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Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart

Frankfurter Zeitung vom 25. Dezember 1915.

I. Dreibund und Westmächte

Äußerlich angesehen war Bismarcks Außenpolitik: Dreibundpolitik. Aber die innerliche Lockerung, welche er selbst durch den Rückversicherungsvertrag mit Rußland hineintrug, beweist, daß er sogar dem bedingten Bund mit Österreich-Ungarn schon während seiner Amtsführung nur den gleichen historisch bedingten Wert beimaß, wie in den »Gedanken und Erinnerungen«. Vollends über Italien dachte er wohl sehr skeptisch. Die italienische Angst vor der englischen Seemacht freilich, welche Italien veranlaßte, nach Gründen zu suchen, sich der aktiven Teilnahme im Bündnisfalle zu entziehen, konnte Bismarck unmöglich in seine Rechnung einstellen. Aber das Bündnis mit Italien hatte noch andere schwache Punkte. Bismarck hatte gleich zu Beginn die Forderung eines Verzichts auf die »Irredenta« gestellt, den er selbst doch schwerlich als dauernd einschätzen konnte. Rein sachlich wäre eine rechtzeitige Verständigung darüber, wie die Wiener Angebote dieses Frühjahrs zeigten, nicht so schwer gewesen, wie sie jetzt geworden ist. Der schwierigste Punkt: Triest, hatte vor dem Kriege langsam an Bedeutung für Italien verloren. Aber nachdem die Unterschätzung der Kraft und des Zusammenhalts der Doppelmonarchie und das bei dem eigenen Verhalten Italiens ja leider subjektiv recht begreifliche, eben deshalb aber für den Gegenpart höchst verdächtige und verletzende Mißtrauen in die Loyalität Österreich-Ungarns die Verhandlungen zerschlagen hatte, ist jetzt ein Bund gebrochen und Blut geflossen und sind die auf keinerlei nationales Interesse Italiens mehr zu gründenden Forderungen italienischer Straßenpolitiker öffentlich erhoben worden. Das alles ist jetzt erschwerend hinzugetreten. Daß ein Entgegenkommen von Anfang des Bündnisses an nur aus Österreich-Ungarns alleiniger Initiative und nur bei stärkeren und dauerhafteren Garantien möglich war, als sie die stets – aus Gründen der Entstehungsart des modernen Italiens – gegenüber der Macht der Straße unsicher im Sattel sitzende italienische Dynastie und Regierung bieten zu können schien, war klar. Vor allem aber war etwas derartiges nur gelegentlich einer Ausdehnung der österreichisch-ungarischen Machtsphäre nach anderen Richtungen hin überhaupt möglich. Und da lag nun die Schwäche des Dreibundes in dem, was vom Standpunkt der Erhaltung des Friedens sein Vorzug war: in seinem reinen Defensivcharakter. Aus einem solchen Bund entsprangen keine Chancen für ein politisches Ausdehnungsbedürfnis Italiens. Auch die allgemeine Zusage eventueller Kompensationen im Falle der Ausdehnung des Nachbarn ist erst nachträglich, und zwar in gleichem Schritt mit einer Lockerung der italienischen Verpflichtung, mithin als ein Bestandteil dieser Lockerung, nicht aber als einer der positiven Zwecke des Bundes in den Vertrag aufgenommen worden.

Diese Eigenart des Dreibundes folgte aus allgemeinen Eigentümlichkeiten der in jedem Sinn »konservativen« Bismarckschen Politik. Sie war in keinem Sinn eine Politik eines »größeren Deutschlands«.

Der Erwerb von Siedlungsland zur Erweiterung der Gebietsgrundlage unseres Volkstums wäre angesichts der Auswanderungsziffern in den siebziger Jahren naheliegend gewesen. Nachdem wir jetzt längst ohne eine Millionenziffer fremder Arbeitskräfte im Lande nicht mehr auskommen, ist er nach meiner Ansicht überholt. Die Hinzufügung neuer, mit dem geschlossenen Körper des Deutschtums nicht zusammenhängender Fetzen deutschen Bauernlandes im Osten würde angesichts der dortigen, ohnehin ungünstigen Gestaltung unseres Siedlungs- und Sprachgebiets Bismarck in keinem Fall in Betracht gezogen haben, auch wenn er mit der jetzigen Lage jemals zu rechnen gehabt hätte.

Auch dem Gedanken überseeischer Erwerbungen stand er bekanntlich innerlich fremd gegenüber. In dieser Frage schob der Verächter der öffentlichen Meinung dieser die Initiative zu. Für eine solche mangelte damals jegliche kapitalistische Interessengrundlage.

Zufällige geschäftliche Einzelunternehmungen in Westafrika, zufällige Pioniertaten einzelner in Ostafrika bestimmten dann die Richtung überseeischen Erwerbs dort. Unsere sonstige koloniale Ausdehnung kam vollends verspätet und blieb nach Art und Umfang dürftig. Man braucht die großen Kolonialgebiete, welche andere Staaten: Rußland, England, Frankreich, Belgien, im letzten Menschenalter neu annektierten, nur mit unseren eigenen Erwerbungen zu vergleichen, um zu sehen, daß diese Kolonialpolitik rein sachlich niemandes Eifersucht zu erregen geeignet war. Weil historische wirtschaftliche Interessensphären für uns fehlten, vollzog sich unsere Überseeausdehnung als ein Streuerwerb in aller Welt, der nur für einen künftigen Austausch gegen möglichst geschlossene Interessengebiete Sinn haben konnte. Inzwischen aber hatte dieser Streuerwerb den Nachteil, uns angesichts des Geräusches, welches er erregte, in Reibung mit aller Welt zu bringen und unser Wollen, bei Fehlen historischer Interessensphären, als unsachlichen Ehrgeiz erscheinen zu lassen. Er engagierte uns auch an Punkten, wohin unsere Machtmittel nicht reichten. Ostasiatischen Besitz hätten wir in keinem Fall eines Krieges mit einer dortigen Großmacht wirksam verteidigen können.

