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Die verlorene Herde

Eine Hirtengeschichte

Ein leidenschaftlich Aufbäumen der Erde, wolkenhemmend und sturmspaltend, eine dräuende Gebärde des Gebirges gegen den Himmel ist der alte, wilde Berg. Urversunkene Zeit hat ihn mit dem Namen eines wetterlechzenden Gottes gekrönt, und der Asenklang grollt noch heute nach tausendjähriger Verwitterung des Wortes aus dem Namen Osser.

Durch eine tiefe und weite Einsattelung geschieden, überstarren zwei Zinnen, hochfelsig und öd, den grünzackigen Gebirgsfirst. Auf ihnen ritten weiland zwei grobe Riesen, die schleuderten sich ihre Steinhämmer auf die ungeschlachten Schädel. So kündet es die schier verraunte Sage.

Doch Tursen und Recken verschollen, und nach Riesendämmerung und Göttertod kam des Roders eintönige Axt und fraß sich Steige durch die verrufenste Schlucht, und während ehvor das Eichhorn den ungestadeten Wald wochenlang auf hohem Astwerk durchwandern konnte, ohne den Erdboden suchen zu müssen, lichteten nun Beil und Brand stürzend und sengend die Wildnis. Ein fiebernd Reuten und Schwenden hub an, Einödhöfe rückten immer weiter vor, krönend stieg schon hie und da blauer Rauch über die wüsten Wipfel, und als endlich das Bistum Regensburg ein Klösterlein mit dem Bergungetüm belehnt hatte, da brandete die Gier der Menschen auch an den Berg empor.

Die im Tal sind es bald inne worden, dass oben, fern von der Welt des Kornes zwischen den grauen Ossertürmen mitten im schier unzutrittlichen Wald eine liebliche Grasblöße sich sonnte und ein Brünnel aufging, blitzblank wie Zinn. Also trieben sie ihre Jungtiere hinauf und ließen sie dort übersommern und im Berggras äsen, bis der Tann im Schnee des Hubertusmondes zu Silber erblich. Da schöpfte denn nimmer der Habicht aus dem lichten Quell, nicht mehr lepperte der Durst des Fuchses daraus; nur des Stieres nackte Nüstern störte das lautere Spieglein, und die beiden Hirten füllten darin den Krug.

Sie hatten ein einförmig Leben, die Stierhüter. In ihrer Verlassenheit und rauen Wildheit waren sie fast dem Getier der Öde ebenbürtig. Sie nährten sich von rußigem Speck und sauerm Brot und schoben sich die Zitzen der Ziege ins Maul. Hatte sich nicht etwa ein Stier verlaufen, so lümmelten sie und träumten über die hingeschütteten Berge und den Urforst, der darüber gegossen, schnurstracks ins Blaue hinein. Nächtens aber hatten sie ein Feuer zu schüren, um des Waldes Raubgeziefer zu scheuchen, denn in der verworrenen Wildnis fauchten noch die Lüchse und flennten die Wildkatzen, dem Bären war Gewalt gegeben und Waldgraf war der Wolfsrüde. All und jeglich aber mieden sie den lebendigen Brand, ahnend, dass gegen der Flamme Wesen nicht Biss noch Pranke fruchte.

Doch noch andere Mächte woben um die Osserzinnen, erzeugt aus raunender Einsamkeit, aus den schweren Stürmen, die den Berg umdröhnten, und dem fremdbelebten nächtigen Wald, so dass sich dem Talmann Bart und Schopf sträubte, wenn wilde Gerüchte davon sich hoben, und er wie von Trudendruck erlöst aufschnaufte, wenn zur Raureifzeit die Stiere wieder unversehrt ins Dorf herab trotteten.

Einmal aber ist die Herde nicht mehr wieder kommen.

