Jakob Wassermann
Der Aufruhr um den Junker Ernst
Jakob Wassermann

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XV

Die Nachricht von der Einkerkerung des Junkers von Ehrenberg war nach Verlauf von drei Tagen im ganzen Bistum und weit darüber hinaus bekannt geworden. Trotzdem der Pater Gropp den ihm unterstellten Geistlichen verboten hatte, etwas davon verlauten zu lassen, wußte man bereits am folgenden Morgen das Geschehene in den entferntesten Teilen der Stadt, und da die Kunde im Schloß nicht geblieben war, konnten ihr auch die Stadtmauern und -tore kein Hindernis entgegensetzen, sie eilte von Dorf zu Dorf, von Weiler zu Weiler, von Bezirk zu Bezirk, von Siedlung zu Siedlung, mainauf- und mainabwärts, nach Norden und nach Süden, und wie durch einen geschwinden und geregelten Botendienst wurde sie nach Frickenhausen und Rinderfeld so gut wie nach Scheinfeld und Ludwigsbad getragen, in die Spessarteinöden wie in die Weinberge bei Kitzingen. Man erzählte sichs in den Schenken, auf den Märkten, in den Schrannen, in den Kirchen, die Fuhrleute auf den Landstraßen teilten es einander im Vorbeifahren mit, die Bauern beim Mähen auf den Wiesen, die Weinheger beim Binden, die Landsknechte an den Lagerfeuern, die Bettler, Zigeuner, Mönche und wandernden Scholaren boten es als Gegengabe für Almosen. Die alten Leute schüttelten kummervoll den Kopf, was konnte an dem edlen Junker Teuflisches gewesen sein, da sie nur von der Freude wußten, die von ihm ausgegangen war. Der Würzburger Magistrat erhielt vom Hauptmann einer Räuberbande im Odenwald einen lateinisch geschriebenen Brief, worin die sofortige Freilassung des Junkers gefordert wurde, andernfalls sollte die Stadt angezündet werden. Das alles war aber nur wie oberes Gekräusel im Vergleich zu der Bewegung in den Gemütern der Jugend, der Kinder. Die Tausende und Tausende in den zahllosen Orten, die ihn gesehen und in wohlbereiteten Stunden seinen Geschichten gelauscht hatten, konnten ihn nicht vergessen, er war mit ihrem ganzen Denken eins, er erschien ihnen wie ein leibhaftiger Feiertag, etwas, wovon man lang vorher und lang nachher spricht und was einen glücklich macht. Der Junker, das Wort hatte in manchem Mund einen Ton von Zärtlichkeit, den vielleicht das übrige Leben nie wieder aufklingen ließ, den Ausdruck einer Erwartung, der sich eben nur dies eine Mal und bei dem einen Menschen erfüllte. Warum hätten sie dem schönen Traum nicht dankbar sein sollen, den er in ihr Herz gepflanzt hatte wie eine zauberische Blume in ein sandiges Stück Erdreich, warum hätten sie ihn nicht herbeiwünschen sollen, da er sie lehrte, das Wunderbare zu benennen und das Trübselige zu vergessen? Als es ruchbar wurde, der geliebt Ersehnte schmachte in Ketten in der Münze zu Würzburg, flutete zunächst ein schauriger Schrecken durch die jungen Seelen, wie wenn es plötzlich am hellen Mittag Nacht geworden, mitten im Sommer der Mainstrom gefroren wäre. Aber noch war kein Wille da, kein aufwallender Geist, trotzdem sich da und dort die Betroffenen zusammenrotteten und die Ältesten scheu einander fragten, was zu tun sei, denn nichts zu unternehmen und still sich fügen, dünkte ihnen unerträglich. Der Anstoß zum Handeln kam jedoch bald und riß sie unwiderstehlich mit.

