaft wirken soll und weiter nichts. Liessen wir uns nur ein einziges Mal von der ästhetischen Wertschätzung leiten, so erhielten wir sogleich einen literarischen Überfluss. Nehmen wir den Sommernachtstraum, so müsste ich darauf bestehen, auch einen so köstlichen Unsinn zuzulassen, wie ihn folgende Verse enthalten:

In Xanadu schuf Kubla Khan
Einen stattlichen Wonnetempel,
Durch Höhlen unermesslich für Menschensinn,
Durchrann ihn Alph, der heilige Strom,
Hinab zum sonnenlosen Meer.

Meiner Ansicht nach kann nichts dergleichen in unseren Canon aufgenommen werden und wenn die Dramen ausgeschlossen sind, so muss es die Prosa ebenfalls sein. Cervantes, Defoe, Dickens, Fielding, Tolstoi, Hardly, Hamsun, alle diese grossen Schriftsteller bieten uns vieles Gute, »Lebensweisheit und Vorbilder« und gehören zu den Apokryphen. Und wenn man Romeo und Julia ausschliesst, so muss das Hohe Lied auch ausgeschlossen werden, Ruth und Esther, Vanity Fair und Shabby. Gentil Story. Weniger ablehnend als die englische Literatur, sehe ich einzelne bedeutende Werke nicht englischer Schriftsteller an. Tolstoi's »Krieg und Frieden«, Hamsuns »Segen der Erde« scheinen mir Werke von fast biblischem Sinn, sie fassen das Leben so tief auf, dass sie dem erleuchtenden beseelten Geist, der unserm Canon zugrunde liegen soll, sehr nahe kommen. Wenn irgend welche Romane in Betracht kommen, so würde ich diesen am ehesten den Vorzug geben. Doch ist es besser, ich ziehe garnichts dergleichen in Betracht. Als Gesamtwerk sollte kein einziger Roman in unserer Bibel Aufnahme finden. Etwas anders ist es natürlich mit einzelnen Auszügen daraus.

Von den grossen Dichterwerken gehn wir nun zu einem noch schwerer zu lösendem Problem über, den grossen philosophischen und kritischen Werken. Gullivers Reisen – eine sehr tiefe, anregende und heftige Kritik des Lebens und der sozialen Zustände – Platos Dialoge voller Erleuchtung und Eingebung. Diesen letzteren könnten wir die schönsten Stellen für unseren Canon entnehmen, jedoch nicht den Gesamtinhalt, und nehmen wir hier nicht alles, so darf auch das hebräische Gegenstück der griechischen Dialoge, das Buch Hiob nicht dem Canon, sondern den grossen Büchern der Apokryphen einverleibt werden.

Wir haben nun die epische Literatur zu betrachten. Auch davon können wir nicht viel brauchen. Unsere Bibel soll, so wie wir sie uns vorstellen, allgemein zugänglich sein. Ist sie aber für den allgemeinen Gebrauch zu umfangreich, so entspricht sie auch nicht mehr dem Zweck als moralischer Zement zu wirken. Wir können die Ilias, die nordischen Sagen, die Äneide, das verlorene Paradies nicht in unsern Canon aufnehmen. Sie mögen der Masse der Apokryphen zufallen und von den Kindern gelesen werden.

Überblickt man in dieser Weise die aufgehäuften literarischen Schätze der Menschheit, so kommt man zur Überzeugung, dass in unserer modernen Bibel die kanonischen Bücher der Literatur nur ein Auszug daraus sein können. Man könnte sie vielleicht in mehreren Bänden zusammenfassen, verschieden betitelt, wie z. B. »Das Buch der Freiheit«, »Das Buch der Gerechtigkeit«, »Das Buch der Liebe«. Und nun, nachdem meine Auslese bisher eine rein negative war, will ich an einigen Beispielen zeigen, was meiner Meinung nach dem Zweck unserer Bibel am meisten entspricht und sicherlich aufgenommen werden sollte. Die folgenden Zeilen kennt jeder Amerikaner auswendig – ich wünschte, es kennte sie ein Jeder der ganzen Welt. Es ist Lincoln Gettysburg's Rede und ich werde Ihnen keine einzige Silbe derselben vorenthalten:

»Vor 87 Jahren haben unsere Väter eine neue Nation auf diesem Kontinent erzeugt, in Freiheit empfangen, der allgemeinen Gleichheit geweiht. Wir stehen nun in einem grossen Bürgerkriege, er soll erweisen, ob diese Nation, oder irgend eine Nation, die so empfangen und erzeugt wurde, lebensfähig ist. Wir haben uns hier auf diesem Schlachtfeld vereinigt. Ein Stück dieses Schlachtfeldes weihen wir jenen als letzten Ruheplatz, die ihr Leben der Nation opferten. Es ist recht und billig, dass wir das tun. Aber in einem tieferen Sinne können nicht wir diesen Boden widmen, weihen, heiligen. Die lebenden und toten Krieger, die hier gekämpft haben, haben ihn geweiht und wir mit unserer armseligen Macht können nichts dazu beitragen und nichts verringern. Was wir hier reden, dem wird die Welt wenig Gehör schenken, aber was Diese taten, das kann sie nie vergessen. Uns Lebenden steht es zu, uns dem zu widmen, was die, die hier kämpften, so herrlich begannen. Wir müssen uns dieser grossen Aufgabe weihen, wir müssen von den edlen Toten Hingabe lernen, Hingabe an jene Sache, der sie das letzte, grösste Opfer brachten. Wir geloben, dass diese Toten nicht umsonst gefallen sein sollen, dass diese Nation unter Gottes Führung in neuer Freiheit entstehen und Volksregierung vom Volk, für's Volk, in der Welt nicht untergehen soll.«

Hier sind andere Zeilen, die vielleicht ebenfalls im Buch der Freiheit Aufnahme finden könnten, wenn hier auch eine andere Freiheit gemeint ist:

Out of the night that covers me,
Black as the pit from pole to pole,
I thank whatever gods may be
For my unconquerable soul.
In the fell clutch of circumstance
I have not winced nor cried aloud,
Under the bludgeonings of Chance,
My head is bloody but unbowed.

Beyond this Place of wrath and tears,
Looms but the Horror of the Shade,
And yet the Menace of the years
Finds and shall find me Unafraid.
It matters not how strait the gate
How charged with punishment the scroll
I am the Master of my Fate,
I am the Captain of my Soul.

Diese Verse sind, wie Sie wissen, von Hanley und als ich den Gedichtband durchblätterte, fand ich folgende bekannte Strophen:

The ways of Death are soothing and serene,
And all the words of Death are grave and sweet,
From Camp and church, the fireside and the street,
She beckons forth – and strife and song have been

A summer's night descending cool and green,
And dark on daytimes dust and stress and heat,
The ways of Death are soothing and serene,
And all the words of Death are grave and sweet.

Auch in diesen Versen liegt etwas, was ich in der neuen Bibel sehr ungern vermissen würde. Ich liebe diese Verse, doch traue ich mir wenig Urteil zu. Ich bin weder sehr kultiviert, noch belesen, und ich weiss nur von den Dingen, die Eindruck auf mich gemacht haben, doch zweifle ich nicht daran, dass es sehr viel gleichwertiges gibt, auch besseres, das ich nicht kenne, nicht gelesen habe oder vielleicht in Verhältnissen, die dem Verständnis nicht günstig waren. Deshalb möchte ich auch zu den oben angeführten Strophen und Zeilen hinzufügen, dass ich weniger auf bestimmte Stellen hinweisen wollte, als auf den Geist ihres Inhalts.

