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Am Schwarzen See

Wie ein Gesalbter stand der Osser, alle anderen Höhen waren ihm untertan. Seine zerfressenen Zinnen warfen gewaltig ihre Schatten in die Tiefe.

Jakob Pütrich, Herr von Reichertshausen, hatte sich todmüd auf einen Block gesetzt und sah nun stumpf über die Trümmerstätte des Windbruches, den er mit seinem Gefährten eben überklettert hatte.

Zur wüsten Höllenfastnacht lagen die dürren Ronen durcheinander gewirrt, mächtiges Gewurzel hielt Erde und Stein wie mit wahnsinniger Faust schleuderbereit umballt. Hie und da ein verlorner Felsblock, grau und trotzig, als wär er des Teufels Predigtstuhl. Dann wieder ragende Reste von Baumburgen, in Übermannshöhe geknickt und das Holz zu rotem Mehl vermodert, derweil auf den urgewaltigen Leichen bereits Bäumlein wuchernd hockten, vom Aase gefallener Ahnen zehrend.

»Ich kann nicht mehr weiter«, ächzte Pütrich. »Mein Schienbein ist zerschunden, die Knie sind mir mürb, aus dem Schuh rinnt das Blut.«

Sie hatten all ihre Kraft anspannen, ihren eisernsten Manneswillen aus der Seele holen müssen, dass er die versagenden Glieder aus der Tannenschlucht über das Geröll des endlos steigenden Talschlusses hinaufpeitschte. Oft hatten sie verzweifelt innegehalten und den Geschmack des Blutes gespürt, das ihnen die weit über gewohnte Kraft hinaustürmende Anstrengung in den Mund getrieben. Oft hatte Pütrich heulend seinem gepeinigten Körper den jähen Tod gewünscht.

Nun saß er in dumpfer Müdheit auf dem Gebirgsjoch. Sein Gewand war zerlumpt, der Schweiß floss ihm in Sturzbächen durch die Raufschrammen auf seiner Stirn und durch die Runsen, die ihm arges Nadelgezweig ins Gesicht gemarkt hatte.

»Ich kann nicht mehr. Lasst mich verrecken!« wiederholte er.

»Da stehen wir nun ratlos wie verstiegene Steinblöcke«, sagte der andere. »Der Wald scheint kein Gestad zu haben, er wuchert endlos. Aber wir müssen weiter, die Sonne geht in die Berge, und wir wollen nicht im hohlen Baum die Herberg nehmen.«

Er deutete gegen die Abendbesonnung, die breit über den gebrochenen Wald fuhr und in Krebs und Armblech der wildnisverschlagenen Kreuzfahrer feurig aufleuchtete.

»Drei Tage schon auf dem Weg! Der Schweiß beißt mir die Haut wund, ich krumme wie ein bloßfüßiger Gaul«, klagte Pütrich wieder. »Lasst mich da heroben sterben!«

Barhaupt und aufrecht stand der andere Mann vor ihm, mit verworrenem braunen Bart, mit grauen Locken, deren eine ihm über die Stirn herabhing, das rechte Auge hehlend.

»Rafft Euch auf! Der Bergsattel ist erklommen, plagloser sinkt unser Weg ins Getal hinab. Wollt Ihr hier verenden«, – und dies fügte er lächelnd hinzu – »noch ehe das Buch vom Zwerge Laurin Euer worden ist?«

Den Pütrich riss es in die Höhe, als wär ihm ein eherner Morgenstern ins Geripp gedrungen.

»O du Laurinsbuch, o Rosengartenlied! Wie konnt ich nur dein vergessen! Gehen wir, tanzen wir! Ich fühle neues Blut in mir wachsen, der steinige Weg wird weich, meine Fersen schreiten wie auf milder Wolke, sie tragen mich dem Laurinsbuch entgegen!«

Drüben hatte fernes Gebirg die Sonne hinuntergewürgt. Nur auf dem Osser lag es noch hell, ein vergessenes Lächeln.

Die Waldgänger zogen niederwärts und mussten wiederum geknicktes Gestänge umgehen, gestürzte Stämme übersteigen und in schwerem Moose waten unter den Kronen der Fichten, die hoch über sie zusammengriffen.

Links und rechts aber hörte man es trippeln und gluckern, quirltänzelnd glitzerte ein Wasserfädlein gleich einer Waldschleiche vorüber und verhuschte sich wieder in die Tiefen der Wildnis, die von beiden Seiten so nahe zusammenrückte, als wolle sie die versprengten Leute zermalmen.

Voll Gier fielen die beiden über den Brunnen her, sie tranken wie durstende Hirsche.

Und weiter holperte der pfadlose Weg, über Dürrgeäst prasselnd, durch starrendes Nadelwerk sich zwängend, vorbei an Bäumen, die im Schneedruck des harten Tiefwinters ihre Schnellkraft verloren hatten und die Äste hängen ließen wie schlaffe Arme, vorbei an Hochfichten, deren Schäfte steigend sich im verdunkelten Kronenwerk verkrochen. Felsdurchstreute Lichtlöcher taten sich auf, wo die Eberesche funkelnd ihre Scharlachtrauben zur Schau bot.

Durch einen wuchtigen Waldriss sah man die Talung im Dämmer versponnen. Steinern und müßig stand die Ruhe der Fernen gegen die unrastvolle Verwirrung der nahen Dinge ab.

Das Licht der vergangenen Sonne zögerte nur noch im fernen Himmel, im letzten Höhenrot wandelte das Gewölk.

»Die Wolke zieht uns den Taus nach. Sie ist verdampftes deutsches Blut«, sagte der Barhäuptige traurig, »sie wird Blut regnen.«

»Sie ist ein Landstreicher, obdachlos und zerfetzt wie wir«, erwiderte Pütrich und starrte aufwärts.

Dabei verfing sich sein Fuß in einer Wurzel, die wie eine Schlinge über dem Boden sich hob, und der schwere Mann fiel schwer und klirrend zur Erde.

»Der Baum hat mir ein Bein gestellt, der Tückebold!« schrie er. »O wär ich heraus aus diesem Lustgarten des Teufels!«

»Und wenn Ihr schreit mit des Jochgeiers Stimme, es nutzt nichts«, sagte der andere. »Werdet nur nicht wieder zagmütig! Es ist doch Euer Wille gewesen, dass wir jetzt mitten im Wald stehen.«

Pütrich erhob sich mühsam.

»Ja, ich hab es so wollen. Und das Buch, darnach es mein Gemüt gelüstet, muss mein sein, und sollt ich bloßfüßig durchs Fegfeuer reisen. O, Ihr wisst nicht, Herr Oswald vom Wolkenstein, dass mir das Herz im Leib wie ein fürwitzig Jungrössel stampft, wenn ich des Laurinbuches denke!«

Der Wohlgeruch harziger Rinden geudete sich der Luft. Eines sommerversiegten Wildbaches Bett nahm die Schritte der Männer auf.

Der Reichertshauser aber hatte seiner elenden Müdheit vergessen.

»Meine Freude begreift nur, wer meine Bücherkammer sieht. Wie sie sich in den Truhen reihen, die Mönchsbände, schwerbäuchig und ungefüg! Den Leib haben sie in wurmstichige Schwarte geborgen, in Birkenrinde und Pergament. Da sind Bücher mit Messingbuckeln, mit eisernem Gesperr. – Da ist ein eherner Band mit einem Lindwurmschloss, ‚Parzival', das schönste deutsche Buch. Das Schloss davon hab ich neidisch gesperrt, den Schlüssel trag ich d unterm Blech auf der Brust« – dabei wies er ein Schlüsslein vor, wunderlich geschmiedet, mit einem Bart wie ein Erzvater – »Ross und Schild hab ich verloren, den Schlüssel entreißt mir kein Hussenheer.«

»Dann ist es also wahr«, fragte der Gefährte, »dass Ihr an die hundert Bücher Euer eigen nennt?«

Pütrich hob prahlerisch die Stimme: »Ich hab hundertsechzig Bücher.«

Es war eine hohe Zahl, und der Wolkensteiner konnte darob sein Verwundern nicht bergen.

