Frank Wedekind
Die Büchse der Pandora
Frank Wedekind

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Lulu öffnet die Mitteltür und läßt Mr. Hopkins eintreten. Mr. Hopkins ist ein Mann von hünenhafter Gestalt, glattrasiertem rosigen Gesicht, himmelblauen Augen und freundlichem Lächeln. Er trägt Havelock und Zylinder und hält in der Hand den triefenden Schirm.

Lulu There is my little room.

Mr. Hopkins legt den Zeigefinger auf den Mund und sieht Lulu bedeutungsvoll an. Darauf spannt er seinen Schirm auf und stellt ihn im Hintergrund zum Trocknen auf die Diele.

Lulu It's not just too comfortable here.

Mr. Hopkins kommt nach vorn und hält ihr die Hand vor den Mund.

Lulu What do you mean?

Mr. Hopkins legt ihr die Hand vor den Mund und hält den Zeigefinger an die Lippen.

Lulu I don't understand that.

Mr. Hopkins hält ihr den Mund zu.

Lulu sich freimachend We are alone. – There is nobody.

Mr. Hopkins legt den Zeigefinger an die Lippen, schüttelt verneinend den Kopf, zeigt auf Lulu, öffnet den Mund wie zum Sprechen, zeigt auf sich und dann auf die Türe.

Lulu Mon Dieu, quel monstre!

Mr. Hopkins hält ihr den Mund zu. Darauf geht er nach hinten, faßt seinen Havelock zusammen und legt ihn über den Stuhl neben der Tür. Dann kommt er mit grinsendem Lächeln nach vorne, nimmt Lulu mit beiden Händen beim Kopf und küßt sie auf die Stirn.

Schigolch hinter der halboffenen Tür rechts vorn Der hat den Spleen.

Alwa Er soll sich vorsehen!

Schigolch Etwas Trostloseres hätte sie uns nicht heraufbringen können!

Lulu zurücktretend I hope you will give me some money.

Mr. Hopkins hält ihr den Mund zu und drückt ihr ein Zehnschillingstück in die Hand.

Lulu besieht das Geldstück und wirft es aus einer Hand in die andere.

Mr. Hopkins sieht sie unsicher fragend an.

Lulu das Geldstück in die Tasche steckend Allright!

Mr. Hopkins hält ihr rasch den Mund zu, gibt ihr ein Fünfschillingstück und wirft ihr einen gebieterischen Blick zu.

Lulu You are generous!

Mr. Hopkins springt wie wahnsinnig im Zimmer umher, fuchtelt mit den Armen in der Luft und starrt verzweiflungsvoll gen Himmel.

Lulu nähert sich ihm vorsichtig, schlingt den Arm um ihn und küßt ihn auf den Mund.

Mr. Hopkins macht sich lautlos lachend von ihr los und blickt fragend im Zimmer umher.

Lulu nimmt die Lampe vom Blumentisch, wirft Mr. Hopkins einen verheißungsvollen Blick zu und öffnet die Tür zu ihrer Kammer.

Mr. Hopkins tritt lächelnd ein, indem er unter der Tür seinen Hut lüftet.

Lulu folgt ihm.

Die Bühne ist finster bis auf einen Lichtstrahl, der von links durch die Türspalte dringt. – Alwa und Schigolch kriechen auf allen Vieren aus ihrem Verschlag.

Alwa Sie sind drin.

Schigolch hinter ihm Warte noch!

Alwa Hier hört man nichts.

Schigolch Das hat man doch oft genug gehört!

Alwa Ich will vor ihrer Türe knien.

Schigolch Dieses Muttersöhnchen! Er drückt sich an Alwa vorbei, tappt über die Bühne, nimmt Mr. Hopkins' Havelock vom Stuhl und durchsucht die Taschen.

Alwa hat sich vor Lulus Kammertür geschlichen.

Schigolch Handschuhe – sonst nichts! Er kehrt den Havelock um, durchsucht die inneren Taschen und zieht ein Buch heraus, das er an Alwa gibt Sieh mal nach, was das ist!

Alwa hält das Buch in den Lichtstrahl, der durch die Tür dringt, und entziffert mühsam das Titelblatt Lessons for those – who are – and those who want to be – Christian Workers – with a preface by Rev. W. Hay. M. H. – Very helpful. – Price three shillings six.