In Einschicht und Waldhubendorf war die Unmäre lautbar worden, dass der eine der beiden Osserhirten, Mathes mit Namen, samt seinem Hund ins wilde Gejage geraten, mitgerissen worden und verschollen sei. Nach drei Tagen sei der Hund wieder zurückgekehrt, blutend, wildmäßig zerhackt und zerfetzt, und sei auch bald hernach hin worden.

Es war nicht der Brauch der Bauern, sich in ein Begegnis länger zu versinnen, auch drängten die Notwendigkeit und die Furcht um die Waldstiere – und also fanden sie sich nach altem Herkommen zusammen und wählten den Jörgel Klingseisen, einen – mannfesten, gelenkigen Gesellen, wohl geeignet, das waldverlaufene Tier zur Weide zurückzuzwingen, zum zweiten Hirten und schickten ihn auf den Stierplatz hinauf, dass er dem alten Rueprecht Hundsesser das Vieh hüten helfe.

Da schnitt sich denn der Jörgel einen haselnussenen Geißelstecken, versah sich mit einem Kuhhorn, wie es die Dorfhirten zu blasen pflegten, und stapfte, die Waldhacke im Leibgurt, den steinigen Viehweg osserwärts.

Die Kuckuckin kicherte, der Schnerrer am Laub läutete die Schalmei, wildverlassen war der fremde Steig. So war es auch nicht sonderlich, dass des Jörgels Gedanken bald auf ungewohntem Pfad standen.

Zuvörderst rückten alte Geschichten an ihn heran, die ihn als Kind oft geängstigt hatten, Gerüchte von argen Forstgeistern, die glühende Tannzapfen auf den Waldgeher werfen, und vom baumlangen Hofmann, dessen Schrei »Hoi, hoi, helft!« aus den Fernen taucht, den Wandrer vom gebahnten Weg in die Wildnis schreckend.

Rascher und weiter setzte Jörgel die Beine von einander.

Was aber ist oben geschehen? Oben am Stierplatz, wo jetzt der alte Hundsesser einschichtig haust? Die wilde Fahrt hat einen Menschen mitgerissen, hat den Mathes genommen samt dem Hund!

Wohl geht es in den Mären, dass der pürschende Wode einst eine Kettenleiter aus den Lüften gelassen, um Menschen zu verführen, und ein dreister Bauer sie um eine Eiche gewunden und dem Hölljäger entrissen habe. –

Dass aber der wilde Zug Menschen von der festen Erde reißt, das ging dem Stierknecht nicht ein.

Und warum hat sich der Mathes nicht erdhin geworfen und die Arme zum Kreuz gebeugt über die Brust? Wissen es doch schon die Kinder, dass man solches tun muss, wenn des Woden Gejaid über einen dahinjuchzt.

Der Bursch hielt an und verschloss den Atem in sich.

Nur zaghaft regte sich die Luft in den flechtigen, verfilzten Wipfeln, in den seltsam verzerrten, bleichästigen Dürrlingen, aber des Knechtes dumpfe Furcht sah das Windsgesprauder vergrößert zum wälderbeugenden Sturm, hörte es schnalzen und krachen im Geäst, sausen und hausen, rixen und brixen, hörte die urstarken Stämme stöhnen und der Hölle Weidschrei wiehern. Da entschloss er sich, dem wilden Wode das Hirn auseinander zu klieben, wenn er nach ihm greife – und fand sich, aus dieser wunderlichen Verblendung auffahrend, mit erhobenem Beil am Wege knien. –

Es gefährdeten indes kein Muttermensch und kein Unhold seinen Gang. Im tiefsten Sommerschlaf ruhte der Urwald. Nur auf einem gebrochenen Ahorn, der torbildend den Weg überschrägte, hockte ein Rabe. Der Vogel mochte schon hoch bei Jahren sein, denn Kopf und Hals waren ihm kahl. Er funkelte stiefen Blickes den Hirten an und bäumte verdrießlich schnarrend erst ab, als der lange Geißelstecken ihn scheuchte.