»Das hat Euch wohl schwere Münz gekostet?«

Ein behaglich-grimmes Grinsen wühlte sich in die bartleeren Züge des Büchersammlers, altes, angenehmes Erinnern erstand ihm wieder.

»Vierzig Jahre bin ich darum geritten von Italia bis gen die dänische Mark und weit in die ungrischen Länder hinab. Gekauft hab ich wohl manch Büchlein, doch sind sie auch auf andere Art mein worden: etwelche hab ich mir selber abgeschrieben, andere hab ich erkobert durch Leihen, Stehlen und Rauben, die meisten aber hab ich – gefunden.«

Der Wolkensteiner lachte hell auf.

»Die Bücher müssen sie einmal in meine Gruft tun«, fuhr Pütrich unbeirrt fort. »Wenn der Mond recht gelb hineinleuchtet, setz ich mich im Sarg auf und lese.«

»Der Kanzler Rösler in München hat mir von Eurer Bücherhamsterei berichtet«, sagte der andere, »und ich begreife jetzt, dass Ihr um des Buches willen die Fahrt durch dies wilde Gebirg nicht fürchtet.«

»Längst hätt ich mir es geholt, wär nur der Hussenkrieg nicht in dieQuer gekommen. Der Graf vom Degenberg, Hans Gewolf, verwahrt es auf seiner Burg am Weißenstein, so hat es mir der Kanzler Rösler verraten. Der Degenberger wird es mir schenken, sonst« – Pütrichs Stimme ward hart – »sonst ertret ich ihn.«

Dunkler war die Luft geworden, die Welt erblindete. Die versprengten Männer schritten unsicher dahin. Verzerrte Baumformen drohten ihnen weglagernd wie Schächer entgegen mit lauernd vorgebognem Leib.

Über den Wanderern hing zwischen den Wipfeln ein schmaler Himmelsstreif. Hell glomm der Tierstern und lockte den Uhu aus dem Schlupf.

»Das Laurinsbuch ist in rotes Elchsleder gebunden«, setzte Pütrich fort. »Ein Mönchsbruder von Rinchnach hat es geschrieben. Zwischen blauem und rotem Wurmzierat soll er in den ersten Buchstaben ein lieblich Kleinbild gemalt haben: des Zwergkönigs Krönlein, darin die Vögel schlagen. In rotes Elchsleder ist es gebunden, ich hab ihm aber einen köstlicheren Panzer geben wollen. – Ihr wisst, Wolkensteiner, dass die Hussen die Haut ihres Feldhauptmannes, des einäugigen Zischka, auf die Trummel geschraubt haben, des Kaisers Heerschar mit bösem Zauber zu zerspreuen. Die Trummel hab ich erstreiten wollen, in Zischkas Haut hätt ich das Laurinsbuch binden lassen.«

»Ihr seid ein Narr«, erwiderte Oswald, »und ich bin eines Narren Leibknecht. Da renne ich mir wie eine stöbernde Bracke die Zunge aus dem Schlund, d folg ich Euch auf blutfremdem Weg und sollte mich doch nach dem verlorenen Krieg mit Schanden verklüften in meiner Burg in Tirol.«

Pütrich sah finster wie ein Femschöffe darein, Schmerz und Wut überkamen ihn.

»Vor den Hussen sind wir gerannt, wir gewaffneten Hasen. Zerhaut uns das Schwert, bespeit uns das Wappen!«

Ein schwarzer Vogel lag flügelsiech im Geröll. Den Reichertshauser verdross es nicht, sich der unbändig mit dem Geschwing schlagenden Krähe zu bemächtigen. Er riss ihr eine Feder aus, steckte sie in den Lederhut und gab dem Tier den Gnadentritt.

»Des Aasvolgels Feder will ich zur Sühne tragen«, schrie er, dass das Wildbret in der Dickung rege ward und beunruhigte Flügel sich rührten.

Der Minnesänger aber hob die Stimme, dass sie durchs dunkelwild Land schwoll.

»Gott muss vor uns fechten
Soll der Huss vergehn,
Von Pfaffen, Rittern und von Knechten
Ist es nicht geschehn.«

Die Sommernacht ward reif. Aus dem Wald sprang ein Bach, flimmernd verschlang er das Geröllbett und zog dann hastig uns satt dahin. Neben ihm ward ein halbverwischter Steig sichtbar, die Nähe eines Gehöftes kündend.

Die Kreuzfahrer waren aber zur Freude zu müd. Ihre wunden Sohlen gingen wie auf Stachelkolben, stumpf knüpften sie Schritt an Schritt. –

Waldumfriedigt, in schwerer, traulicher Verlorenheit war das kleine Gereut. Ein Schlotholzbau, schief und greis, trug sein besteintes, übermoostes Breitdach wie einen allzu großen Hut. Darüber rage, ein uralt-treuer Wärtel, eine Fichte. Und auf dürrer Stange hing ein Rossschädel, dessen aufgerissenes Maul zahngleißend in den Mondschein gähnte.

Pütrich drückte die Tür des Einödwesens auf und ließ den Mond hinein.

Ein Mensch erhob sich, einen Holztremmel fassend, vom Lager und fletschte die Zähne fas wie der Rosskopf draußen.

»Leg dich, Waldgeist!« drohte Pütrich den Einöder an.

Der aber trat, zum Hieb ausholend, gegen die Schwelle. An seinem Kinn wackelte ein Bart, grau und lang wie eine Baumflechte.

»Schmeiß den Knüttel weg!« begütigte der Wolkenstein. »Wir sind keine langschädlichen Männer, wir sind verirrt und matt.«

»Schaff uns zu essen!« klagte Pütrich. »Mir schlottert das Ingeweid im Bauch, dürsten tut es mcih wie einen heißen Stein.«

»Der Brunn ist unterm Baum. Sauft und rennt weiter!« knurrte misstrauisch der Bärtige.

»Was fürchtest du uns?« fragte der Wolkensteiner. »Wir beißen dir von deiner Hütte nichts ab. Jag uns nicht in den schwarzen Wald!«

So kam der Einsiedler vor die Tür, und die beiden sagten ihm nun von ihrem schweren Wandern und ihrem Reiseziel, dem Weißenstein.

»Da seid ihr schon auf Degenberger Grund«, entgegnete der Alte. »Ich bin der Wulfenscheuch und gehör dem Grafen. Der hat den Bann über Wald und Wasser da. Das Tal ist der Donnerwinkel, und der Berg dort droben« – er deutete auf einen ungetümen Schatten – »der heißt Osser.«

Der Alte schien die zerfetzten Gewänder und die wüste Zerfallenheit in den Mienen der Fremden vergessen zu haben, er brachte ihnen Dürrfleisch und Haferbrot, er nötigte ihnen das spärliche Rüstzeug, das sie noch hatten, vom Leib und zog ihnen sanft die Schuhe vom verschwollenen Fuß.

»Du gehörst also dem Degenberger?« fragte Pütrich kauend. »Liegt denn der Weißenstein noch weitab?«

»Zwei Tage müsst Ihr noch gehen, auf der Eisenstraße.«

»Und bist du schon auf der Burg gewesen?«

»Jeden Winter bin ich dort.«

Jetzt buhlten Pütrichs Worte, sie kamen weich und schmeichelnd wie von einer Mädchezunge.

»Und hast du nicht dort ein rotes Buch gesehen?«

Wulfenscheuch schwieg. Seine Augen standen ratlos

Voll Ungeduld und nachdrucksam wiederholte Pütrich die Frage. »Ein Buch in rotem Hirschleder?«

»Buch – Buch – Buche –?« – Tastend suchte sich der Einöder dies Wort zu enträtseln. »Meint Ihr den Baum im Wald?«

»Ein Buch!« brüllte Pütrich. »Ein Buch, das Laurinsbuch!«

Wulfenscheuch schüttelte den Kopf, dass der Bart rauschte.