Schigolch Der scheint ganz von Gott verlassen zu sein. Legt den Mantel über den Stuhl und tastet sich nach dem Verschlag zurück Es ist nichts hier in London. Die Nation hat ihre Glanzzeit hinter sich.

Alwa Das Leben ist nie so schlimm, wie man es sich vorstellt. Er kriecht ebenfalls nach dem Verschlag zurück.

Schigolch Nicht einmal ein seidenes Foulard hat der Kerl! Und dabei kriechen wir in Deutschland vor dem Pack auf dem Bauch!

Alwa Laß uns wieder verschwinden. Vielleicht gibt er ihr beim Abschied noch was.

Schigolch Sie denkt an nichts als an ihr Vergnügen und nimmt den ersten, der ihr in den Weg läuft. Hoffentlich vergißt der Hund sie zeit seines Lebens nicht.

Schigolch und Alwa verkriechen sich in ihr Kämmerchen und schließen die Tür hinter sich. Darauf kommt Lulu mit Mr. Hopkins aus ihrer Kammer. Sie setzt die Lampe auf den Blumentisch, während Mr. Hopkins sie sinnend betrachtet.

Lulu Do you think to come again?

Mr. Hopkins hält ihr den Mund zu.

Lulu etwas verklärt, blickt in einer Art Verzweiflung gen Himmel und schüttelt den Kopf.

Mr. Hopkins hat seinen Havelock übergeworfen und nähert sich ihr mit grinsendem Lächeln. Sie wirft sich ihm an den Hals, worauf er sich sachte losmacht, ihr die Hand küßt und sich zur Türe wendet. Sie will ihn begleiten, er winkt ihr aber zurückzubleiben und verläßt geräuschlos das Gemach. Schigolch und Alwa kommen aus ihrem Verschlag.

Lulu Hat mich der Mensch erregt!

Alwa Wieviel hat er dir gegeben?

Lulu Fünfzehn Schillinge. Hier sind sie! Nimm sie! Ich gehe wieder hinunter.

Schigolch Wir können noch wie die Prinzen hier oben leben.

Alwa Er kommt zurück.

Schigolch Dann laß uns nur gleich wieder abtreten.

Alwa Er sucht sein Gebetbuch; hier ist es. Es muß ihm aus dem Mantel gefallen sein.

Lulu aufhorchend Nein, das ist er nicht. Das ist jemand anders.

Alwa Es kommt jemand herauf. Ich höre es ganz deutlich.

Lulu Jetzt tappt jemand an der Tür. – Wer mag das sein?

Schigolch Wahrscheinlich ein guter Freund, dem er uns empfohlen hat. – Herein!

Die Gräfin Geschwitz tritt ein. Sie ist in ärmlicher Kleidung und trägt eine Leinwandrolle in der Hand.

Die Geschwitz Wenn ich dir ungelegen komme, dann kehre ich wieder um. Ich habe allerdings seit zehn Tagen mit keiner menschlichen Seele gesprochen. Ich muß dir nur gleich sagen, daß ich kein Geld bekommen habe. Mein Bruder hat mir gar nicht geantwortet.

Schigolch Jetzt möchten gräfliche Gnaden gerne ihre Füße unter unsern Tisch strecken?

Lulu Ich gehe wieder hinunter!

Die Geschwitz Wo willst du in dem Aufzug hin? – Ich komme trotzdem nicht mit ganz leeren Händen. Ich bringe dir etwas anderes. Auf dem Wege hierher am Leicester Square bot mir ein Trödler noch zwölf Schillinge dafür. Ich brachte es nicht übers Herz, mich davon zu trennen. Aber du kannst es verkaufen, wenn du willst.

Schigolch Was haben Sie denn da?

Alwa Lassen Sie doch mal sehen. Er nimmt ihr die Leinwandrolle ab und entrollt sie Ach ja, mein Gott, das ist ja Lulus Porträt!

Lulu aufschreiend Und das bringst du Ungeheuer hierher? Schafft mir das Bild aus den Augen! Werft es zum Fenster hinaus!

Alwa Warum nicht gar! Diesem Porträt gegenüber gewinne ich meine Selbstachtung wieder. Es macht mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird so natürlich, so selbstverständlich, so sonnenklar, was wir erlebt haben. Wer sich diesen blühenden schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig-weißen strotzenden Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns.