Einen Grund zum ernstlichen Konflikt mit England hat dieser Übersee-Erwerb nicht gebildet. Im Gegenteil: in gewissem Maße hatte jeder deutsche Kolonialbesitz für England den Wert eines »Pfandes«. Denn selbst bei gleicher Flottenmacht wäre für uns die geographische Lage Englands als eines Riegels vor der Nordsee und die Lage von Liverpool durch nichts auszugleichen (selbst nicht durch die Eroberung aller Kanalhäfen!). Allein dieser Umstand hat Bismarck nicht davon abgeschreckt, schließlich doch Kolonien zu erwerben. Mit Recht. Objektiv auch für heute mit Recht deshalb, weil wir andererseits Machtmittel auch gegen England besitzen, welche nach den Erfahrungen dieses Krieges, den England mit der stärksten überhaupt möglichen Koalition gegen uns führt, für künftig steigend ins Gewicht fallen werden. Und nach jetzt 1 1/2 Jahren sind die wichtigsten deutschen Besitzungen noch immer nicht ganz erobert. Andererseits ist das Ideal eines möglichst sich selbst genügenden Reichs für uns eine offenbare Utopie. Alle Textilstoffe und wichtige Metalle werden dauernd vom Ausland bezogen, müssen also durch Außenhandel verdient werden. Ob aber Kolonien oder Handelsschiffe und Handelsverbindungen das »Pfand« bilden, ist gleichgültig. Zu Bismarcks Zeit konnte nicht als wahrscheinlich gelten, daß die englische Politik jemals das Interesse haben würde, sich, wie sie im Begriffe zu tun steht, ohne Not in uns einen Todfeind für alle Zukunft zu schaffen. Auch nicht, daß es erst eines Krieges mit uns bedürfen würde, um englischen Politikern zu zeigen, was ein Konflikt mit uns auch für England bedeute. Auch nicht, daß in England Theorien entstehen würden, wonach »jeder Engländer reicher sein würde«, wenn Deutschland aufhörte zu existieren. Wie diese Rechnung steht, weiß jeder ökonomisch Gebildete. Gesetzt aber, sie wäre richtig, so würde das, was sich England auf unsere Kosten an Seehandelsprofit (zu 10 Prozent des Umsatzes) günstigenfalls aneignen könnte, nicht ganz ein Drittel dessen ausmachen, was von ihm an Schuldzinsen und Mehrausgaben für das Heer zur Durchführung einer Politik blinden Neides jährlich mehr aufzuwenden wäre. Es ist rein sachlich ein Irrtum, anzunehmen, daß eine dauernde Verständigung und selbst ein festes Bündnis beider Mächte aus diesen Gründen unmöglich gewesen wäre. Ein Bündnis kam für Bismarck nicht in Frage, weil die damalige Tradition der englischen Politik feste Bündnisse ablehnte, teils weil es als unzulässig für eine Parteiregierung galt, die künftige Regierung der Gegenpartei zu binden, teils aus der überlieferten Politik der freien Hand heraus, welche damals als dem Interesse an dem berüchtigten »Gleichgewicht der Kräfte« allein entsprechend galt. Wäre es aber in Frage gekommen, so würden teils innerpolitische Antipathien, teils und entscheidend aber die überlieferten Beziehungen zu Rußland es für Bismarck ausgeschlossen haben. Als später die englische Politik bündnisreif wurde, geschah dies aus Angst vor uns und, um sich gegen uns zu wenden. Dafür gab aber nicht unser dürftiger Kolonialbesitz und auch nicht in erster Linie unser gelegentlich lästiger Handelsaufschwung den Ausschlag, sondern: die vermeintliche Bedrohung in der Nordsee. An die Tatsache einer relativ steigenden Seemacht aller anderen Mächte wird sich England schon infolge der bevorstehenden Entstehung einer amerikanischen Flotte ersten Ranges endgültig gewöhnen müssen. Für den Umfang unserer eigenen Rüstung aber haben eine Reihe unsachlicher und deshalb unkluger Rücksichtslosigkeiten der englischen Politik den Ausschlag gegeben. Sie behandelte im Ärger über unseren Flottenbau auch unsere kolonialpolitischen Interessen in allzu augenfälliger Art unfreundlicher als diejenigen Frankreichs mit seiner damals weit größeren Flotte. Wir gewannen dadurch den Eindruck, daß England bei allen überseeischen Chancen Deutschlands, auch wo wichtige englische Interessen gar nicht bedroht wurden, dennoch stets gegen uns Partei nehmen würde. Bei diesem sachlich nicht gebotenen Verhalten war die Angst vor uns ein schlechter Berater. Es liegt vor Augen, welche Zukunftsinteressen die englische Politik mit ihrer Wendung gegen uns und Österreich-Ungarn diesem Gespenst geopfert hat und, wenn sie sich nicht ändert, noch wird opfern müssen.

Die Bismarcksche Politik konnte diese Entwicklung nicht voraussehen und ging von der Annahme aus, daß wir auf Englands Neutralität mindestens für den Fall eines Zusammenstoßes mit Rußland sicher rechnen dürften. Allerdings hatte Bismarck auch keine ganz zutreffende Vorstellung von den militärischen Verhältnissen, welche im Fall einer doch immerhin möglichen Feindseligkeit Englands gegen uns eintreten könnten. »Die Engländer jagen wir mit ein paar Landwehrregimentern in die Nordsee«, lautete seine Antwort an die Staatsmänner, welche ihn in Friedrichsruhe aufsuchten, um (vergeblich) seine Sympathie für den Flottenbau zu gewinnen. Es ist heute jedermann klar, welche Tragweite für die Möglichkeit, zur See überhaupt einer Großmacht würdig aufzutreten, der Besitz von Helgoland hat. Damit vergleiche man die darauf bezüglichen Bemerkungen der »Gedanken und Erinnerungen«. Nüchtern zog Bismarck es vor, dies für unser heutiges Empfinden verletzende deutsche Gibraltar lieber in – wie er annahm – neutraler Obhut bestehen zu lassen, als die Verpflichtung zu übernehmen, diesen »Steinfelsen« künftig unsererseits gegen die: französische Flotte (die er allein in Betracht zog) verteidigen zu müssen. Die geringfügigen Leistungen der Franzosen zur See 1870 ermöglichten es ihm, die Marine als subaltern zu behandeln. In den 70er Jahren wäre der Bau einer ausreichenden deutschen Flotte schwerlich als Bedrohung Englands empfunden worden, sondern als eine selbstverständliche Ehrenpflicht, unsere einer Großmacht nicht würdige Ohnmacht zur See gegenüber Frankreich auszugleichen. In starkem Maße innerpolitische Antipathien bestimmten Bismarcks verhängnisvolle ablehnende Stellung zur Flotte, für welche, wie er sagte, »sogar der Abgeordnete Rickert« Sympathie habe. Das damals Unterlassene wurde später schwer und daher mit einem Geräusch nachgeholt, welches Mißtrauen erwecken konnte.