»Derartig Ding, was Ihr da vorgebet, ist mir mein Lebtag nit kund gewesen. Ich hab das Wörtel noch nie gehört.«

Der Ritter staunte wie ein Steinerner. Dann aber griff er dem Alten in den Bart.

»Du lügst! Rede die Wahrheit! Das kann nicht sein! Red oder ich reiß dir den Bart vom Maul!«

»Auslassen, sag ich!« Und erbittert über den schimpflichen und groben Eingriff in seinen Bart, verschwor sich Wulfenscheuch: »Ich hab das Ding nie gekannt, ich kenn es nit, und ich werd es nie kennen!«

»Da fetze das blaue Feuer drein!« Pütrich starrte den Alten an wie ein indisches Wundertier. »Und du willst ein Mensch sein? Und kennst nicht das Wort ‚Buch'?!«

Der Wolkensteiner unterbrach ihn, er wandte sich an den Alten.

»Es muss noch einer in der Hütte drin sein, ich hab es rascheln hören.«

»Mein Knecht ist es, der Prokop. Im Frühjahr hat er sich zu mir gefunden. Er hilft mir, die Fischwasser besuchen und Waben holen aus dem Zeidelwald. Und auch Wildbret schaffen für meinen Bratspieß.«

»Dass bei dir ein Knecht bleibt in der großen Öde!«

»Der Prokop ist halt ein wunderlicher Mann«, meinte Wulfenscheuch, »er redet nit, er ist so still, als wär er aus der Ewigkeit zurück kommen! – Aber nit immer ist es so öd bei mir. Erst am verschienenen Erchtag hat der Graf seinen Wald umritten, im Donnerwinkel ist er dem zinnober-edlen Hirschschweiß nachgegangen. Und morgen kommt er wieder her mit seiner Tochter.«

Den Richertshauser schüttelte ein Fieber, er tat den Mund zur Frage auf, presste ihn aber trostlos wieder zusammen. Zwischen ihm und dem Wulfenscheuch gab es keine Brücke.

Oswald war indes zur Tür gegangen und sah hinein.

Da stand der Knecht Prokop. Er musste gelauscht haben.

Vor dem Fremden schrumpfte sein dürrer Wuchs in Demut zusammen. Aber seine Augen hatten sich schief gelauert, er konnte sie kaum zurecht drehen. Herabhängendes Haar machte die niedere Stirn noch enger. Die Nase war klein, und starke Backenknochen machten sein Gesicht roh.

»Ein rechtschaffenes Hausschrätel!« lächelte der Ritter.

Des Knechtes Gestalt ward noch unterwürfiger, er kauerte fast im Stehen.

»Prokop, warum redest du nichts? Bist du ein Husse?«

Der Slawe zuckte zusammen. Dann richtete er sich höher auf wie in erwachtem Stolze. Sein Blick aber, zum Lauern geschaffen, starrte unverwandt nach der Locke, die des Ritters Auge überschleierte.

Da näherte sich der Wolkensteiner. Das Antlitz ins starke Mondlicht wendend, hob er das hüllende Haar – und Prokop sah in eine leere Höhlung.

»Zischka!« flüsterte er, wie vor einem Geiste zurücktaumelnd. –

Gottfriedsam lag das verlorene Gereut.

In Gras und Mondschein entschlummerte der Wolkensteiner bald. Pütrich aber fand lange den Schlaf nicht. Und einmal seufzte er halblaut auf: »Da Buch muss ich kriegen, und müsst ich Krötengespeich fressen!«

Ein rosenfeines Frühwölklein zog.

Duftender Waldmorgen rings. Und alle Helligkeit schien von Elfrun auszugehen, die jung und hold war wie des wilden Kirschbaumes Blütenreis.

Sie weilte mit dem Wolkensteiner am Saume der Rodung.

»Ich glaube, mein Vater kommt auch morgen nicht«, sagte sie, »das Gerücht von dem Hussensieg gibt ihm allzuviel zu tun. Mich hätt er schier nicht in den Donnerwinkel reiten lassen.«

»Ihr seid in fester Hut.« Der Ritter deutete auf die mannharten Gestalten der zwei Armbruster, die mit Elfrun gekommen waren und nun beim Odhaus auf Stangen, Astwerk und Reisig eine Hütte für die Herrin flochten.

»Das Gebirg ist ein rauer Dornzaun«, entgegnete das Fräulein, »über den Wald kommen die Hussen nicht herüber.«

Nun hinkte Pütrich heran. Er hatte es schon durch die Knechte erfahren, dass der Degenberger erst in einigen Tagen komme, und war darob von schwerem Missmut erfasst.

Er vergaß fast des Grußes.

»Kürzet meine Pein, edles Fräulein!« rief er. »Ist Euch kund, dass Euer Vater das rote Buch von Laurin und dem Rosengarten zu eigen hat?«

Elfrun lächelte.

»Auf dem Weißenstein ist die Rüstkammer voll Eisen und der Bücherschrein leer. Nur ein einzig Buch weiß ich, das liegt in der Kapelle und ist nicht weltlich.«

Pütrich verzagte nicht.

»Und das Buch muss dort sein, Ihr habt es nur nicht gesehen. Denn solch teuern Hort lässt man nicht an zugänglicher Stelle sorglos liegen. Man schmiedet ihn an die Quader der Kemenate, man verschließt ihn hinter sieben Riegel, zur Schlafenszeit legt man ihn unters Haupt, man stellt sich mit flammendem Schwert davor und rauft mit Gott und Satan darum. Zumal um das Laurinsbuch. Wie zierlich ist darin des Zwerges Prunkzeug aufgezählt! Wie funkeln schon die Namen der Recken, die im verwunschnen Berg des Zwerges Gezücht bestehen!«

Das Fräulein lauschte dem Schwärmer.

Süß träumelte des Quendels Ruch am Rain, die Näglein brannten, und an blauen Blumen taten Glöcknerdienst die Immen. Der Echse Smaragd züngelte durstig nach bunten Tau.

»Hochschön und erhaben muss es sein, das Reich Laurins«, sann Elfrun.

»Es ist meine Heimat«, sagte der Wolkensteiner.

»Doch auch in meinem Lande gibt es Holdes«, fuhr sie fort. »Felsweiß bleckt die Mauer des Pfahlgebirges, daran klebt die Burg des Vaters, und ferne steigen des Rachels Zweihaupt auf und der wilde Otwech. – Vor allem schön aber ist ein dunkles Wasser hier, sie heißen es den Schwarzen See. Hoch oben in stiller Bergnische funkelt er. In meiner Kindheit hat mich einmal unser Knecht, der Boxhorn, hinauf getragen. Und jetzt bin ich gekommen, um wieder die Schönheit dieses Sees zu empfangen. Mir ist, als harre dort oben ein tiefes Glück …«

»Wahrhaftig, Ihr wisset Sehnsucht zu wecken«, sagte Oswald.

Und Pütrich jammerte: »Hätt ich mir nicht den Hexenschuss an den Leib geschlagen und die Haut nicht von den Sohlen gewandert! So muss ich nothafter Brestling müßig im Tale lungern. Wär ich ein Wildfalk!«

Er dachte aber nicht des Sees, sondern des roten Buches.

*

Als die Sonnenrüste verlodert war, da saßen sie unter der alten Fichte.

Boxhorn und Rickel, die Knechte, lagerten neben Wulfenscheuch und horchten eifrig zu, was die Ritter dem Fräulein von dem Hussenzuge erzählten.

»Unsere Kraft ist zergangen wie Wachs«, sagte Oswald. »Zischka von Trotznau ist tot, doch seine Wut lebt in jedem Kelchmann fort. Die Sense der Hussen ist über die Völker verhängt. Sie brennen Scheur und Mühle, Dörfer und Turm, sie rauben alles, was nicht fest wie ein Berg.«

»Bücher vernichten sie!« stöhnte Pütrich darein.