Jörgels Gemüt hob sich wieder, als er nach stundenlangem Aufstieg schellende Halsglocken vernahm und das raue Gefels sich recken sah, und in blanker Freude steckte er das Kuhhorn in den Bart und betrat, Willkommen tutend, die herdenbelebte Lichtung.

Der Rueprecht Hundsesser spleißte gerade neben der Hütte Kienholz. Unwirsch setzte er aus.

»Tu die Trumpete weg! Sie ist mir ein Spieß im Ohr.«

»Jetzt hab ich mich gefreut, dass ich wieder eine Menschenseel find«, erwiderte der Knecht, »und du schreist mich an wie einen Hütbuben.«

»Bist wohl der neue Hüter? Und weißt nit, dass es eine Sünd ist, am Gebirg heroben das Hörnel zu blasen?« raunzte der Alte.

Der Jörgel Klingseisen hatte sie oft gehört, die Geschichte vom Bischof Wolfgang, der übers Gebirg gereist ist. Todmüd ist der Heilige auf einer Stierwiese eingeschlafen. Da hat ihm ein schalkisch Geißhirtlein mit dem Horn ins Ohr geblasen und ihn also arg verstört. Seit der Zeit war den Berghirten der Hornton untersagt.

»Mein Blasen schreit den heiligen Sankt Wolfgang nimmer auf«, trotzte der Jörgel. »Ich blase, wenn es mich freut.«

»Untersteh dich nit!« bellte der andere auf und hinkte drohend näher. »Der Mathes hätt auch allweil geblasen. Aber das merk dir, da heroben bin ich der Herr!«

»Das ist ein grober Gruß«, meinte der andre. »Ich will dir es nit für übel nehmen. ,Je älter der Bock, je härter sein Horn', heißt es. Und das Einzelnhausen macht einen wunderlich. – Aber wie schaust denn du aus? Bist ja einauget worden, seit ich dich im Frühjahr das letzte Mal gesehen hab. Hat dir das auch der wilde Jager getan?«

Abermals hinkte der Rueprecht einen Schritt näher. Das eine Auge hatte er blutig verronnen, das andre zürnte unter der greisen Braue, als wolle es Feuer spauchen. Auf der Brust offen stand das schmutzige Hemd und ließ die graustruppig überwucherte Haut sehen, die das hagere Geripp überspannt hielt. Und wolfsgrau war das Haar auf dem einäugigen Kopf.

»Der Hiesel, der narrische Jungstier dort« – er wies auf ein Tier, das in der Erstarrung selbstvergessender Neugierde die beiden anglotzte – »der Hiesel hat mir das Geschau mit dem Horn ausgestoßen. Und dass du nit wieder deine Zunge an mir wetzen musst, so sag' ich dir, dass ich von einem Steinriegel gefallen bin, drum ist der eine Fuß kürzer.«

»Eine Frage wirst schon noch hören müssen«, sagte der Jörgel darauf. »Wie hat sich denn das mit dem Mathes zugetragen? Selbes möchte ich noch wissen.«

Der Rueprecht Hundsesser hob den Kopf wie eine bissfertige Kreuznatter, und seine verwachsenen Brauer rückten noch näher aneinander.

»Was glurrst mich denn so an? Hab ich den Mathes zusammengefressen? – Die Wildfahrt hat ihn genommen; wie er die Stierwacht gehabt hat in der Nacht. Hätt er nit allweil in sein Kuhhörnel hineingeröhrt, hätt ihn der Teufel nit geholt. – Und wann du noch was wissen willst, so frag die falbe Geiß, die dort an der Staude rupft, die hat dem Mathes gehört.«

Mürrisch über den übeln Empfang drehte sich der Jungknecht um und lockte die Ziege, deren Milch ihn über den Sommer letzen sollte. Als die Geiß herangezottelt war, fasste er sie beim Gehörn und sah ihr in die klugen Augen. »Merk dir's, du gehörst jetzt mir!« –

Der Stierplatz war eine reich übersonnte Hutung, von aufschroffendem Fels und grünem Tannicht umzingelt. Uralte Kranwitstöcke wuchsen rings verstreut, dazwischen grasten die bunten Tiere eifrig und geräuschvoll, einige hoben das wuchtige Haupt, andere lagerten kauend hingestreckt.