Was an der heutigen Praxis der englischen Seeherrschaft das für uns Unerträgliche ist, weiß jedermann. Dem allein durch England gestützten Seebeuterecht hat die Initiative Englands heute ein noch weit gehässigeres Landbeuterecht zur Seite gestellt. Die Willkür der Konterbandebegrenzung bekommt jeder neutrale Staat zu fühlen. Wir unsererseits würden in jedem Kriege Englands gegen den Versuch einer solchen Kontrolle und Vergewaltigung, wie sie gegenüber anderen Mächten, auch Großmächten, jetzt geübt worden ist, um unserer Ehre willen Gewalt haben anwenden müssen. Die englische Politik wird über die wirkliche Wirkung ihres Verhaltens auf die Stimmung der Welt erst nach dem Kriege ihre Erfahrungen zu machen haben, wenn die Augenblickskonstellation der Interessen sie nicht mehr verschleiert. Entscheidend wird dann wohl die Erfahrung wirken, daß alle diese Vergewaltigungen und sittenlose Gehässigkeit eines krämerhaften Wirtschaftskrieges gegen uns nutzlos gewesen sind. Aber nur, wenn die Schlüsse daraus von England schon im Friedensvertrag voll gezogen werden, kann dieser die Pforte zu einer Verständigung werden.

Die Racheabsicht der Franzosen hat Bismarck nach 1870 als etwas für alle Zukunft in unsere Rechnung Einzustellendes angesehen. Welche Momente bei einer solchen Auffassung ihn eigentlich zur Herausgabe von Belfort veranlaßten, wissen wir heute ebensowenig, wie wir die Stellung der damaligen militärischen Autoritäten zu diesem Schritt kennen. Bismarck begann dann in Ermangelung anderer Möglichkeiten eine Politik der Isolierung Frankreichs, welche von ihm selbst unmöglich auf unbegrenzte Zeit berechnet sein konnte. Gleichzeitig machte er seine bekannten Versuche der Ablenkung der Franzosen auf koloniale Erwerbungen in der Erwartung, sie würden, auf diesem Gebiet von uns unbehelligt und loyal gefördert, die kontinentalen Gegensätze schließlich vergessen. Zunächst enttäuschte der Sturz Ferrys diese Politik, die aber dennoch fortgesetzt wurde. Sie war kontinentalpolitisch völlig verständlich. Weltpolitisch aber hat sie auch einige bedenkliche Folgen gehabt. Worüber wir uns in letzter Zeit mit Grund beschwerten, war bekanntlich, daß Frankreich und andere Mächte unsere Existenz bei Fragen der Verteilung von Interessensphären einfach ignorierten. So England bei seiner südafrikanischen, Frankreich bei seiner nordafrikanischen Politik. Keine Großmacht darf sich ungestraft immer wieder vor vollzogene Tatsachen stellen und über sich zur Tagesordnung übergehen lassen. Eben jene Haltung der Bismarckschen Politik hatte aber Frankreich und die Welt daran gewöhnt, die Vorgänge in Überseegebieten als Dinge anzusehen, bei denen eigentlich Deutschland nur aus Anmaßung mitzureden beanspruche. Der nüchterne Standpunkt des »do ut des« war ausgeschaltet. Als er von unserer Seite aufgenommen wurde, stand das entstehende Geräusch zu unseren wahrlich bescheidenen Ansprüchen außer allem Verhältnis, und wir gerieten dadurch in eine auch innerlich ungünstige Position. Denn es ist klar, daß ein Krieg mit Frankreich wegen »kapitalistischer« Interessen in Marokko nicht jener unbedingten innerlichen Hingabe des deutschen Volkes sicher gewesen wäre, welche selbstverständlich war, als Frankreich, von uns unbedroht, als russischer Vasall uns angriff. Eine frühzeitigere und stärkere kolonialpolitische Betätigung Deutschlands hätte jedenfalls die Kriegsgefahr Frankreich gegenüber nicht gesteigert. Für diese bleibt allein entscheidend die französische Vorstellung, daß die Zugehörigkeit des Elsaß zu uns ein Provisorium sei. Diese Ansicht erhielt freilich durch das Provisorium seiner staatsrechtlichen Stellung im Reich stets neue Nahrung. Es gab daher in Frankreich eine nicht ganz unerhebliche Strömung für ein schweigendes Nebeneinander, aber keine für eine offene Verständigung mit uns. Eine Politik des Ignorierens ist aber gegenüber einer Großmacht friedlich nicht durchführbar. Darüber war auch die französische Politik nicht im Zweifel. Sie konnte aber den Entschluß zu etwas anderem nicht finden. Und seitdem sie den gebildeten Klassen des Landes auf Verlangen Rußlands die dreijährige Dienstzeit zugemutet hatte, mußte sie positiv entschlossen sein, den Krieg gegen uns baldmöglichst zu führen. »Wir werden Barbaren, wenn wir drei Jahre in der Kaserne liegen müssen; entweder wir vernichten Deutschland und brauchen das dann nicht mehr, oder – es lohnt nicht mehr«, war das entscheidende Argument, welches man von gebildeten Franzosen zu hören bekam. Nachdem entgegen der Annahme vieler von uns, welche unser eigenes Heer noch mit der dritten Jahresklasse kannten, die zweijährige Dienstzeit sich bei uns so glänzend bewährt hat, wird auch in Frankreich künftig jenes Argument an Gewicht verlieren. Die Erfahrung, daß auch diese Koalition Elsaß-Lothringen nicht wiederbringt, und die zu erwartende endgültige Regelung von dessen Stellung in Deutschland kann manches ändern. Wie schnell und viel wissen wir nicht.