»Es ist bei der Stadt Taus gewesen«, berichtete der Wolkensteiner. »Mit Sensen und Stoßeisen, mit Skurpen und eisernem Weihwedel ist das Unvolk daher gekommen. Unser frommes Kyrieleis hat ersticken müssen in dem Schreigebet der Hussen. Eine Eisenwolke, sind sie herangerückt.«

»Erst sind unsere Werkleute, die Lederer und Plattner, gerannt«, kündete der Reichertshauser, »dann die Spießer und die mit den Steinbüchsen. Mit Stangenmessern haben die Hussen unseren Gäulen die Sprunggelenke zersichelt, die Tiere haben stürzen müssen. – Auf den Kriegswagen sind die Kelchpfaffen gestanden mit Zetern und Hetzen. Da sind wir mit unseren Schmieden gegen die Wagenburg gelaufen, ihre Ketten zu brechen. Aber mit Spießhaken haben sie uns vom Sattel gerissen.«

»Davonrennen haben wir müssen«, endete Oswald, »kein Tollmut hätte geholfen. Die Hussen hinter uns her, nicht wie Menschen, nein, wie ein mächtiger Gedanke, und das Kreuzheer in die Wälder fliehend wie Staub vor dem Sturm.«

Ein Stöhnen unterbrach den Erzähler, ein Stöhnen wilder Zufriedenheit.

Pütrich zog die Nase hoch wie ein Riese, der Menschenfleisch wittert. Da lehnte Prokop an der Hauswand, sein tartarischer Blick eiferte in Freude und Hohn und konnte sich nicht verstellen, wie sehr sich auch der Leib in Knechtsgebärde krümmte.

Des Ritters Augen schleuderten blaue Stahlhämmer nach dem Slawen. Gischtend gingen die Missnamen aus Pütrichs Mund.

»Du Duckmauser, du falscher Huss! Das dürre Herz reiß ich dir aus der Haut, zu Laub und Staub zertrample ich dich, wenn du spotten willst!«

Die niedere Stirn bleich wie Bast, schlich Prokop davon.

Pütrich aber kreischte: »Einen Schandspiegel will ich dichten mit der Feder da« – er riss sie aus dem Hut –, »mit der Rabenfeder will ich ihn auf ein Wespennest schreiben, will alle anführen mit Namen und Wappen, die bei Taus gerannt sind.« –

»Erhitzt Euch nicht so!« mahnte Elfrun den ungestümen Mann. »Wenn Ihr am Verdruss krank werdet, da im Wald gibt es keinen Aderlasser.«

Sie erhob sich. »Ich will schlafen gehen, die Nacht schürt schon den Mond auf, und wir haben morgen einen starken Weg.«

Also reichte sie den Rittern die Hand und ging. –

Nun brannte Boxhorn ein Feuer an, worum sich die Männer zur Ruhe streckten. Pütrich schnarchte bald wie eine Sägemühle.

Die Knechte aber plauderten.

»Wie der Mondschein droben so groß hängt!« redete Wulfenscheuch und legte den Kopf weit ins Genick zurück. »Jetzt wird er bald wieder schwarz.«

Es wird regnen, der Gießvogel hat heut geschrien«, weissagte Boxhorn. Sein Gesicht war, als ob allweil drin Feiertag wär.

Der Einöder sah noch immer in den Mond.

Da war der Rickel, der andere Armbruster. Er hatte die Augen lustig wie ein Nusshäher.

»Verschau dich nit, Wulfenschuch!« warnte er. »Ich hab einen Spießgenossen gehabt, der hat einmal so lange in den Mondschein geschaut, bis er sich vergessen hat und erfroren ist.«

Der Alte rückte den Blick hastig vom Himmel weg.

»Wulfenscheuch, weißt du noch, wie du zu deinem Namen gekommen bist?« neckte nun Boxhorn.

»Scher dich du um den deinen!« wehrte der Alte.

»Rickel, du weißt es nit, ich will es dir verraten«, schmunzelte der Armbruster seinem Mitknecht zu. »Wie der Wulfenscheuch noch so klein gewesen ist wie eine Kranwitstaude, ist er einmal im Winter mit einem Korb über die Eisenstraße gegangen. Kommen da nit auf einmal zwölf Wölfe daher, vor Hunger die Magentür offen, die Augen glosend! Was tut da der Bub? Er schlieft unter den Korb, und wie der eine Wolf die Schnauze zu ihm hineinsteckt, haut er ihm mit der Hacke den Rüssel ab. Da haben die andern Wölfe das verschändete Vieh nit unter sich geduldet und haben es zusammengefressen. Hernach reckt der zweite Wolf das Maul unter den Korb, schnapp! Haut ihm der Bub wieder das Gefräß ab und wieder reißen ihn die andern Holzhunde auseinander und würgen ihn hinunter. Uns so ist es halt weiter gegangen, bis nur ein einziger Wolf noch mutterseelenallein dagestanden ist, und der ist so angefressen gewesen mit den elf Wölfen, dass er sich nit mehr rühren hat können und daran erstickt ist.«

»Erstick du an deiner Lug!« brummte Wulfenscheuch, und die Rede von sich zu lenken suchend, fragte er: »Ihr wollt also zum See hinauf? Wisst ihr denn den Weg?«

»Der Weg lässt sich nit verfehlen. Wo der Seebach in die Angel fällt, gehst du allweil bergan dem Wasser entgegen. Beschwerlich ist der Steig freilich, drum wissen nit viel Leut den See.«

»Es ist gut, dass der See so abseitig ist«, meinte Wulfenscheuch. »Mir wär es lieber, ihr ginget morgen nit hinauf.«

»Warum denn nit?«

»Es kommt nichts Gutes von dem See.«

»Schön ist er freilich nit, er ist gar so wild und schwarz«, gestand Rickel. »Und mit keinem Floß darf man nit hineinfahren, sonst soll er schrein: ‚Weh, du bist mir ins Aug getreten!'«

»Es kommt nichts Gutes von dem See«, beharrte Wulfenscheuch, »drum hat ihn der Herrgott so tief in den Wald versteckt.«

Und sich mit drei Kreuzen über Stirn, Mund und Bart segnend, erzählte er: »Das ist mein Großvater gewesen, der ha wissen wollen, wie tief der See ist. Drum hat er sich ein Floß gebaut und ist damit auf den See hinaus. Dort hat er einen Stein an einem Strick hinunter lassen. Weil er aber keinen Grund hat kriegen können, so zieht er den Strick wieder in die Höhe – und was findet er daran? – Einen Rossschädel.«

»Ist das der, den du auf der Stange hängen hast?«

»Der ist es. – Und der See tut sich auf wie ein schwarzes Maul und schreit: ‚Gründest du mich, so schlünd ich dich.'«

»Meiner Seel!« sagte Boxhorn, »das Wasser ist zu scheuen mit seiner kohlschwarzen Tiefe. Wie wenn die Nacht drüber stehen tät, wie des Teufels Tintenkrug ist es!«

»Ich bin schon sechzig Jahr im Donnerwinkel«, setzte Wulfenscheuch fort, »bin aber nie hinaufgekommen, und es wird mich auch nichts hinbringen. – Aber dass ich nit vergesse! Den Seegeist hat der Frevel mit dem Messstrick verdrossen, drum haben sie den Großvater nit lang hernach tot aus dem Wasser gezogen; einen blauen Ring hat er um den Hals gehabt. Und ich glaub«, so schloss der Alte, »der See hat gar keinen Grund und quillt aus der schwarzen Hölle.«

Die Knechte schauderten und blieben stimm.

So schlief der Wolkensteiner ein und träumte einen See um sich, darin angekettete Schwertfische wachten und stahlschillernde Breitflosser bewegungslos standen, nur ganz leise die sonderbar scheußlichen Kiemen regend.

Der Morgen schlug die goldroten Krallen ins Wipfelwerk, da nahm Elfrun Abschied von dem Reichertshauser.