Ungefähr in der Mitte der Blöße stand, aus Balken plump gefügt und auf dem Bretterdache einen dicken Mooshut tragend, die Hütte mit einem kleinen Verschlag für die Ziegen.

Der Jörgel schloff an einem faulen Hund vorüber durch die niedere Tür in die Stierhütte. Sie roch nach Rauch, und die Wände waren berußt, denn mitten in dem Raume war eine Feuerstelle aus zusammengeschlichteten Steinbrocken erbaut, und Fensterloch und Rauchluke fehlten.

Sterbmüd vom schweren Weg warf sich der Hirt ins Moos und schlief ein. – – –

Und es ward Abend.

Da löste sich von einer Klunse, worin er sich verborgen gehalten, ein dunkler Falter. Ziellos durchschwirrte er die dämmerige Hütte. Die düstre Zeichnung eines Totenhauptes lastete auf seinem Rücken. Er ließ sich auf die Stirne des Schläfers nieder.

Sofort verfinsterte sich dessen Seele zu einem wüsten Traum.

Er stand auf leerer Höhe, und es war nicht Nacht noch Tag. Jenhalb eines undeutlichen, schwarzen Tales hob sich der Kamm eines fremdschauerlichen Gebirges. Dunkle Wolkenzungen leckten darüber empor, Vorflieger dem Sturme. Sie zogen auf und hetzten über den Himmel. Der Sturm aber schwoll durch die wetterbrünstige Nacht und zerrte eine Wolke über den wankenden Gebirgsgrat, eine Wolke, brennend und eisern. Und diese Wolke trug pochende Rosshufe und zückte gelbe Blitzgeißeln. Endlich barst sie und spie Wolfsgeheul und Rabenflug aus und quirlenden Wahnsinn. Und eine schwarze Faust griff aus ihr heraus, griff ehern nieder auf das Herz des Stierhüters.

Der Wode.

Tiefste Angst sprengte diesen Traum in Splitter. Doch die krampfende Hand auf des Erwachten Brust fing an zu rütteln. Der Jörgel sah die Hütte von unruhiger Helle erfüllt, er sah einen ungeheuern Schatten an der Wand lehnen und Trambalken und Decke tragen, sah eine lebende Gestalt furchtbar über sich gekrümmt, einen Raben auf dem Haupte.

Der Wode!

Das Spukgetüm rüttelte wieder. »Steh auf! Hüten musst du bis Mitternacht.«

Nun erkannte der Jörgel den Rueprecht und auch den kahlen Raben, der auf dem Maßholderbaum gesessen.

»Steh auf! Tu nit so langsam, als ob du krätzig wärst! Wann die Mahdersterne überm kleinen Osser stehen, weckst mich auf.«

Noch durchschaudert von dem bösen Traumgesicht, erhob sich der Junghirt. –

Finster gähnte schon die waldwilde Talung und drüben starrten die Berge, mit ihren Vorbüheln zu einem einzigen Schwarz verschmolzen.

Der Jörgel schürte das Feuer mächtig auf, um das Unwild zu verschrecken. Lange noch hörte er den Einäugigen in der Hütte mit dem Vogel reden und ihn »Hoimannl« nennen und das grässliche Krähen erwidern.

Die Stunden zögerten, schwärzer ward die Nacht, heller das Sternland oben.

Der Hüter holte das zum Verschüren aufgeschlichtete Holz und atzte die Flammen mit pechigem Kieferscheit und prasselndem Reisig. Und das Feuer wachte und atmete und stand loh in der Finsternis, spielend seinen Schein über die breiten, fahlen Rücken der müden Stiere legend, die es umlagerten. Dann die schweigende Lichtung, mählich mündend in den starren Ring aus Wald und Stauf.