Für den Augenblick liegt zwischen uns und den beiden Gegnern im Westen vor allem das belgische Problem. Der deutsche Standpunkt zu Belgien ist nicht unbekannt, aber immer wieder unzutreffend formuliert. Belgiens Selbständigkeit war von Frankreich bedroht, von Bismarck gestützt. Den Kongostaat hat Bismarcks Politik dem König der Belgier schaffen helfen. England hat diesen Besitz so lange bedroht, bis Belgien sich ihm politisch und militärisch willfährig zeigte. In den Irrsinn, dieses von jeher in seinen beiden Nationalitäten gleich stark an seiner Unabhängigkeit hängende Volkstum aus gleichviel welchen Gründen uns jemals zwangsweise angliedern zu wollen, sind vor dem Kriege weder kluge noch törichte deutsche Politiker je verfallen. Was könnte es uns auch nützen, wenn dadurch das uns stammverwandte Holland dazu getrieben würde, »Einfallspforte« der Gegner zu werden? Nicht daß Belgien, wohl aber daß das holländische Volkstum und mit ihm das Rheinmündungsgebiet sich national von uns geschieden hat, ist beklagenswert. Aber die Versäumnisse unseres Mittelalters sind heute nicht mehr rückgängig zu machen, und es ist bedauerlich genug, daß Hannovers Verhalten 1866 zur Einverleibung in Preußen zwang und durch diesen Eindruck das historische Vertrauensverhältnis Hollands zu uns getrübt war. Dies zu verschärfen, bestand und besteht kein Grund. Die Schwierigkeiten in den Beziehungen zu Belgien waren und sind rein militärischer Art.

Ein Mittelstaat, welcher lediglich die gegen Deutschland gerichtete Grenze wirklich befestigte, seine Seegrenze gegen England und seine Landgrenze gegen Frankreich aber in völlig verteidigungsunfähigem Zustand ließ, welcher ein zur Abwehr eines Durchmarsches unzulängliches Heer hielt und sein Verteidigungssystem letztlich auf die Behauptung einer von jenen beiden verteidigungslosen Grenzen möglichst entfernt liegenden Festung zuschnitt, – ein solcher Staat konnte, militärisch und politisch betrachtet, unmöglich als effektiv neutral gelten. Seine Neutralität war in der Tat »Papier«. Vollends nachdem jahrelang in seinen führenden Blättern und in spontanen Kundgebungen seines Parlaments immer wieder, und zwar ohne jeglichen Anlaß unsererseits, die Parteinahme für unsere Gegner zum Ausdruck gebracht worden war. Wirtschaftliche Momente: die Stellung des französischen Kapitals in sehr vielen, unter belgischer Flagge gehenden Unternehmungen, begünstigt durch die fast absolute rechtliche Freiheit des Börsenverkehrs und der Aktiengründungen in diesem Eldorado der Bourgeoisie, sprachen bei dieser sonst ganz unverständlichen Haltung entscheidend mit. Auch nicht die allergeringste Gewähr bestand daher dafür, daß dieser Staat nicht im Ernstfall seine Neutralität genau so betätigen würde, wie Griechenland jetzt unter dem Zwang unserer Gegner hat tun müssen, d.h. also: unter formalem Protest den Durchmarsch unserer Feinde geschehen lassen wird. Zum Überfluß war erinnerlich, daß England die Versetzung der holländischen Seeküste in verteidigungsfähigen Zustand fast wie einen Akt der Feindseligkeit gegen sich behandelt und zu hintertreiben gesucht hatte, um den Einbruch durch holländisches Gebiet nach Deutschland offen zu halten. Hollands Neutralität wurde von uns ebenso peinlich respektiert wie die der Schweiz. Das gleiche wäre selbstverständlich im gleichen Fall Belgien gegenüber geschehen. Wie man in Deutschland darüber dachte, war denen, die es anging, nicht verborgen. Belgien aber versagte uns jene Flankendeckung gegen Überfälle über sein Gebiet, welche die Schweiz durch ihre effektive Neutralität ebenso uns wie unseren Gegnern gewährte. Dabei war die deutsche Westgrenze bereits durch die Änderung des bis 1867 zu beiderseitiger Zufriedenheit in Luxemburg bestehenden Zustandes höchst ungünstig beeinflußt. Bismarck hatte das Besatzungsrecht ausschließlich um des Friedens willen Napoleon III. gegenüber aufgegeben. Der Krieg von 1870 blieb uns aber dennoch nicht erspart.