»Ich verzeih Euch«, lächelte sie, »dass Euer Schelten mich gestern abends verscheucht hat. Aber dem Wulfenscheuch habt Ihr den Knecht versprengt, der Prokop ist nicht mehr zu finden.«

»Es ist gut, dass er davon ist«, erwiderte Pütrich. »Ich trau keinem Fuchs und keinem Hussen.«

Nun kamen der Wolkensteiner und die beiden Knechte wanderfertig daher.

Und die Bergfahrt begann. –

Boxhorn und Rickel schritten voraus, der eine unterm verwitterten Hütel das Feiertagsgesicht, der andere einen berghohen Juchschrei auf den Lippen.

Erst führte der Weg der Angel entgegen, dem braunwilden Waldfräulein. Sie streiften den Taubehang an Himbeerwildnis und Farn. In grüner Glut funkelten die Fichten. Die Schwebewelt holder Töne und Düfte allerorten und jeder Tautropf prahlend: »Sieh, ich fraß die Sonne!«

Elftun aber lauschte des Ritters Worten, die von einem wilden, großen Leben sprachen, das voll Glanz und Not in blauende Fabelfernen führte bis zu den Kanten der Erde.

Heiliges Land, das den Erlöser genährt, Mondnächte in welschen Wundergärten, feierliche Meeresauen, Dämmerung und Thule beschwor der Dichter aus seinem Erinnern zu glühendem Leben, vor allem aber das Alpenland, wo das Licht der Höhen vom Gletscher zurückgellt und Veilchengluten auf abendlichen Firnen sich entzünden.

Papst, Kaiser und Ketzer, jähe Männer und schöne, arge Frauen, Pfaffen, stolz und hochgeschoren, hoben sich in lebendigen Gestalte und erfüllten das reiche und glücklose Leben des Minnesängers.

Diese Stunde war besonnt von Elfruns Lauschen. –

So ward die Seebachmünde erreicht. Jetzt stieg es steil berghinan, und der Weg war böse.

Oft lag der Seebach wie braungrünliche Schlacke über den Blöcken, in schroffen Niedersprüngen aber gischtete er sich weiß und stäubte Silber und flog, ein flatternder Schleier. Schlanke Regenbogen wählten ihn dann zum Tanzplatz. Häufig überstegte ein gebrochener Baum die Ringelwellen des nach den Tiefen Lechzenden. Oft barg er sich unter moosigem Geblock, oft fernte er sich und sang von Weitem und harfte wie eine Waldmisse und kam wieder.

Elfrun sann in den Wasserwandel, sah ihn geschliffen wie Glas, sah ihn blendend, wenn ihn ein Sturz knickte.

Wohin? Wie viel Brücken werden ihn überdunkeln, wie viel Erlen darin ihr Bild baden?

Sie kehrte sich zu ihrem Begleiter.

»Es mag in den Tiefen etwas Schweres und Starkes liegen, dass es alle Brunnen dahin zieht und dass die Bäche die Felsen durchbeißen, die sich vor die Tiefe stellen.«

»Der Wunder gibt es viele, die uns rufen und ins Fremde locken.« So der vom Wolkenstein.

»Und doch ist der See, darin dieser Bach entspringt, in seiner Schönheit würdig, dass die Tiefe ihre Flut sende, ihn zu schauen«, sagte sie. »Und oft ist mir, die Wasser des Seebaches können ihr Heimweh gar nicht verlieren, sie müssen sich mitten im Meere noch der blauen Mutter im Walde besinnen und zurückwandern, dem Strom entgegen, der nichts von ihrer Sehnsucht ahnt. Und sie springen wagend übers Wehr und kichern übers brummige Mühlrad hinauf – zurück – immer zurück und heimzu und bergan, bis die wieder münden in den seligen Schoß des Heimatsees.«

Darauf Oswald leiser: »Ihr saget ein Märchen. Denn nimmerdar führt Steg und Straße in die Gefilde der Jugend zurück, wie wild auch der Wunsch zurückstarrt.«

Sie schwiegen, und auch die Verlorenheit ward verschwiegener.

Waldrauschen atmend, zogen sie an den riesigen Holzleibern der Urgegend vorbei, an Stämmen, die sonderbar auf Stelzen standen oder auf Steinen ritten, immer dem sausenden Waldkobold entgegen.

»Ich weiß nicht, wie es kommt«, sagte Elfrun einmal, »es zieht mich so geheimnisvoll zu Quellen und Weihern, ich fühle mich so verwandt den wandernden und ruhenden Wassern.«

Und Oswald sah das Mädchen vor sich: ihr Wandel schier zum Tanz sich krönend, ihr Haar schimmernd wie edles Erz. –

Auf den grauen, beerenumwucherten Steinen einer Bergblöße rasteten sie. Da pfiff ein fremdes Vöglein seltsam und wehmutsvoll – und von grüner Wipfelverborgenheit rief ein zweites, doch es war keine Antwort, jedes sprach für sich. Und stiller und süßer war die Ruhe darnach.

Elfrun entschlummerte, und ein Träumlein kniete auf ihrer Stirn. Sie erwachte jäh und war verwirrt, und ihr Lächeln war klar wie Glanz.

Nun stieg der Steig sanfter an, und das silberne Sausen des Sprühbaches verdunkelt sich mählich in ein drohendes Gedröhn. Es mochte von der Stelle rühren, wo die Seeflut sich ein Tor gesprengt hatte, dem Tal den Minnetrunk zu senden.

Hin und wieder quoll ein märchenmildes Blau durch die Fichtenschäfte, die Wanderer schleunten ihr Schritte.

Und jäh lag er vor ihnen, der Mächtige, und funkelte in entrückender Schöne, als harre er seines Dichters.

In ein feierlich weites Bergkar, das von blauem Glast erfüllt war, gebreitet, atmete der See, den Spiegel gefärbt von Fels, Wald, Himmel und Schatten, lauschenden Ureinsamkeiten hingegeben.

Er war feiernde Kraft und tiefste Selbstbesinnung. Ernst und ruhvoll öffnete er seine Tiefe dem Abbild der Welt. Die Keuschheit vorweltlicher Zeiten umwob ihn.

Eine ungeheure Felsschranke schroffte hinter ihm auf, sie zog im Halbring, und ihr Grat war einförmig und groß. Ihren Schatten senkte sie auf die Stirne des Sees. Und in diesen stillen Bergspiegel träumten urige Buchen und Fichten hinab und fanden bebend ihr dunkleres Bildnis darin.

Zwitternd zwischen schwerem Blau und Düstergrün, darin ein tiefes Gold schlief, wob die Seefläche. Sie einte Ernst und Innigkeit, Macht und Wehmut. Der Adel der Einsamkeit umwitterte sie.

Sie war ein halbes Lächeln, das zum Trauern wird.

Leidsames Glück erwarb sich da der schauende Man. Die graue Locke wollte er sich aus dem Antlitz streichen, auf dass sein totes Auge gesunde an der Kraft dieser Schönheit.

Da sich der entrückte Geist wieder in die Gebiete der Wirklichkeit zurückfand, fragte die Stimme des Fremdlings scheu, als verlöre sie sich in einem gotischen Dom, nach den Quellen dieses Sees. Und mit scheuen Worten erwiderte Elfrun, dass das wilde Geschröfe der Wand nur einen einzigen Brunnen in den See gleiten lasse, seine großen Quellen aber brächen aus tiefstem Wassergrund, wo die Fluten die versunknen Wurzeln dieses Felsgestufes tränkten.

Der Dichter flüsterte: »Dort müssen die Quellen wie Orgeln brausen.«

Er fühlte Zwiesprache dieser Einsamkeit.

Der Fels raunte: »Ich schenke dir die Fülle meiner Quellen, die Klarheit meiner Wasser widme ich dir.« Der See flüsterte: »Dir gebe ich mein Träumen und mein Grollen, den wilden Liebesprall und den drängenden Kuss der Flut, dir weihe ich den Aufblick ehrfurchtsernster Liebe.« –

Die Axt der Knechte rief. Oswald aber und Elfrun drangen durch sträubendes Rankengewirr den See entlang.