Gestatten Sie mir gleicherweise eine Stelle aus Milton anzuführen. Er verteidigt die altenglische Sitte der Redefreiheit und Selbstbestimmung und rühmt London und England. Dieses England und dieses London, das er meint, sind gleichsam wie Jerusalem eine symbolische Vorstellung. Wir wollen uns nicht durch falsche Bescheidenheit unsere grossen Traditionen trüben lassen; es ist noch immer die Stadt Milton's, in der Sie und ich heute denken? wie unwürdig jedoch dienen wir der grossen Erbschaft weltumfassender Verantwortung, die uns von Seinen Engländern überkommen ist. Hier ist die Stelle:

»Nun und noch einmal, Gott hat seiner Kirche eine neue und grosse Zeit ersehen, eine Neuschaffung der Reformation, wie auch alle sichtbaren Zeichen dafür sprechen und heilige, fromme Männer täglich davon zeugen; offenbart Er sich nicht Seinen Dienern und wie Er es zu tun pflegt, erstlich Seinen Engländern? Ich sage erstlich uns, wenn wir auch unwürdig sind und Seinen Ratschluss nicht erkennen. Seht nun diese grosse Stadt, eine Stadt der Zuflucht und ein Asyl der Freiheit, wohl verwahrt und behütet von Seiner Allmacht; in der Werkstatt des Krieges schmieden Hämmer und Amboss nicht fleissiger Waffen und Rüstung zum Schutz der bedrohten Wahrheit, als Kopf und Feder, beim Schein der Studierlampen, tätig sind; sie sitzen da, grübelnd, forschend, neue Erkenntnisse, neue Gedanken erwägend, die nahende Reformation in Treue und Eifer vorzubereiten; andere erforschen nicht minder eilig ihre Bücher, dem Trieb der Vernunft und Ueberzeugung gehorchend, alles prüfend.

Was könnte man von einem der Wahrheit so ergebenen, suchenden Volk mehr verlangen? Was bedarf ein so fruchtbarer, williger Boden anderes, als treue, weise Ackersleute, um ein wissendes Volk, ein Volk der Propheten, der Weisen und Würdigen zu erzeugen? Wir rechnen noch mehr als fünf Monate bis zur Ernte; hätten wir nur Augen zu sehen, so würden wir erkennen, dass es kaum noch fünf Wochen bedarf, denn die Felder sind schon weiss. Wo Wissensdrang ist, da ist auch notwendig viel Abwägen, viel Wortkampf und viele Meinungen; denn die Meinungen frommer Männer sind werdende Weisheit. Unter der Schreckensherrschaft von Schisma und Sekten vergreifen wir uns an dem ehrlichen, ernstlichen Wissens- und Erkenntnisdrang, den Gott in dieser Stadt erweckt hat. Anstatt zu klagen, sollten wir uns freuen und den frommen Eifer preisen, der in die Menschen gekommen ist, ihre schlecht beratene Glaubensführung wieder selbst zu übernehmen. Nur ein wenig Klugheit, Nachsicht und einige Körnchen Liebe könnten dieses vielfache Streben gewinnen, binden, zu einem allgemeinen brüderlichen Wahrheitssuchen vereinigen, könnten wir nur von dieser priesterlichen Gewohnheit ablassen, freie Gewissen und christliche Unabhängigkeit in menschliche Gesetze und Vorschriften zu zwängen. Ich zweifle nicht, dass, käme ein grosser und würdiger Fremdling zu uns, weise genug, um die Art und das Gemüt des Volkes zu erschauen, wie es geführt sein will, und in der Sucht nach Freiheit und Wahrheit die hochgestellten Hoffnungen und Ziele, den freudigen Eifer weittragender Gedanken und Forschungen zu erkennen, so würde er gleich Pyrrhus, der voll Bewunderung für den Mut und die Fügsamkeit der Römer war, ausrufen: »Wären dies meine Epiroten, so würde ich nicht verzweifeln mir die höchsten Ziele zu setzen, Kirche oder Königreich zu beglücken.