Das nur aus unbeglaubigten Gerüchten bekannte angebliche Projekt des jetzigen Königs der Belgier, einen Bund der neutralen Mittelstaaten zusammenzubringen, hätte die Lage vielleicht verschieben können. Freilich nur in dem leider äußerst unwahrscheinlichen Fall, wenn dabei etwa in erster Linie an eine feste militärische Verbindung Belgiens mit Holland zum Zwecke der gemeinsamen Verteidigung ihrer Neutralität gegen jede Antastung, also vor allem auch zur Herstellung eines verteidigungsfähigen Zustandes der Süd- und Seegrenzen Belgiens, gedacht gewesen wäre. Mit solchen effektiven Neutralitätsgarantien hätte Deutschland sich zufrieden geben können, und es wäre uns dann der trotz aller zwingenden Gründe für das Empfinden jedes Deutschen peinliche präventive Durchmarsch durch Belgien erspart geblieben, den vermeiden zu können auch Bismarck sicher mit allen Mitteln angestrebt hätte. Ob etwa jene vagen Möglichkeiten künftig jemals praktische Bedeutung gewinnen könnten, ist bei der Stellung der beteiligten Nationalitäten zueinander durchaus problematisch und hängt jedenfalls nicht von uns ab. Nachdem das Geschehene einmal geschehen mußte und nachdem inzwischen die Emigrantenregierung in Le Havre ausdrücklich die Forderung von Gebietserweiterungen Belgiens angemeldet hat, ist die Lage stark verändert. Greifbare Garantien sind geboten. Daß diese jeder gewissenhafte deutsche Politiker nach Art und Zeitdauer gern auf das unentbehrliche Mindestmaß beschränken möchte, weiß jedermann. Denn es besteht keinerlei Interesse Deutschlands daran, sich Todfeinde zugleich jenseits der Grenze und im eigenen Lande zu schaffen und seine Politik auf lange Zeit gänzlich gegen die Westmächte festzulegen. Klar ist aber, daß die Art jener Garantien von der politischen »Gesinnung« abhängen muß, deren wir uns von unseren Nachbarn im Westen und jenseits der Nordsee künftig zu versehen haben werden, dann nämlich, wenn die Leidenschaften des Kriegs verflogen sind. Über »Gesinnungen« überhaupt und vollends über Zukunftsgesinnungen ist durch Friedensverträge nichts auszumachen. Die Garantien, wie immer sie aussehen mögen, müssen also mindestens für so lange Zeit gelten, bis sich voraussichtlich klar übersehen läßt, woran Deutschland mit jenen Nachbarn sein wird. Zur Zeit sind leider ihre Gesinnungen die denkbar ungünstigsten für die Erwartung, daß wir künftig dort Ruhe haben werden. Wenn selbst jetzt noch Minister der Westmächte (auch Englands!) von Abtrennungen deutschen Gebiets reden, über die Deutschland, wie sie wissen, auch dann nicht verhandeln würde, wenn bei Köln und Heidelberg statt bei Arras und Reims gekämpft würde, so kann allerdings von ernsthaften Friedenserörterungen keine Rede sein. Angesichts dessen werden vielmehr diejenigen deutschen Politiker sich im Recht fühlen, welche die Ansicht vertreten, daß bei der Gesinnung unserer Gegner ein Friede in jedem Falle nur ein Waffenstillstand, und daß es also militärisch unklug sein werde, irgendein Stück besetzten Landes herauszugeben. Müßte man diesen Eindruck gewinnen, dann freilich bliebe nichts übrig, als das Faustpfand festzuhalten und die Gegner einfach so lange gegen die deutschen Linien anrennen zu lassen, als sie wollen, und abzuwarten, bis sie für diesmal aufhören müssen. Das deutsche Heer kann das. Das Schicksal möge die europäische Kulturwelt, uns selbst eingeschlossen, davor bewahren, daß es geschehen müßte. Dies hängt jedoch nicht von uns ab, und die bekannten Worte des Reichskanzlers gaben dieser Lage den zutreffenden Ausdruck.

II. Dreibund und Rußland

Durch die Ereignisse überholt ist die Bismarcksche Politik im Osten. Infolge unserer eigentümlichen Lage dort war sie nicht ganz frei von widersprechenden Möglichkeiten. Man konnte innerlich nicht wohl gleichzeitig ein dauerndes Waffenbündnis mit Österreich-Ungarn für wünschenswert halten und den Rückversicherungsvertrag mit Rußland abschließen. Letzten Endes war aber auch schon nicht recht abzusehen, was für ein Interesse Deutschland daran hatte, den Berliner Kongreß zu arrangieren und den unvermeidlichen Haß enttäuschter Hoffnungen auf sich zu nehmen, wenn diese Probleme uns wirklich »Hekuba« waren. Eine Festsetzung der Russen in Konstantinopel hätte nach Bismarcks späteren Erklärungen ihm nicht nur für die deutschen, sondern auch für die österreichisch-ungarischen Interessen unter gewissen Bedingungen als unschädlich und direkt nützlich gegolten. War dies wirklich seine letzte Meinung, dann freilich war nicht recht ersichtlich, aus welchem Grund gerade wir der damaligen englischen Politik zu Hilfe kamen. Es kann, solange nicht triftige Gründe dagegen vorliegen, nicht als unwahrscheinlich gelten, daß auch später eine langfristige Verständigung unserer beiden östlichen Nachbarn über die Zerlegung des Balkangebietes in Interessensphären durch Vermittlung des Kanzlers möglich gewesen wäre, wie sie der damaligen, inzwischen gründlich veränderten Lage entsprach. Das Desinteressement Rußlands an den Gebieten zwischen der Adria und der bulgarischen Grenze war noch bis in weit spätere Zeit alles, was Österreich im Interesse seiner Existenz verlangen mußte. Darauf einzugehen, hat sich Rußland erst später durch sein Engagement in Serbien außerstande gesetzt. Sich aus gefühlspolitischen Motiven an Punkten zu engagieren, bis zu welchen aus politisch-geographischen Gründen die eigenen Machtmittel nicht mit Sicherheit reichen, führt sehr leicht, zu solchen für das Prestige bedenklichen Fehlschlägen, wie wir sie bei unserer Burenpolitik erfuhren und wie sie den Russen für ihre Serbenpolitik jetzt im größten Maßstab zuteil werden. Nicht nur und letztlich nicht einmal vornehmlich die Entstehung starker wirtschaftlicher Interessen Deutschlands in Kleinasien und Mesopotamien, sondern sehr wesentlich dies rein politische Hinausdrängen Rußlands über seinen natürlichen Aktionsradius hat Gegenaktionen Deutschlands im Orient und jetzt die für Rußland so peinliche Kampfgemeinschaft mit der Türkei und Bulgarien ins Leben gerufen. Über die rein wirtschaftlichen Interessen wäre eine Verständigung gerade mit Rußland nicht schwer gewesen. Das starke politische Engagement, welches jetzt das aus politischen Motiven entstandene Bündnis für uns mit sich bringt, hat alle Voraussetzungen der Bismarckschen Politik endgültig verschoben. Diese und ihre scheinbaren Widersprüche beruhten auf der Annahme, daß 1. wirkliche Interessengegensätze zwischen uns und Rußland nicht vorliegen, daß vielmehr 2. Interessengemeinschaft zwischen Rußland und uns infolge der Teilung Polens bestehe und immer bestehen werde. Das polnische Problem war einer der Angelpunkte seiner Politik. Es beherrschte seine Außenpolitik gegen Osten durchweg und seine innere Politik im Kulturkampf und auch sonst in sehr entscheidender Art. Die Polen waren ihm die Landesverräter schlechthin kraft unausrottbarer Eigenart, wie sie es für die Russen seit Nikolaus I. gewesen waren. Auch wer dieser Ansicht absolut fernstand und die von Anfang an ganz verfehlte antipolnische Sprachenpolitik in Preußen ablehnte, konnte unter den früheren Verhältnissen schwer umhin, für die preußische Siedlungspolitik im Osten und gegen die Zulassung der polnischen Arbeiter in Deutschland einzutreten. Die unvermeidliche Konkurrenz der Nationalitäten und nationalen Kulturen im Osten wollte man nicht dem Prinzip der billigsten Hand im Kampf um Bodenbesitz und Arbeitsmarkt unterstellt sehen. Das Verschwinden des loyal preußischen Beamtentums polnischer Herkunft war eine unangenehme Begleiterscheinung der Art, wie seit Bismarck der Kampf geführt wurde.