Tote Bäume, entkronte, entrindete Waldesherzoge, wie in wahnsinniger Beinkammer durcheinander gesplittert, verrammelten den Pfad und deckten auch die seichteren Uferwasser. Der Sturm hatte sie wohl aus der Wand gelöst und kopfüber in die Flut gestürzt. Dort ruhten sie schwimmend, zu seltsam wilden Abenteuern vereint, bald wie tiefen-entronnenes, verstricktes Wurmgezücht, bald wie das bleiche Geweih fabelhafter Urhirsche oder wie grauenhaft gedornte, saufende Drachen.

Mitten aber weitete sich die Fläche stolz und frei, unter der stoßenden Luft oft von schillernden Farbeninseln überwellt, – Teppichen, die der Wind aufrollte, – oft in leuchtend goldgrüne Streifen gefurcht, dann wieder glatt wie ein sorgloser Urgeist, dem Spiele flutenden Lichtes offen, friedlicher Wolkenbilder Wiege.

Leichte Wellenbewegung gliedert in der Nähe des Gestades den Spiegel in zahllose glanzbegrenzte Rauten, worauf die Sonnenblitze ihren verwirrenden Springtanz hüpften. Felsen starrten aus stillerem Grund.

Ein hoher Stein trotzte auf und sperrte den Weg. Aber vor ihm am Strand lag ein Einbaum.

Oswald rückte ihn ins Wasser, und sie stiegen ein.

Tiefgreifend zwangen die Ruder das Boot hinaus in die Wellen. Und der Wolkensteiner vergaß plötzlich, den Blick von Elfruns Augen zu wenden.

Sie merkte es und lächelte befangen.

»Meine Augensind wohl blau wie dieser See?«

Darauf der Ferge (und er ließ das Ruder ruhen): »Mein Auge ist grau wie der Tag im Herbst.«

Elfrun bog sich zurück und schaute in den stillen Himmel. Aber der Ritter beugte sich über die Tiefe, und Traurigkeit erfasste ihn.

»Starret nicht zu lange hinab! Jede Tiefe lockt und verführt.«

Die Warnerin saß vor ihm, süß und fein, als müsse sie sogleich zerfließen zu einem Wölklein von vermählten Harfe- und Geigenstimmen.

Ein Seefräulein!

Der Schiffsbaum nahte sich dem Felsenranft. Buschige Buchen standen ohne Regung.

Wie rot mag hier der Herbst sein! Wenn die Buchen ihr Blut niedergießen in die Flut …

Wolken segelten seligweiß über den Tag. Und Elfrun gab ihnen Namen und erzählte ihre Schicksale mit Worten, die herbhold dufteten wie Regen in des wilden Kirschbaums Blühen.

Sie glitten an einem dürren Baum vorüber, der ufernahe im See stak. Im kahlen Geäst trug er Gottes Marter. An diesem Ort war Wulfenscheuchs Ahn ertrunken.

Langsam furchte der Einbaum weiter. Mit frommer Gierde waren seine Insassen dem Bergesodem hingegeben und dem Glück und Leid des Lauschens und Schauens.

Und dem Wolkensteiner waren alle Wunder nahe.

Versinke nicht, o Tag! –

Als sie landeten, hatten die Armbruster bereits rotbäuchige Saiblinge geangelt und tischgerecht gemacht.

»Der Gießvogel hat geschrien, es wird regnen«, sagte Boxhorn wieder.

Am Himmel dehnten sich zarte Schleier, hälftig erst über den Bergkamm erhoben. Im Windschatten des Gewändes geborgen, schliefen die Bäume, als wären sie müd, da sie sich auf der zerblockten Mauer verklettert hatten.

Die Seefläche aber war von einem Zittern überrieselt, Lichter und Schatten des Gekräuels wirrten darüber, und Leuchtblitze zuckten wie funkelnde Schnellkäfer daraus.

Unter der überströmenden Sonnenschale gleißten und glitten die Wolken. –

Der Nachmittag spätete sich. Die Sonne war schon hinter die Wand gerückt: jetzt stand der Halbring des Gebirges schwarz und schwer im Schatten.

Wieder glitt der Einbaum nahe dem Geschröfe. Tiefstes Grün trug ihn, irres Grün, wie es der Wolkensteiner einmal in den Lichtschlitzen eines Raubtieres gefunden hatte.

Da rief Elfrun ins Gewänd.

Der Schrei prallte an die Felsen, und der Widerschrei kam – und noch einmal – und fernher ganz leise zum letzen Mal.

Wie rätselsam!

Wer ruft?

Sie konnten es nicht deuten …

Jetzt bat Elfrun: »Singt mir das Lied Eurer Heimat Tirol, singt mir vom König Laurin!«

So lehnte sich der Ferge zurück und begann, die Worte zur ungestümen Dichtung zu fassen.

Bald sind die wilden Ferner all verglüht,
Ureinsam nur die Achen tosen,
So rausche auf, du altes Felsenlied,
Tiefrotes Lied von Blut und Rosen.

*

»Hussa, mein Steinbock, über Schroffen und Schrund,
Hussa, den silbernen Huf spring dir wund!
Zum Garten hin musst du mich jagend tragen,
Ich hör meine lodernden Rosen klagen.« –
Wen sieht Zwerg Laurin in seinem Gärtlein stehn?
Zwei Recken in seinem hellen Gärtlein stehn.
Sie haben zerschlagen den Reenbogenzaun,
Sie haben das rote Gedorn zerhaun.
Der alte, der Alte, Hilbrand hieß,
Nach Laurin mit dem Gewaffen stieß.
»Die Jungfrau gib uns zurück, o Zwerg,
Du birgst sie in deinem gebannten Berg!«
Der Zwerg warf den Alten zur Erde hin,
Die eherne Stange zückt er auf ihn.
»Wie mich deine funkelnden Augen hassen!
Jetzt musst du mir eines der hassenden lassen!«
Doch schirmend sich vor den Wehrlosen stellt
Herr Dietrich, der frohe, erlauchte Held.
»Halt ein, du allzu hastiger Geist,
Dass dein Spieß dem Hilbrand kein Aug ausbeißt!«
Mit des Föhnsturms Jähe springt Laurin los.
Nun wahr dich, Dietrich, vor Stich und Stoß!
Hei, wie ist das Adlerblut hellauf gesprungen.
Bis an des Zaubrers gewaltiger List
Herrn Dietrichs Schwert wie Glas zerbrochen ist. –
Wie lacht so spöttisch des Wichtes Mund,
Wie züngelt sein Stahl nach dem Helden wund! –
Da dehnt sich zum Wahnwitz Dietrichs Wut,
Da keuchet sein Atem Rauch, Lohe und Glut,
Er bäumt sich und Königskraft ihn durchdringt,
Wie einen Knaben den Zwerg er zwingt.
Vom Absturz hält er ihn weit hinaus,
Tief unten gischtet des Wildwassers Braus,
Leer starrt der klaffende Abgrund herauf
Und reißt seinen finsteren Rachen auf. –
Da sieht der Held in Laurins Aug das Leid,
Die Schwermut dieser Felseneinsamkeit,
Ein Herz, das nicht gefeit vor Menschennot –
Und Mitleid dem besiegten Zwerg er bot.
»Geh frei davon! Dein Starrmut ist geknickt!
Nur gib die Magd heraus, die du entrückt!«
Doch Laurins achengrüne Augen blinken.
»Nie! Niemals! Lass mich in die Tiefe sinken!«
Ans Ross band Dietrich ihn mit Bart und Bein:
»So sollst mein Possenbub du fürder sein!
Mein Gaukler, rechtlos aller Schmähung frei,
Mein Scharlachnarr, mein letztes Knechtlein sei!«

*

Der scheue Abend schwillt, die Tale dunkeln,
Großeinsam das Gefels, Hochgipfel funkeln,
Im Schrunde dumpf versunkne Fluten tosen
Und schwül veratmen die zertretnen Rosen.
Zag und trauervoll aus wilder Märchenkluft
Immer, immer wieder – ohne Ende –
Und vergeblich – in die roten Wände ruft:
»Laurin …! Laurin …!«

Eine schieferschwarze Wolke brütete über dem See, schwerhangend, als fülle sie Blei. Sie war jäh gekommen. Ihrer Tropfen sanftes Knistern war dem Lied ein füßwehmütiger Untertan gewesen.