Und doch sind dies die Leute, die als Sektierer und Glaubensabtrünnige verschrieen werden, als hätte es damals, als Gottes Tempel gebaut wurde und einige den Marmor schnitten und behauten, andere Zedern fällten, so vernunftlose Menschen gegeben, die nicht einsehn wollten, dass es Schisma und Spaltungen im Stein und im Holz bedarf, ehe Gottes Haus entstehen kann. Und wenn die Steine auch kunstvoll gelegt sind, so sind sie doch nicht auf ewig zusammengefügt, sondern schliessen sich nur aneinander; auch ist nicht jeder Teil des Gebäudes von gleicher Form; die Vollendung besteht vielmehr darin, dass aus billiger Mannigfaltigkeit und brüderlichen Ungleichheiten, die nicht zu widersinnig sind, das Bauwerk in systematischer Schönheit und Anmut entstehe.«

Ich will jedoch nicht länger fortfahren, Ihnen Poesie und Prosa herzusagen, denn ich kann nicht einmal den Versuch machen, Ihnen all die unermesslichen Schätze edler Dichtungen, die die Welt in den verflossenen dreitausend Jahren angesammelt hat, ins Gedächtnis zu rufen. Von Zehntausenden hat kaum eine einzige Seele aus diesem Vorrat geschöpft. Die meisten Menschen wissen nicht einmal etwas davon. Ist es zu viel, wenn wir den Vorschlag wagen, man solle den Versuch machen, das Beste und Wertvollste unserer Literatur zu sammeln und der Masse der Menschheit zugänglich zu machen? Warum sollten wir nicht im grossen Masstabe Dichterwerke in einzelnen Bänden zusammenfassen und für unsere neue Bibel sammeln? Ich glaube, dass ein solches Buch, allgemein zugänglich und zur Grundlage des Unterrichts gemacht, der Schlüssel wäre, um den Gedankenreichtum der Welt zu erschliessen.

§ 4

Führen wir den Vergleich zwischen der alten und der neuen Bibel bis zuletzt durch, so bleibt noch etwas zu erwähnen. Die christliche Bibel endet mit einer Weissagung, der Offenbarung, und die hebräische Bibel endet ebenfalls mit einer Weissagung, den Propheten. Dies hat viel zu der magischen Macht beigetragen, die die alte Bibel auf die Vorstellungen und Eingebungen der Menschheit ausübte. Sie war kein totes Zeugnis, keine Anhäufung ausgelebter Dinge, ausgeklungener Lieder. Klar und deutlich wies sie auf die kommenden Dinge hin, als Ende und Erfüllung alles dessen, was vorausgegangen. So muss auch unsere moderne Bibel, wenn sie die Vorstellungen der Menschen festigen und leiten soll, mit einem Buch der Weissagung enden.

Wir wollen in der Welt mehr Verantwortungsgefühl erwecken, wir wollen den Begriff schärfen für die Folgen des Lebens, das wir führen, für die Folgen der politischen Handlungen, die geschehen und die erlaubt sind. Wir wollen die menschliche Vorstellung wieder auf die Zukunft richten, die sich aus unserer Lebensführung ergibt. Wir brauchen daher Weissagungen und Warnungen. Sie werden hier jetzt einwenden – und ich gebe zu, mit vollem Rechte einwenden – dass ich mich auf ein Gebiet begebe, das jeder vernünftigen Möglichkeit sehr fern liegt. Wie könnten wir Voraussagen oder Prophezeiungen erlangen über Dinge, die sich jetzt zutragen? Nun, ich will es offen zugestehn, dass ich hier etwas verlange, was unmöglich scheinen mag. Nichtsdestoweniger ist es etwas ausserordentlich Notwendiges, wenn die Menschheit als einsichtvolle, geordnete Gemeinschaft weiterbestehen soll. Sie können aus der Vergangenheit ersehen, dass in allen geordneten menschlichen Gemeinschaften die Menschen eine Schicksalsidee besassen, etwas, das ihrem Dasein Masstab und Zweck gab. Meiner Ansicht nach müssen wir auf etwas ähnliches zurückkommen.

Wir haben Staatsmänner und Politiker, die vorgeben, unsere Geschicke zu leiten. Wohin aber führen sie unser Schicksal?

Sicherlich verfolgen sie irgend einen Zweck. Sie bereiten das Morgen, die grossen amerikanischen, die grossen europäischen Staatsmänner. Was aber ist dieses Morgen, das sie vorbereiten?