Diese Lage ist völlig verändert. Zunächst durch eine Entwicklung im deutschen Polentum, welche es nicht mehr zuläßt, nur von der »billigeren Hand« zu reden. Dann durch die jetzt entstandene politische Lage Deutschlands gegenüber den Polen. Nicht nur darf eine deutsche Regierung unter gar keinen Umständen öffentliche Versprechungen gemacht haben, die nicht zur Wahrheit werden, wie dies in Rußland nach dessen Eigenart immer wieder unvermeidlich geschehen wird. Sondern vor allem weist die Gewalt der Tatsachen beide Nationen für die Zukunft aufeinander hin. Während England unseren Handel und Überseebesitz, Frankreich die Integrität unseres Landbesitzes bedrohen kann, ist Rußland die einzige Macht, welche im Fall des Sieges, wie die polnische, so auch die deutsche Nationalität und politische Selbständigkeit in ihrem ganzen Bestande zu bedrohen in der Lage wäre. Das wird in Zukunft vermutlich in steigendem Maße der Fall sein. Die Frage, wie die Verständigung mit den Deutsch-Polen in den bisherigen Streitpunkten gestaltet werden kann (z.+B. etwa: Abgrenzung von lokalen Siedlungsgebieten für jede Nationalität), kann jetzt und hier nicht behandelt werden. Sicher ist nur, daß die Aufgabe vor uns steht. Erst recht nicht könnte die künftige Politik den außerdeutschen Polen gegenüber hier erörtert werden. Sicher ist nur, daß dies die wichtigste aller zwischen uns und Österreich-Ungarn zu regelnden Fragen ist, und daß darüber vor Eintritt in die Friedensverhandlungen Einigkeit erzielt sein muß.

Die Bismarcksche Staatskunst würde sicherlich Nachdruck darauf gelegt haben, 1. daß eine Umgebung Schlesiens durch das Gebiet eines einheitlichen, sei es auch noch so fest befreundeten Staatswesens wirtschaftlich und politisch-geographisch nicht annehmbar sei, außer bei Herstellung solcher Beziehungen, welche jede Zwiespältigkeit der beiderseitigen Wirtschafts- und Gesamtpolitik dauernd ausschließen würden, 2. daß wenigstens im Nordosten die technischmilitärische Sicherung einer etwaigen Grenze Mitteleuropas gegen Rußland durch Garnisonen und strategische Verkehrsmittel nur in unserer eigenen Hand liegen könne. Andernfalls würde sie es abgelehnt haben, die Feindschaft des russischen Nachbarn von dessen anderen Gegnern ab- und auf uns allein zu ziehen, wie es jetzt geschieht. Welche Formen Bismarck etwa hätte vorschlagen können, um die von ihm in allgemeinen Wendungen befürwortete Umwandlung des Bündnisvertrages in eine verfassungsmäßige Verbrüderung durchzuführen, kann man nicht wissen. Den bloßen formalen Akt einer Genehmigung durch die Parlamente kann der Verächter des Parlamentarismus schwerlich im Auge gehabt haben, obwohl er nur davon spricht. Das Bündnis als solches steht auch ohne solchen Formalakt fest genug. Denn eine Bedrohung der Großmachtstellung Österreich-Ungarns wird auch in Zukunft uns veranlassen, das Schwert zu ziehen. Es sei denn, daß dessen eigene Politik uns jemals das Gegenteil direkt aufzwingen sollte. Ein solcher Selbstmord ist nicht zu gewärtigen. Das Interesse unseres Bundesgenossen an der Erhaltung unserer Machtstellung bleibt jedenfalls dauernd ebenso stark wie das entsprechende Interesse bei uns.

Die Stellung der Deutschen und der westslawischen Kulturvölker zueinander wird durch die politischen Folgen des Krieges von Grund aus umgestaltet werden müssen und einer solchen Umgestaltung auch fähig sein. Erstmalig ist erst jetzt diesen Völkern bewiesen worden, daß es gegenüber der ihnen allen drohenden Verwandlung in russische Fremdvölker überhaupt eine Macht gibt, die im Verein mit ihnen selbst ihre nationale Selbständigkeit gegen Rußland zu garantieren in der Lage ist. Eine der Grundlagen ihres bisherigen Verhaltens war der fatalistische Glaube an die Unvermeidlichkeit einer Entfaltung der russischen Macht ins Grenzenlose. Es wird nun darauf ankommen, ihnen auch die Sicherheit beizubringen, daß sie statt der russischen keine deutsche Vergewaltigung zu befürchten haben. Unser Interesse gestattet und fordert ihre unbedingte Kulturselbständigkeit auf dem Boden zweckmäßiger Abgrenzung nationaler Wirkungsgebiete nach rein sachlichen politischen Gesichtspunkten, und das heißt: unter Ausschaltung nationaler Eitelkeit unsererseits. Soweit dabei andere Nationalitätsfragen als die polnischen in Betracht kommen, sind diese formell eine innere Angelegenheit unserer Verbündeten. Ihre möglichst schleunige Lösung ist allerdings auch für unsere weitere Politik von entscheidender Wichtigkeit, ohne daß wir ihnen doch irgendwie hineinzureden hätten. Eine Annexion polnischer oder anderer slawischer Gebietsteile durch uns hätte Bismarck sicherlich abgelehnt.