Nun der Minnesänger geendet hatte, sank ein wilder Donner von dieser Wolke nieder. Murrend nahmen ihn Wald und Klüfte an.

Grauglasig und unruhig die Flut.

Elfrun hob das Antlitz wie aus einem Traum.

»Der See ist dunkler worden von Euerm Lied. Doch singet weiter von Laurin, dem Gaukler!«

Doch der Wolkensteiner hörte sie nicht.

Aus der bunten Finsternis seiner Gefühle glomm es klar auf; ein Münster aus Rosen, so wölbte es über ihm. immer war er ein Mann der jähen Liebe gewesen.

»Ihr träumt, Herr. Ich habe begehrt, von Laurin zu hören, dem Gaukler.«

Schneeblass war er vor Leidenschaft, sein Blick streifte scheu den Seeranft. Die Stimme, die vordem so erzhell getönt, klang entstellt.

»Ich bin der Gaukler, Mädchen! Ich liebe dich.«

Sie schwieg.

Trunken vor Glück und Qual flüsterte er: »Flieh mit mir! Ich hab ein Weib, ich will es verstoßen. Wald und Burg sind mein, ich will sie verlieren. Nur dich will ich haben.«

Ihre Augen schwiegen, sie sannen in die graue Flut.

»Wir wollen landen!« gebot sie. –

Noch rauchten die Dünste aus dem Geschröfe. Aber nach der Aufregung des Donners, nach dem grauen Regen lag das Seekar schier unkörperlich hinter der wunderleise schleiernden Luft.

Das Boot lehnte sich ans Gestade.

Glutig zog die Wolke, die mächtige Wanderin. Die Luft war rot worden, und der See bekam den Glanz gescheuerten Kupfers.

Ein letztes Mal wandte sich Elfrun an den Mann.

»Ich verweise Euch des Landes hundert Jahre und einen Tag.« –

Die rote Wolke verwelkte, finsteren Weines voll schien die Gebirgsschale.

Mit nachtender Seele stand der Wolkensteiner im Wald. Alte, treueste Qual tastete sich zu ihm, Verhängnis und Schuld, Wunsch und Wahn. Und das Neue, das Süße, das nicht sein konnte, trat in all seiner Hoffnungslosigkeit vor ihn hin.

Er dachte an das Lockengeleucht ihrer Jugend und an sein herbstliches Haar, an das schöne Frauenbildnis und den Landstreicher mit dem verstümmelten Antlitz, an die Sonnengesandte und den Halbäugigen.

Ein Verlorener in der Hochwildnis, stand er, die Last des Mondlichtes auf der Stirn, nur der gesternten Stille sichtbar. Die Luft umkühlte seine Schläfen, Wellen schlugen auf und flüsterten.

Die Heerfahrt wilder und schöner Stunden, die ihn einst gedäut und entzückt, zog auf, die Schatten der Vergangenheit dröhnten. Über alles aber richtete sich die neue Sehnsucht auf, sie ragte so hoch, dass sich ihr Haar in den Sternen verwirrte.

Er schloss das Auge. Und Elfrun leuchtete vor ihm. Er brauchte nur ihre Hand zu fassen, wie der Verfemte den Ring des Domtores ergreift, um im Frieden zu sein. doch die Erde wuchs um ihn empor, die Geliebte höher und höher entführend und ihn in tiefem Schachte zurücklassend.

Er riss das Auge auf.

Der Mond am Himmel wie ein Totenschädel.

Wie schwarz die Wand! Wie wild reckt die Marter Gottes die Arme über den See!

Leidsam wünschte Oswald, dass ihm der Tod die Seele zertrete.

So nahe ist der Tod. Er lauert in allen Dingen, er umschauert uns wie die Luft, er harrt am Grunde des Sees, ein schwarzer Golf.

Und plötzlich stand, deutlich wie ein Bild, ein Entschluss vor dem Einsamen. Er rang ihn nieder, aber der Gedanke raffte sich hohnhaft wieder auf.

»Wenn der See morgen mich auswirft, den blauen Würgring um den Hals?!«

Sein Leben schauderte, sein Geist reckte die Fänge nach Trost. –

O Gott, leuchte dem armen Wolkenstein!

Halbdunkle Morgennacht war es, als Wulfenscheuch Herrn Jakob Pütrich aus dem Schlaf stieß.

»Herr, ich bin schauen gegangen, ob der Otter sich im Eisen gefangen hat. Da hab ich am Bach frische Fährten gefunden, viele Leut sind vorüber heut Nacht.«

»Lass mich, bücherkundiges Ungeheuer!« erwiderte unwirsch der Reichertshauser.

»Aber ich hab dort diese Haube gefunden, im Finstern hat sie einer verloren.«

Gähnend langte der Ritter danach.

Plötzlich fuhr er auf, ein Stich durchzuckte ihn.

»Kornähren und Hahnfedern dran! Die Hussen haben solche Hauben. – Kelchleut sind vorüber!«

»O du rotgoldner Herrgott!« stammelte der Alte. »Und sie sind gegen den Seeweg! Sie werden das Jungfräulein erschlagen!«

Pütrich überlegte.

»Erschlagen, das wär geringer Gewinn. Aber als Geisel könnten die Hussen sie fangen. – Und wer weist ihnen den Weg?«

Stöhnend aber erinnerte sich Wulfenscheuch: »Der Prokop führt sie! Drum ist er gestern davon, drum hat er Wald und Weg durchstöbert, seit er in meinem Haus ist.« –

»Winsel nicht wie eine vermauerte Nonne!« herrscht der Ritter ihn an. »Renn um deinen Sauspieß, um dein Messer! Wir wollen es dem Gezücht schon münzen.«

»Aber ich weiß den Weg nit zum See«, jammerte der andere.

»Was, du weißt keinen Weg?« schalt Pütrich. »Jeden Kuckuck solltest du kenne im Ossergebirg«. –

Da trappelten Hufe durch den Wald, Waffenklirre scholl vom Karrenweg, der zur Eisenstraße führte.

Pütrichs Augen funkelten bös, er fasste die Seitenwehr, sein mannhaft Herz stürmte.

»Gottes Tod! Da kommt wieder eine Meute. Auf, wir trampeln sie in den Dreck!«

Gewaltig mit dem Rüsteisen ausholend, sprang er dem Walde zu, wo die Reiter auftauchten. Er rannte sie ohne Scheu an wie eine blinde Bremse, sein Schlachtruf gewitterte: »Rot ist das Laurinsbuch!«

Die Reisigen hielten, und ihr Führer sah erstaunt, wie Wulfenscheuch mit seinem steifen Knochenwerk dem Wütenden nachsetzte, um ihn zu halten.

Lachens rief endlich der Ankömmling: »Wo schlägt denn dich der Schauer her, Pütrich? Was fällst du uns an mit gesenktem Gehörn?«

Er rückte die schattende Krämpe der Wolfshaube aus der Stirn.

Verblüfft ließ der Reichertshauser den Arm sinken.

»Du bist es, Degenberger?!«

Schon aber stand der Einöder vor dem Grafen, stoßend ging ihm der Atem aus der Brust.

»Herr, sie ist am See – und die Hussen sind ihr nach – jetzt in der Früh.« –

Hans Gewolf wankte im Sattel.

»Reitet, rennt, helft meinem Kind!« –

Sie jagten waldeinwärts. Ein Pferd stürzte, da ließen sie die Tiere zurück.

In keuchender Hatz ging es bergan. Keiner kümmerte sich um den andern. Der Weg, den die Ketzer geschlichen, war gut erkennbar.

Obzwar Jakob Pütrich seinem schweren Leib und seinem kurzen Atem zulieb der letzte war, so holte er doch den Grafen ein.