Schigolch Man muß es annageln. Es wird einen ausgezeichneten Eindruck auf unsere Kundschaft machen.

Alwa Da drüben steckt schon ein Nagel dafür in der Wand.

Schigolch Wie kommen Sie denn zu der Akquisition?

Die Geschwitz Ich habe es in eurer Wohnung in Paris heimlich aus der Wand geschnitten, nachdem ihr fort wart.

Alwa Schade, daß am Rande die Farbe abgeblättert ist! Sie haben es nicht vorsichtig genug aufgerollt. Er befestigt das Bild mit dem oberen Rande an einem Nagel, der in der Wand steckt.

Schigolch Es muß unten noch einer durch, wenn es halten soll. Die ganze Etage bekommt ein eleganteres Aussehen.

Alwa Laßt mich nur, ich weiß schon, wie ich es mache. Er reißt verschiedene Nägel aus der Wand, zieht sich den linken Stiefel aus und schlägt die Nägel mit dem Stiefelabsatz durch den Rand des Bildes in die Mauer.

Schigolch Es muß nur erst wieder eine Weile hängen, um richtig zur Geltung zu kommen. Wer sich das angesehen hat, der bildet sich nachher ein, die seligsten Wonnen zu genießen.

Alwa seinen Stiefel wieder anziehend Ihr Körper stand auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung, als das Bild gemalt wurde. Die Lampe, liebes Kind! Mir scheint, es ist außergewöhnlich stark nachgedunkelt.

Die Geschwitz Es muß ein eminent begabter Künstler gewesen sein, der das gemalt hat!

Lulu mit der Lampe vor das Bild tretend Hast du ihn denn nicht gekannt?

Die Geschwitz Nein; das muß lange vor meiner Zeit gewesen sein. Ich hörte nur zuweilen noch abfällige Bemerkungen von euch darüber, daß er sich in seinem Verfolgungswahn den Hals abgeschnitten habe.

Alwa das Porträt mit Lulu vergleichend Der kindliche Ausdruck in den Augen ist trotz allem, was sie seitdem genossen hat, noch ganz derselbe. Aber der frische Tau, der die Haut bedeckt, der duftige Hauch vor den Lippen, das strahlende Licht, das sich von der weißen Stirne aus verbreitet, und diese herausfordernde Pracht des jugendlichen Fleisches an Hals und Armen...

Schigolch Das alles ist mit dem Kehrichtwagen gefahren. Sie kann wenigstens sagen: Das war ich mal! Wem sie heute in die Hände gerät, der macht sich keinen Begriff mehr von unserer Jugendzeit.

Alwa Gott sei Dank merkt man den fortschreitenden Verfall nicht, wenn man fortwährend miteinander verkehrt. Das Weib blüht für uns in dem Moment, wo es den Menschen auf Lebenszeit ins Verderben stürzen soll. Das ist nun einmal so eine Naturbestimmung.

Schigolch Unten im Laternenschimmer nimmt sie es noch mit einem Dutzend dieser englischen Windmühlen auf. Wer um diese Zeit noch eine Bekanntschaft machen will, der sieht überhaupt nicht auf körperliche Qualitäten. Er fragt nach den seelischen Vorzügen. Er entscheidet sich für diejenige Person, von der er am wenigsten Diebesgelüste zu fürchten hat.

Lulu Ich werde es ja sehen, ob du recht hast. Adieu.

Alwa Du gehst nicht mehr hinunter, so wahr ich lebe!

Die Geschwitz Wo willst du hin?

Alwa Sie will sich einen Kerl heraufholen.

Die Geschwitz Lulu!

Alwa Sie hat es heute schon einmal getan.

Die Geschwitz Lulu, Lulu, ich gehe mit, wohin du gehst!

Schigolch Wenn Sie Ihre Knochen auf Zinsen legen wollen, dann suchen Sie sich bitte Ihr eigenes Trottoir.

Die Geschwitz Lulu, ich gehe dir nicht von der Seite! Ich habe Waffen bei mir.

Schigolch Verflucht noch mal! Gräfliche Gnaden legen es darauf an, mit unserem Speck zu fischen!

Lulu Ihr bringt mich um! Ich halte es hier nicht mehr aus!

Die Geschwitz Du brauchst nichts zu fürchten. Ich bin bei dir!

Lulu mit der Gräfin Geschwitz durch die Mitte ab.


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