Im Walde, der schwarzehern gegen die Sternenhelle abstand, hob sich je und je ein träumelndes Rauschen, wenn sich die Luft aufraffte. Aber die Nacht schöpfte mit hohler Hand dieses Rauschen und trank es aus. Da ward eine mächtige Ruhe.

Riesig reckte sich die große Osserzinne, sie gebot den Sternen.

Jenhalb der tiefen Talfurche ruhten die andern Berge wie eine Herde finstrer Riesenstiere.

Jörgel saß am Brunnen und sah die Sterne oben schießen. Das Wasser aber gurgelte dünn in den Einbaum, und das war wie eine seltsame Rede. Die Wacholderbüsche fisperten nimmer. Nur die Tiere atmeten.

Sie atmeten und ihr Hüter wachte. Ein uralter Reimsegen war in seiner Seele.

»Mit hellem Mut treib ich die Stiere aus,
Ich weiß es, überall ist Sankt Herrgotts Haus,
Herr Jesuchrist, der höchste Himmelsmann,
Sein große Kraft braust über Berg und Tann.
Herr Christ, ich bitt dich um dein bitter Leid,
Geh nieder du auf Wald und Wunn und Weid!
Vernagel dem Wolfhund den roten Rachen,
Dass Rüde und Fähe kein Schad nit machen!
Brich dem Bären den schneeweißen Zahn,
Dass er gebannt und siech muss stahn!
Herr Christ, dass keine Not sie sehrt,
Hilf hüten mir mein gute Herd.«

Kühl hauchte der Brunnen, und der Wächter hüllte sich fester in sein Luchsfell.

Groß und schwarz und feindlich standen die beiden Zinnen gegen einander, als trügen sie als Erbe den Hass der wilden Männer, die vormals von den Riesenkanzeln Felsen auf einander geschleudert hatten.

Und wieder strebte Jörgels Blick sternenwärts, wo die drei Mäher zögerten, und wieder versenkte er sich in die losende Nacht, bis auf einmal das Feuer, wie aus Halbschlaf erwachend, aus seiner Versunkenheit sich dehnte und hoch über sich hinauswuchs.

In dem Lichtring, der die Grenze des Dunkels jäh zurückgedrängt hatte, stand ein Wolf. Triefend waberte ihm die Zunge aus dem Rachen. Die dürre Luft musste seinen Gaumen durstig gemacht haben, so dass er quellverlangend des Feuers nicht achtete.

Jörgel Klingseisen saß wie angebannt. Eine Hasenangst schoss ihm aus der Seele in die Kiefer, so dass sie wackelnd und scharrend gegen einander stießen. Bebend drängte sich der Wachthund zwischen seine Knie.

Der Wolf tat sich nieder, gähnte und stand wieder auf. Seine Lunte fegte über die Flanken. Dann näherte er sich. Er hinkte.

Ängstlich meckerten die Ziegen hinter den Planken, ein Stier erhob sich bestürzt und ahnungsvoll.

Da ermannte sich der Knecht. Ein Stoßgebet zischend zu Maria, der heiligen Gottesdirn, riss er brennendes Geäst aus der Glut und rannte auf das Untier los.

Schweigend wich es und hinkte hastig dem Walde zu.

Als die drei Mäher über der kleinen Osserspitze sternten, weckte der Jörgel den Alten.

»Riegel dich, Rueprecht!«

Der Schläfer fuhr auf und hob abwehrend den Arm. Er stöhnte: »Wer bist du? Bist du es wieder Mathes? Was kehrst du bei mir ein? Du hast ja nix mehr zu suchen auf der Welt.«

»Ich bin es, Rueprecht! Dir träumt was«, versuchte der andre ihn zu beruhigen.

Doch der Alte keuchte: »Der wilde Jager hat dich genommen, Mathes, nit ich!«

»So schau doch her, wer ich bin!« rief der Jörgel dem Traumhäuptigen zu und warf ein Wacholderreis auf das Feuer des Steinherdes, dass ein Flammenstrauch knisternd emporwuchs.