»Du kommst zur rechten Zeit, Degenberger.«

»Die Eisenstraße will ich durch Verhaue sperren lassen, drum bin ich kommen«, erwiderte der Greis. »Wir reisen schon seit Mittnacht. – Herrgott, lass es nicht zu spät sein!«

»Hab nicht gehofft, dich in dem aberwitzigen Wald da zu treffen«, sagte Pütrich. »Ich bin auf dem Weg nach dem Weißenstein.«

»Was willst du dort?« fragte der Graf, den Lauf beschleunigend.

Aber da packte ihn Pütrich mit schmerzhaftem Griff. Seine Brauen trieften, seine Augen flackten, der Leib bebte ihm, so dass der Graf erschrocken rief: »Um Christi Blut, Freund, was ist dir?«

Der aber klammerte eisern. Pfeilenden, ringenden Atems begann er, dem andern in die Augen lauernd, die Anfangsreime des Sanges vom Gezwerge Laurin.

»Es war zu Bern gesessen
Ein Degen so vermessen,
Der war geheißen Dietrich.«

Hans Gewolf stand erstarrt. »Was ist das, Pütrich? Wahnsinn wirrt deinen Witz. Gib die Hände von mir!«

Er langte nach seiner Waffe. Doch des Freundes Finger waren wie Stein um seine Arme.

»Nicht eher lass ich dich, bis du dich mit hartem Eid bindest, das Buch mir zu geben.«

»Ein Buch willst du?«

»Gib mir das Laurinsbuch, ich will dir's ewig danken. Dir ist es wertlos, mich macht es sondermaßen glücklich.«

Die raue Stimme bettelte, schmeichelte, drohte.

Vergeblich suchte sich der Graf ihm zu entwinden.

»Du gehörst in den Narrenturm. Jetzt ist nicht die Zeit, Bücher zu schenken.«

»Verkauf es mir! Verlange, was du willst!«

»Zum letzen Mal, gib mich frei! Oben geht mein Kind zugrund. – Ich hab kein Buch.«

Pütrichs Atem ward hässlich und hart.

»Das trügst du! Aber mein Wille steht fest: nicht lebend lass ich dich los, du gibst mir denn das Buch. Der Kanzler Rösler hat es mit verraten, hat mich zu dir geschickt.«

Verzweifelt stieß der Graf den Wütenden von sich.

»Auf Christi Leichnam schwör ich, nie hab ich dies Buch besessen! Und wer es dir verraten, der hat einen Narren gehänselt.«

Da erkannte Pütrich in des Grafen Stimme die Wahrheit, und seine Hoffnung löste sich zu Rauch. Die gestreckten Arme schlafften ihm nieder, die Augen verdrehte er wie ein weidwunder Ur. Und wie ein mürber Berg rollend sich seines Schuttes entlädt, so gurgelte der Betrogenen ein Fluchgebet von sich.

Dann aber schüttelte ihn krampfendes Weinen.

Der Morgen war im Ostrot bluthaft wie eine aufgerissene Wunde gelegen. Nun trat der Tag über die Purpurschwelle.

Lautlos schön das Kar, schöpfungsklar schien es eben aus dem Wunsche Gottes emporgetaucht. Im spiegelnden Abgrund dämmerten zitternd Baum und Schroffe wie im grünfinsteren Feuchtauge eines Wasseralbes.

In den Lüften leuchtend das Geschwing eines weißen Federspieles; ein Flügelpaar, das Kraft und Freiheit war, trug den Waller in verglänzende Fernen.

Aber plötzlich zerriss ein geller Schrei diese weltabseitige Ruhe, slawische Laute drohten, Gebrüll drang von der Stätte her, wo die Hütte der Degenbergerin stand.

Die Hussen!

Oswald sprang auf. Seine aschfabenen, entbluteten Lippen bebten. Er raste dem Kampforte zu.

Schreiend empfingen ihn die Hussen, sie legte sich schwer an seine Glieder, dass er wehrlos ward, und banden ihn an einen Baum, banden ihn so, dass der See vor ihm lag.

Da sah er Elfrun.

Sie hatte sich in die Wirrnis der schwimmenden Bäume gerettet, auf schwanken Ronen eilte sie immer weiter bis dorthin, wo die Tiefe begann. Vorsichtig, unaufhaltsam kletterten die Unholde nach, ihnen voran Prokop.

Ächzend rang sich Oswald die Stricke ins Fleisch.

Nun hatte die Flüchtende den äußersten Baum betreten, der schmal in das Wasser hinauszielte.

Die Verfolger waren nahe. Auf allen Vieren wie ein Hund kroch Prokop den schaukelnden Stamm, er fletschte das schiefe Verhau seines Gebisses, seine Sprache bellte zornig.

Und nun stand Elfrun knapp vor der grünen Flut. Sie hatte den Wolkensteiner erblickt. Hoch hielt sie die Arme gegen ihn.

Sie war schön wie ein himmlischer Geist.

Funkelnd hob sie die Stimme.

»Laurin! Laurin!«

Und ehe der Gebundene mit der Wimper zuckte, stand sie nicht mehr im Licht. Sie war wie gelöst ins Blau.

»Laurin … Laurin …« verhallt noch der Fels.

Einen furchtbaren Schlag tat des Wolkensteiners Herz, Sonne und Tag entglitt ihm, Feuer fuhr in sein Auge. Dann nur noch Rauch, purpurn und gnädig …

Schwer hob er die Stirn aus tiefer Ohnmacht, hob sie erwachend der Erinnerung an das Geschehnis entgegen. Er fand sich fesselfreiauf mildem Moos.

Nun war der See in märchenblauer Ruhe.

Da dachte der Mann eines Auges, in seinem blauen Frieden ähnlich diesem See, eines Auges, des sonnenlauterer Blick – ein Glanz aus anderen Irdischkeiten – nun an der Welt vorüber in tiefste Ewigkeiten taucht.

Und in den grünen Kronen, die den See umlaubten, ahnte Oswald das Grellen der Herbstglut, die ihres Widerbildes unverdüsterbare Fackel in die Dämmerflut sendet. So beugt sich feuerleuchtend das Erinnern über eine finstre Seele.

Ach – Elfrun schlief in der Tiefe und lauschte den Orgelnden Quellen.

In überströmender Fülle aber leuchtete die Sonne. Doch das Licht ward dem Wolkensteiner zum Leid.

»Auge, du sollst kein Leuchten mehr schauen, erblinde auch du!« sagte er leise. »Und du, Sonne, du sollst nicht mehr weiter schimmern!«

Er griff nach einem Stein und hob ihn gegen die Sonne – und ließ ihn wortlos wieder sinken.

Im Wildfarn lag der Knecht Boxhorn hingestreckt, die Seele war ihm genommen. Seine Miene hatte sich die Feiertagsruhe bewahrt, die sie im Leben getragen.

Sein Mitknecht kniete neben ihm und betete.

»Bist gegrüßt, Maria, voller Gnade! Mit dir ist der Herrgott. Du bist gesegnet vor allen Frauen. Gesegnet ist das Wunder deines Leibes.«

Schweigend ging der Wolkensteiner an dem Gebet vorüber, seine Schritte schienen die Erde nimmer gewohnt.

Fern das verschleierte Sausen des Baches, der zu Tal strebte.

Die Stirn von einer bösen Beule entstellt, kam Pütrich daher.

Er wies auf einen alten Mann, der einsam vor dem See saß. »Das ist der Graf. Er wartet, bis ihm das Wasser sein Kind herausgibt.«

Dann griff er unter das Brustblech und zog lächelnd den kunstvollen Buchschlüssel hervor.

»Seht, ich hab das Schlüsslein nicht verloren.«

Der Wolkensteiner wusste ihm keine Antwort. –

Tannenstill und groß lag der See, die dräuende Gewalt des wilden Gewändes widerdüsternd. So spiegelt sich ein finstres Schicksal in der Seele eines Dichters.

Der Minnesager aber schritt einsam in die großen Wälder hinab. Die grauwilde Brauenwölbe trug er wie ein verfemter Gott.


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