Was Rußland selbst anlangt, so weiß jeder: daß die vorläufig kaum überbrückbare Gegnerschaft, in welche wir zu diesem Land geraten sind, von unserer Seite durchaus unfreiwillig war. Es ist Bismarcks Lebensarbeit trotz aller Anstrengungen nicht gelungen, ihr Entstehen zu hindern. Auch nicht durch den Rückversicherungsvertrag, der zwar den formellen Abschluß der Allianz mit Frankreich hinausschob, nicht aber die politische Haltung Rußlands uns gegenüber in ihren Grundlagen änderte. Bismarck rechnete stets nur mit der Regierung des Zaren selbst. Innerhalb weiter Grenzen natürlich mit vollem Recht. Aber die polizeilichen Gefälligkeiten, welche der russischen Regierung im Kampfe gegen ihre inneren Gegner von uns dargeboten wurden, entsprangen nicht einem eigenen sachlichen Interesse unseres Staates und waren kein Mittel, auch nur den Respekt der russischen Machthaber uns zu erhalten. Deshalb waren sie unklug. Bei den Reformpolitikern stärkten sie den Glauben: Deutschland sei der eigentliche Feind einer freiheitlichen Entwicklung Rußlands, ja sogar: es würde gegebenenfalls gegen eine solche intervenieren, zu einem ebenso unsinnigen wie schwer ausrottbaren Dogma. Zu schwach, in ihrem eigenen Hause auch nur die elementarsten Forderungen nach einer festen Rechtsordnung und garantierten Freiheitssphäre durchzusetzen, geriet die enttäuschte russische Intelligenz im Suchen nach einem Halt für ihr gebrochenes Selbstgefühl in den Dienst einer phrasenverhüllten, nackten Expansionspolitik. Die von ihr verabscheute, dem Sinne nach westeuropäische Agrarreform der Regierung suchte die Bauernschaft von den altnationalen Bauernidealen abzulenken und ihren Landhunger für die gleiche Politik einzuspannen. Einmal in den Krieg hineingetrieben, glaubte die Regierung des Zaren, aus Angst vor Prestigeverlust und, in dessen Gefolge, einer neuen Revolution es nicht wagen zu können, rechtzeitig mit uns einen ehrenvollen Frieden zu schließen, der sehr wohl möglich gewesen wäre. Denn wir hatten keinerlei Interesse daran, russischen Bedürfnissen da in den Weg zu treten, wo sie nicht Lebensinteressen von uns oder unseren Verbündeten: Österreich-Ungarns, der Türkei und jetzt Bulgariens bedrohten. Bei rein sachlicher Behandlung war ein Ausgleich durchaus nicht ausgeschlossen. Jetzt kann nur die Zukunft lehren, wie sich, die russische Politik weitergestalten wird. Ihr Ausdehnungsehrgeiz und der Eifer der Intelligenz für die Beglückung fremder Nationen stand und steht mit den ungelösten Kulturaufgaben im eigenen Lande in schreiendem Kontrast. Und in diesem Fall hat sich das einmal gerächt. Eine der wichtigsten Erfahrungen dieses Krieges ist es bisher gewesen: daß die bloße Masse und Zahl, so wenig sie militärisch gleichgültig ist, doch nicht entscheidet. Entgegen den Annahmen, die bei uns verbreitet waren, haben sich die zivilisierten Heere den Barbaren- und Analphabetenheeren qualitativ stark überlegen gezeigt. Bei Fortsetzung der bisherigen Taktik würde Rußland wirtschaftlich dauernd außerstande bleiben, durch Zivilisierung seiner Bauernmassen die Voraussetzungen für ein Qualitätsheer zu schaffen. An einer großen Zukunft der russischen Nation zu zweifeln, hat niemand, der sich mit ihrer Eigenart beschäftigt hat, Grund. Aber in der Gegenwart führt ihr Weg nicht in dieser Richtung. Die russische Intelligenz hat ihre alten Ideale über Bord geworfen. Sollte der Deutschenhaß, den der Krieg bei ihr nicht erst erzeugte, aber ins Unsinnige steigerte, dauernd fortbestehen – und dies ist nach ihrer Haltung nicht unwahrscheinlich –, dann allerdings bleibt uns nichts übrig als die einfache praktische Konsequenz: suchen wir diesen Haß, im Gegensatz zu unserer bisherigen offenbar ganz nutzlosen Deferenz, wenigstens wirklich zu verdienen. Es wird in den Friedensbedingungen hoffentlich Anlaß genommen werden, allen russischen Deutschen das Abwanderungsrecht mit vollem Entschädigungsanspruch zu sichern.

Wenn so in zahlreichen Einzelpunkten und in der äußeren Gesamtlage die meisten Voraussetzungen der Bismarckschen Politik sehr stark verschoben sind, so können manche ihrer allgemeinen Maximen voraussichtlich für jede sachliche deutsche Politik als dauernd maßgebend gelten.