Sie müssen sich eine Vorstellung davon machen. Sonst wären sie Betrüger. Es widerstrebt mir, sie für Betrüger, blosse Abenteurer zu halten, die in ihre Macht- und Ehrenstellung hineingestolpert sind, ohne zu wissen, was sie der Welt damit antun. Aber wenn sie eine Vorstellung dessen haben, was sie für die Welt tun, so müssen sie auch eine Vorstellung von der Zukunft haben, ein Ziel verfolgen. Diese Schlussfolgerung ist meines Erachtens logisch.

Sie sollten ihre Ansicht über die uns bevorstehende Zukunft niederschreiben. Das wäre uns allen heilsam und ihnen selbst nützlich. Es wäre, meine ich, sehr verständlich, wenn Amerikaner bei ihren führenden Politikern, dem Präsidenten z. B. anfragten: ob ihrer Meinung nach die Vereinigten Staaten in 25 Jahren noch ebenso alleinstehen werden wie heute? oder ob sie glauben, dass es einen grösseren amerikanischen Staatenbund oder einen Weltstaat geben wird. Sie müssen doch wissen, was sie beabsichtigen. Es wäre ebenso verständig, die führenden Politiker Englands zu fragen, was z. B. in 25 Jahren aus Irland geworden sein wird? und aus Indien? Ihrer Politik muss doch ein Plan zugrunde liegen. Sonst hätten diese Leute ja gar keine Einsicht, sonst wären sie, um es kurz zu sagen, gefährliche Narren. Je früher wir Persönlichkeiten finden, die genügende Voraussicht besitzen und fähig sind, sich darüber auszusprechen, desto besser für uns.

Jeder Staatsmann, jeder Politiker, auf der ganzen Welt, teilt heute die allgemeine Ansicht, dass die Beziehungen zwischen den Arbeitsgebern und Arbeitsnehmern in den industriellen Betrieben unhaltbare sind. Wie wäre dem abzuhelfen? Wie könnte man diese Beziehungen entwickeln und in welcher Weise wollen sie sie entwickeln? Treiben wir bloss einem ungewissen Dunkel entgegen, geführt von Blinden, die unsere Blindheit leiten? oder wären intelligente, befähigte Leute nicht im Stande, diese Fragen zu lösen? Ich versichere Sie, dass sie dazu fähig wären. Es wäre nur recht und billig, unseren Staatsmännern und Politikern solche Fragen zu stellen: was wird aus der Welt? was für eine bessere soziale Ordnung bereiten Sie vor? was für eine Weltordnung wollen Sie schaffen? Sie sollen uns ihre Gedanken eröffnen, sie sollen uns Einblick geben in ihre Ränke und Intriguen, so werden wir ihre Fähigkeiten und ihren guten Willen beurteilen können. Wir werden auch eine Handhabe erhalten, um Könige und Reichspräsidenten einer Aufsicht zu unterstellen.

Die Antworten der Staatsmänner auf diese Fragen sind das, was ich unter einem Buch der Weissagung verstehe. Glauben Sie mir, unsere Zivilisation bedarf dringend eines solchen Buches; es wäre ein Buch, das wir alle lesen und besitzen sollten. Ich weiss, Sie werden einwenden, dass ein solches Zukunftsbuch anfänglich höchst ungenügend sein werde und sich in jedem neuen Jahr als noch mangelhafter und unzulänglicher beweisen müsste. Ich stimme Ihnen vollkommen bei. Der erste Versuch wird sicherlich ein kläglicher sein, erbärmlich kläglich. So kläglich, dass die ganze Menschheit stürmisch nach einer gründlichen Durchsicht verlangen wird. Die zweite Auflage unseres Zukunftsbuches wird schon besser sein und eine nochmalige Durchsicht wird es der Wirklichkeit schon viel näher bringen. Ich versichere Sie, die geistigen, die psychologischen Fähigkeiten einer Gesellschaft, die ein solches Zukunftsbuch besitzt, werden sicherlich insgesamt gesünder, klarer sein, als sie es heute in der menschlichen Gesellschaft sind, die – wie wir es alle tun – abenteuerlich, unsicher dahinlebt, in einer Welt der Zufälle, der unerwarteten Ereignisse und Katastrophen. Unser Dasein wird sich festigen, wird auf ein bestimmtes Ziel gerichtet werden und einem Weltplan eingeordnet werden; wir werden etwas oder auch alles von der Stetigkeit und Würde des alten, religiösen Lebens wieder erlangen.