Aber jedes Trostwort blieb dem Burschen im Halse stecken, als er in der Helle das Gesicht des Einäugigen schaute.

Es war wüst verzerrt. Die Zunge hing ihm zwischen den mächtigen Zähnen heraus. Er sah aus wie einer, den der Herrgott gezeichnet hat.

Und auf seiner Stirn saß ein großer Falter wie ein vom Tode hingeküsstes, finstres Mal.

Auf den Jörgel aber ging eine Ahnung nieder, schwer wie ein fallender Baum.

Er schrie den Alten an: »Hörst, wie ist der Mathes hingefahren?«

Der Rueprecht Hundsesser war ganz wach worden.

»Ah du bist es, der neue Hüter! Hast mir in den Schlaf hineingelost? He?!«

In seinem Augenstern brodelte es, aber er würgte die Wut hinunter und verließ die Rauchhütte. –

In aller Frühe kroch der Jörgel aus dem Bau. Er hatte die lange Nacht das Auge nicht geschlossen.

»Der Hiesel ist davon«, murrte der Alte ihm entgegen. »Es ist geschehen, wie du gewacht hast. Musst ihn suchen im Gehölz!«

»Mir ist er nit davon«, trotzte der Jüngere, »hol dir ihn selber!«

»Du faule Wildsau du!« fauchte Rueprecht, vor Wut blau wie der gebrochene Strunk eines Giftpilzes. Doch als der andere mit der Faust ausholte, wich er, feig und hinkend, wie nächtens der Wolf gewichen war.

Wie der Wolf! Ja, so ist der räudige Schuft gestern auch dem Walde zugeschlichen, so dürr, so bucklig, so schweigend. –

Bluthart musste es dem Hinkenden werden, den Stier aus dem wilden Wald zu holen. Drum blieb er auch anfangs am Vorholz stehen und bettelte rufend in die Wildnis hinein.

»Hieselo! Weißschädliger Stiero! Kumm außer do!« Höhnend gab der Widerhall die langgezogenen Rufe zurück.

»Stierl, kumm her! – Die Hörner lass ich dir vergolden. – Ich schenk dir einen Eimer Met, kannst dir einen süßen Rausch saufen! Hiesel geh her, ich bitt dich recht schön!«

Dröhnendes Echo und versunkene Ruhe erwiderten.

Nun aber prallten Drohungen und Flüche wie ein Schauer gegen den Wald.

»Der Veitstanz soll dich beuteln, du verfluchte Rauhnacht! Erwisch ich dich, einen Korb Wasser kriegst heut zu fressen und einen Zuber voll Steine.«

Immer wüster wurden seine Verwünschungen, immer ferner kamen sie aus dem Wald, bis sie verstummten.

»Der stampft sich Staffeln in die Höll mit seinem Schelten«, dachte der Jörgel. –

Es war ein funkelnder Morgen.

Drüben ruhte hinter den Schleiern des Erdrauches eine gewaltige Berggemeinde, Ötwech und Enzian und Schwarzeck, die zackigen Rauchröhren. Milchiger Nebel kochte um die Sohle des Hochbogens. Es war, als erfülle sich das Märchen, dass einst die Milch der sagenhaften Riesengeiß, die in dieses Berges Wipfeln grase, das Tal ersäufen solle.

Die Sonne wandelte, und der Schatten drehte sich um den Wacholderstock, aber der Hinkende blieb aus.

Sommerlich sumsten die Fliegen, müdsonnig neigte sich der Nachmittag.

Umsonst spannte der Hirt sein Gehör an. Totenstille. Nur hin und wieder aus des Hochforstes Fernen ein rätselfremdes Klingen, unbeschreibbar Tun seinem Wesen, von nie erkannten Dingen rührend.

Die Einsamkeit ward immer größer und furchtbarer. So suchte der Knecht Zuflucht bei seiner Ziege; den Kopf in das Zottelfell drückend, molk er sie und schmeichelte: »Bist mein einziges Gut jetzt, Milchbrünnel.«

Das Tier aber zitterte.