Zunächst solche formeller Art. Bismarck hat stets daran festgehalten, daß die Armee den Krieg führt, und zwar nur nach strategischen Rücksichten, daß aber den Frieden der Staatsmann macht. Unter gebührender Berücksichtigung der militärischen Erfordernisse, aber auch im Bewußtsein, daß die Interessen des Landes nach dem Kriege für vielleicht (hoffentlich!) sehr lange Zeit nur durch die friedlichen Mittel der Politik wahrgenommen werden können und sollen. Es ist unmöglich, bei jedem der zahlreichen, je für sich allein nicht lebenswichtigen Interessengegensätze, die auftauchen, erneut und ausschließlich an die Waffen zu appellieren. Eine Politik, die lediglich über diese Mittel verfügte, wäre praktisch so gut wie matt gesetzt. Für die nächste Zukunft ist nach der Erbitterung des Krieges die Fortdauer naher Beziehungen zwischen unseren Gegnern das Wahrscheinlichste, so radikal entgegengesetzt ihre Lebensinteressen in vielen Punkten sind. Aber infolge dieser Gegensätze wird auch diese höchst unnatürliche Koalition das Schicksal aller ihrer Vorgänger teilen. Jede künftige Außenpolitik setzt dann ein gewisses Minimum von Bewegungsspielraum der Zentralmächte in der Wahl ihrer künftigen Stellungnahme zu den verschiedenen jetzigen Gegnern voraus. Die rein militärisch wünschbarste Lösung einer Frage ist daher nicht immer auch die politisch günstigste. Aus manchen Äußerungen Bismarcks aus den Jahren 1870/71 ist zu schließen, daß er nicht immer richtig über das militärisch Zulässige und Mögliche informiert war. Er selbst hat damals ebenso wie schon 1866 seine Stellung zu den militärischen Autoritäten als einen fast beständigen unvermeidlichen Kampf aufgefaßt. Dies wird sich zweifellos nicht wiederholen.

Wenn etwas die sachlichen Ziele der Bismarckschen Politik auszeichnete, so war es das Augenmaß für das Mögliche und politisch dauernd Wünschbare, gerade auf den höchsten Höhen berauschender militärischer Erfolge. Sein Verhalten im Jahre 1866 freilich könnte nur in schiefer Art als unmittelbar übertragbar auf die ganz andersartigen Beziehungen zu unseren jetzigen Gegnern angewendet werden, zu welchen uns die Bande der Nationalität und Tradition fehlen. Dauernd anwendbar ist aber das Prinzip. Es widerstreitet auch heute den deutschen Interessen, einen Frieden zu erzwingen, dessen hauptsächliches Ergebnis wäre: daß Deutschlands Stiefel in Europa auf jedermanns Fußzehen ständen. Das wäre das Ende einer sachlichen deutschen Außenpolitik sowohl innerhalb wie außerhalb Europas. Und bleibende Wahrheiten stecken vor allem auch in jenen Ausführungen der »Gedanken und Erinnerungen«, welche vor dem Außerachtlassen der, in Bismarck Redeweise: »von der Vorsehung«, in der unsrigen: durch historische Schicksale, dem heutigen Deutschland mit auf den Weg gegebenen politisch-geographischen Bedingungen und Schranken und vor einer unsachlichen Politik der nationalen Eitelkeit warnen. Deutschlands Ehre an Punkten zu engagieren, zu denen unsere Machtmittel entweder gar nicht oder nur bei gutem Willen allzu vieler anderer hinreichen, kann im großen zu politisch ähnlichen Situationen führen, wie Preußen sie im kleinen beim Abfall Neuchâtels erlebte. Es bestehen unzweifelhaft starke deutsche Interessen im Orient und noch stärkere werden entstehen. Unseren jetzigen und, wie bestimmt zu erwarten ist, bleibenden Verbündeten dort wird an materiellen, technischen, geistigen Hilfsmitteln, über welche Deutschland verfügt, alles das zu Gebote stehen, was sie selbst für sich für brauchbar halten; eine Politik des Aplombs aber, der Aufdringlichkeit und Eitelkeit wird deutscherseits zweifellos streng vermieden werden. Die deutsche Unterschätzung der Form erstreckte sich bei uns gelegentlich, und dann stets zum Nachteil, auch auf das Gebiet der Politik. Auch dort aber ist in hohem Maße wichtig nicht nur, was geschieht, sondern auch wie es geschieht.

Bismarcks Politik hatte nicht seinen Worten, aber seinen Taten nach das Ideal des deutschen Nationalstaats zur Voraussetzung. Seine Polenpolitik war der Ausdruck dessen. Wenn unter dem Eindruck unserer neuen Aufgaben die Vorstellung aufgetaucht ist: die »Nationalität« sei nun in ihrer Kulturbedeutung durch den »Staatsgedanken« abgelöst oder ablösbar, so ist das ein Mißverständnis. Alle Kultur ist und bleibt heute durchaus national gebunden, und zwar nur immer um so mehr, je »demokratischer« die äußeren Kulturmittel nach Verbreitung und Art werden. Aber der Staat muß nicht notwendig ein »Nationalstaat« in dem Sinne sein, daß er sein Interesse ausschließlich an den Interessen einer einzelnen, in ihm vorwiegenden Nationalität orientierte. Er kann den Kulturinteressen mehrerer Nationalitäten dienen, auch im eigenen wohlverstandenen Interesse der in ihm vorwiegenden Nationalität. Gemäß den veränderten Aufgaben ist heute auch im Kulturinteresse der deutschen Nationalität zu fordern, daß unser Staat sich dieser Aufgabe steigend zuwende. Wenn dann der russische Staat durch unser Verhalten veranlaßt werden sollte, den in seinem Verbande bleibenden Fremdvölkern um der »Konkurrenz« willen dasjenige Maß von »Kulturselbständigkeit« zu gewähren, welches Dragomanow und ähnlich gerichtete Politiker vor 50 Jahren an die Spitze ihrer Reformprogramme stellten, so wird dadurch Rußlands Macht gewiß nicht sinken, vielleicht aber sein von der Bürokratie und der einseitig großrussischen Legende getragener Expansionszwang sich abschwächen. Denn die ukrainischen und lettischen Bauern werden, je mehr sie national erwachen, desto weniger die Verwendung ihres Landes zur Befriedigung des Landhungers großrussischer Bauern ertragen, und die nationalen Intellektuellenschichten dieser Völker des russischen Westgebiets werden nicht an uferlosen nackten Machtidealen hängen, welche ja nur dem Herrenkitzel der Petersburger und Moskauer Beamten zugute kämen.

Deutlicher als jetzt wird die Welt dann erkennen können: bei wem »die Interessen der kleinen Nationalitäten«, die unsere Gegner, nachdem sie Indien, Ägypten, Nordafrika, Persien, die Kaukasusvölker, die Polen, Kleinrussen, Letten, Finnen, Gibraltar, Malta, den Dodekanes usw. geknebelt haben, im Munde führen, Rücksicht und Förderung finden.


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