§ 5

Mit diesem Buch der Weissagungen will ich meine phantastischen Ausführungen abschliessen. Stellen Sie sich diese moderne Bibel vielleicht zwei- oder dreimal so umfangreich als die alte Bibel vor, bestehend aus:

den Büchern der Geschichte mit Landkarten und dergl.
den Büchern des Lebens und der Weisheit
den Anthologien der Dichtkunst und Literatur
und endlich einem Buch der Weissagungen

statt der alten Propheten und Offenbarungen.

Ich möchte Ihnen diese erneute Bibel so sorgsam verfasst und ausgestattet als möglich darstellen, allen zugänglich, die Grundlage des allgemeinen Schulunterrichts, das gemeinsame Eigentum der Menschheit – genau das, was die alte Bibel den Menschen früher war, in alle Sprachen übersetzt, das geistige Bindeglied der ganzen Welt.

Ungleich der alten, müsste die moderne Bibel von Zeit zu Zeit eine Durchsicht erleben. Der geschichtliche Teil müsste berichtigt werden, über Gesundheit und Lebensführung kämen neue Erfahrungen hinzu, ebenso neue literarische Beiträge. Voraussagungen, die sich bereits erfüllt oder als unerwünscht und hoffnungslos erwiesen haben, müssten gestrichen und durch neue ersetzt werden. Es wäre eine Bibel, die sich der menschlichen Erfahrung gemäss entwickelt, ändert und bereichert ...

Dies nun ist mein Traum von einer neuen Bibel der Zivilisation. Ist es mir gelungen Ihnen eine Vorstellung zu übermitteln, meine Vorstellung dieses Buches, das vier bis fünf Bände umfasst, in jedem Haus, bei jedem Einzelnen zu finden ist und überall in der ganzen Welt das Leben, die Gedanken der Menschen in vertrauter Sprache zusammenhält? Ist dies nichts als ein unwahrscheinliches Geschwätz oder kann und soll es verwirklicht werden?

Ich weiss nicht, wie Sie darüber denken, meiner Ansicht nach ist dieses Buch, das wir hier besprochen haben, nicht nur denkbar, sondern sogar ein dringendes Bedürfnis. Unsere Erziehung ist ohne dies Buch sinnlos, eine Schale ohne Kern, unser soziales Leben ziellos, wir gleichen einem grossen Menschenhaufen ohne innere Verständigung. Nur durch ein einigendes Organ können wir hoffen, das menschliche Leben vor der Gefahr des Untergangs zu bewahren.

Die Zusammenstellung, der Druck, die Übersetzung einer solchen Bibel, ihre Verbreitung in der ganzen Welt könnte, meine ich, durch einige hundert befähigte Leute geschehen und würde 30 bis 40 Millionen Dollar kosten. Das ist eine geringere Summe als die, welche die Vereinigten Staaten – auch wenn sie auf der ganzen Welt keinen Feind zu fürchten haben – zum Bau ihrer Flotte – ein gänzlich überflüssiges und sehr kostspieliges Spielzeug – verausgaben.

Sie mögen über vieles, was ich hier ausgeführt habe anderer Ansicht sein. Lassen Sie sich aber durch ein paar Kleinigkeiten nicht gegen den fundamentalen Gedanken einnehmen, den alten schöpferischen Gedanken Komensky's, der ein Schüler Bacons und Freund Miltons war, den Gedanken ein gemeinsames Buch zu schaffen, ein Buch der Weisheit und Erkenntnis, als notwendigen Grundstein zu einer dauernden menschlichen Einigung.


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