»Was fürchtest dich denn, dumme Dingin?« lächelte der Melker und blickte umher.

Der kahle Rabe war wie ein Schatten auf die Schwelle der Hütte niedergefallen und lugte nun argwöhnisch herüber.

Die Schatten der Berge wuchsen über die Tiefe. Und der Knecht ergriff, die Stille zu übertäuben suchend, sein Horn und blies – und blies, – bis ihn eine klägliche Tierstimme rief.

Die Stiere standen schnaubend und zusammengedrängt, einige biesten mit erhobenem Schwanz wie unsinnig über die Lichtung.

Hinter einer zwergigen Föhre hatte die Ziege gerufen. In wenigen Sprüngen erreichte sie der Knecht. Wolfjo!

Das graue Untier stand vor ihm. Es hatte nur ein Auge und das war toll.

Flackerjäh erwachte es in dem Manne.

»Rueprecht!« schrie er das Tier an.

Es antwortete mit einem heiseren, seltsamen Laut, es antwortete mit einem Blick, woraus die Hirnwut stach, und entging in hinkenden Sprüngen der geschleuderten Axt.

Das Milchbrünnel aber lag mit zerrissener Gurgel da und reckte alle Viere von sich und das Schwänzel auch.

Wütend vor Schmerz haschte der Jörgel den Raben.

»Du bist sein Gesell, du weißt alles von ihm! – Red, ist der Rueprecht der Wulf oder nit? Was hat er gerad meine Geiß zerrissen? Warum nit eine andre? Gelt, aus Gall hat er es getan, weil er sich im Schlaf verraten hat? – Red, Rabenvieh, verdürrtes! Red, Hoimannl, ich weiß, dass du reden kannst!«

Mit morschem Schnabel wehrte sich der Vogel, doch der Knecht knickte ihm das mürbe Geschwing und drehte ihm den kahlen Kragen um.

Schon aber zwang der Rueprecht den vierschrötigen Stier daher, unbarmherzig auf das Tier losschlagend. Der Alte sah furchtbar aus: Gewand und Hemd waren ihm zerfetzt, dass die dürren Rippen herausbleckten; der Schweiß regnete von ihm nieder; blutig zerschrammt war die Haut. Und als er das erwürgte Hoimannl erspähte, da gierte aus seinem Auge der Wolf, nein, eine Horde hirnwütiger Wölfe, heraus.

»Wie er auf meine Gurgel schaut!« dachte der Jörgel grausenüberrieselt. Laut schrie er den Feind an: »Was hast du dir jetzt gedacht?«

»Ich denk mir, du sollst wieder ins Dorf hinunter reisen.«

»Am Sankt Klimpimperlitag reis' ich, wenn die Schnecken biesen.«

»Wirst bald landräumig werden, wirst bald gehen!« beharrte der Alte.

»Ich nit, – aber du musst gehen – zum Blutschergen!«

Die Blicke in einander gekrampft, standen die Einöder gegen einander, schweigend, hart, wie die Felsenschleuderer, wie die zwei Zinnen des Ossers. Ein scharlachen Heuschrickel schnarrte zwischen sie hindurch.

Und der Hass schäumte in dem jungen Knechte über und er zischte: »Spring mich nur an, – du Werwulf!« –

Ein furchtbarer, ein heiserer, menschenfremder Ton gurgelte aus des andern Kehle.

Bös wie eines Schinders Hund hatte der Beschimpfte ihn noch angeschielt, ehe er davon tat und im Geklüft des großen Ossers verschwand.

Die heiße Erregung, worin sich der Jörgel befand, ließ ihn nicht lange überlegen. Er glaubte, nun werde irgendwo im Felsschlupf der missetätige Mensch in die Wolfshaut fahren und ihm an Leib und Leben gehen. Denn der Rueprecht müsse ein Ungeheuer sein, vor dem kein Wolfssegen feie.

Die Sonne ging ein.

Über die dämmernde Blöße, über rolliges Gestein und ansteigendes Blockwerk raste der Knecht dahin. Das klüftige Geschröfe wies ihn ab. Aber immer wieder klomm er aufwärts, sich an Wurzeln haltend, die aus des Steines mulmiger Verwesung karge Nahrung holten, denn hie und da wuchs ein zottiger Felsbaum verwogen über den Abgrund hinaus. Kriechendes Legholz hinderte tückisch den Fuß, schüttiges Getrümmer lockerte sich unter ihm.

Die Knie brachen dem Hirten schier, der Atem stieß durch seine Zähne wie ein scharfes Messer, aber er ließ nicht nach. Er musste dem andern noch einmal begegnen und sollten sie beide auch daran zugrunde gehen wie verkämpfte Hirsche.

Endlich stand er verkeuchend am Gipfel; drüben tat sich neu und weit die Welt auf, fremde Hochkämme lagen im Zwielicht.

Der Jörgel empfand das nur flüchtig. Er schaute nur den Feind.

Der war noch von Menschenleder umschlossen. Am Rande der Zinne saß er, mit dem Rücken gegen den Jörgel; die Füße hingen ihm in den Abgrund hinunter. So hockte er ahnungslos, etwas verkrümmt und den Kopf gegen die Tiefe geneigt.

Der Wind winselte seine Klage in des Jungknechtes Ohr. Und der Jörgel dachte: »Wie ihm die Schuld den Kopf niederdruckt! O, die Schuld, die ist eine Sense im Magen! – Erschlagen könnt ich ihn, wenn es nit eine Sünd wär!«

Er kroch näher, unhörbar wie auf den Branten eines Waldkaters, kroch so nahe, dass er die nach Herdrauch stinkenden Kleider des anderen roch.

Der Rueprecht Hundsesser aber tat etwas Seltsames. Den Oberkörper weit über den Absturz hinausbeugend, redete er hinunter. »Heut ziehst du wieder stark, – du erziehst mich aber doch nit!«. Und hastig riss er den Rumpf wieder zurück. »Hättest mich schier erwischt.«

Der Rueprecht redete mit der Tiefe, spielte mit der Tiefe. Grauen packte den Lauscher.

Und der Rueprecht wiederholte sein Spiel. Weiter noch beugte er sich vorüber, in den klaffenden Grund fragte er hinab. »Mathes, schläfst? Nur einmal solltest du mir es erzählen, wie es ist, das Hinunterfallen.«

Jetzt erhob sich der Jörgel hinter ihm wie ein Richter. Erschreckt schnellte der Alte den Leib zurück und wandte sich: es gab keine Flucht zwischen Beil und Abgrund.

»Bist du der Wulf?« brüllte der Jungknecht

Glimmend traf ihn des Alten Blick, traf ihn schier mit der Wucht eines Stoßes, traf ihn wie ein Hammer, aus Hohn und Hass geschweißt. Und der grüne Blick versank lautlos und mit ihm der Mensch. Nur noch ein Rieseln, ein Aufschlagen irgendwo in der Tiefe – und dann Ruhe.

Den Jörgel zog es aber gewaltig, den Feind verenden zu sehen. Rollend und rutschend, springend und stürzend, von Steinschlag begleitet, auf gut Glück ging es nieder. Immer wieder erhob er sich mit blutenden Gliedern.

Nur ein Block noch war zu überwinden, mächtig und finster, als verschlösse er die Hölle. Der Pestgeruch eines Aases stieg auf.

Nun war der Knecht herunten, er bog um den Fels. –

Da stand mit des Rueprechts hassglimmendem Einauge grau und dürr und schemenhaft vor ihm der Werwolf.

Mit einem Schrei, den Raserei durchflackerte, sprang der Stierhüter zurück und jagte in die verworrene Nacht des Urwaldes hinein.

Sieghaft aber heulte der Werwolf durch die Öde.


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