Der Bruder Felician hatte gegen die Präzeptoren der Alumnen geplaudert, Peter Mayer hatte das Gespräch belauscht. Während seine Kameraden in mutloser Bestürzung verharrten, war er gleich von Anfang an zu tätigem Eingreifen entschlossen, und da er sich ohnedies im Alumnat unglücklich fühlte, benutzte er einen unbewachten Augenblick, um zu fliehen. Bei der Heiligengeistkirche traf er den Silberhans und teilte ihm aufgeregt seine Wissenschaft mit. Der Silberhans, der nur auf eine Gelegenheit paßte, seinem müßigen Herumstrolchen ein Ende zu machen, wußte den Studiosus Barger und den Rotgerber Batsch in der Stadt, und während er mit denen seine Verabredungen traf und gemeinsam mit ihnen für die Ausbreitung der Kunde sorgte, entwischte Peter Mayer aus dem Heidingsfelder Tor und versammelte seine Freunde in den Dörfern der Kitzinger Gegend um sich. Sechzehn Stunden lang war er unterwegs. Die Flamme, einmal gelegt, lief hurtig weiter. Die Kinder des einen Dorfes verständigten sich mit denen des andern, von einer kleinen Stadt zur nächsten wurden Beschlüsse gemeldet, am Donnerstag vor Peter und Paul stand es bereits fest, der Junker müsse befreit werden. Wir wollen den Junker wieder haben, hieß es, wollen ihn aus dem Kerker holen, das Wie und Wann wurde einstweilen nicht erörtert, doch brachten Zuläufer aus Würzburg in Zwischenräumen von Stunden geheime Befehle, die auf unbegreiflich schnelle Weise durch die ganze Landschaft flogen. Am Freitag und am Samstag begaben sich zahlreiche Scharen vor das Ehrenberger Schloß, standen stundenlang im Hof, schauten an den Mauern hinauf, tuschelten und raunten miteinander, am Abend riefen sie den Namen des Junkers, wie um sich zu überzeugen, daß er nicht da war, wenn sie keine Antwort erhielten. In der Nacht zum Sonntag, wo das Schloß in Flammen stand, kamen sie zu vielen Hunderten, Kinder von Bauern, Holzknechten, Hirten, auch ein Dutzend Gesellen von der Karlstädter und Ochsenfurter Innung hielten Kriegsrat beim Schein der Feuersbrunst, einer, ein gewisser Göbeling, redete laut und feurig, dann zogen sie allesamt auf Würzburg zu, weithin beleuchtet von der brennenden Burg und den ganzen nächtlichen Weg entlang aufrührerische Lieder singend. Niemand wußte, von wo das Gerücht ausgegangen war, aber es war kund geworden, der Junker solle am Freitag Mariae Heimsuchung, zu Mitternacht, vom Leben zum Tod gebracht werden, so wurde der Freitag für den Hauptstreich bestimmt, um die Sonnenuntergangszeit sollte der Junker aus dem Gefängnis befreit werden. Inzwischen waren auch die Würzburger Kinder gewonnen worden, sie stellten einen großen Anhang, und oft waren die am eifrigsten bei der Sache, die nur vom Hörensagen wußten, was es mit dem Junker auf sich hatte. Der Marienberg mit seinen unwegsamen Hängen und Schroffen war das Standquartier der Abgesandten und Vorausgeeilten aus dem Gau, sie hatten in den gefährlichen Plan Ordnung, in die wirren Haufen der stündlich neu Zuströmenden Zucht zu bringen. Am Fuß des Festungsbergs war eine verborgene Mauertür, der Posten dortselbst, seit Jahren der nämliche, ein krummer Invalide, der in einem Wachhäuschen wohnte, wurde vom Rotgerber Batsch und vom Dominik Eisenbeiß, einem Zimmermannslehrling, jeden Abend besoffen gemacht, dann kamen die Verschworenen, die sich vorher sorgfältig am Fluß und in den Weinbergen versteckt gehalten, unter der Führung der älteren, sechzehn- und siebzehnjährigen Burschen, dunkel unabsehbar angerückt.

Wunder genug, daß das wühlerische Treiben, Versammlung und Auflauf allenthalben, so wenig in der Stadt bemerkt wurde. Es war schwerlich der dabei geübten Vorsicht allein zuzuschreiben, die allgemeine Ratlosigkeit und Verstörung hatte großen Teil daran, und daß kein Verrat geschah, hatte seinen Grund sowohl in der verzweifelten Taubheit und Blindheit, von der die Bürgerschaft geschlagen war wie auch in der stummen elementaren Flutung des jugendlichen Ansturms. Viele Zeichen erregten freilich Verwunderung, es wurde herumgefragt, es wurden Warnungen laut, aber niemand konnte Genaues sagen, und niemand hatte Lust, ein Unheil zu verhüten, von dem man nicht wußte, nach welcher Seite es drohte, im Gegenteil, die meisten wünschten, es möge was Furchtbares geschehen, da ihr Geist der quälenden Angst müde war. Dazu kamen die Gerüchte aus dem bischöflichen Palast, einige sagten, der Bischof sei nun selber besessen, der Pater Gropp bemühe sich, ihn mit Beschwörungen aus Satans Klauen zu reißen, andere erzählten, die Freifrau von Ehrenberg habe ihm die schwere Krankheit angehext, andere wollten erfahren haben, der Erzherr von Mainz habe gegen das grausame Wüten des Amtsbruders ein Breve erlassen und die Dinge würden sich nun zum Bessern wenden. In all dem Gerede steckte Wahres, der Bischof war wirklich krank, er lag in seinem Veitshöchheimer Sommersitz, das kalte Fieber warf ihn herum wie einen Ball. Die Bezichtigung der Freifrau, hatte sie ihn auch nicht zur Einsicht gebracht, so hatte sie doch seinen Sinn unheilbar verwirrt, mit Schaudern sah er sich in den mystisch rauchenden Abgrund gewirbelt, von bleichem Schrecken erfüllt dieselben Argumente gegen sich gekehrt, dieselben Verdachtsmerkmale auf sein Tun angewendet, mittelst welcher er Jammer und Aberjammer auf seine Untertanen gehäuft. Um Luzifers Macht zu brechen, das wohl, aber dabei war der stille Vorbehalt gewesen, daß seine eigene Person wider die höllischen Versuchungen gefeit sei. War das nicht der Fall, so war er verloren, nichts konnte ihn retten, und während er sich stöhnend auf seinem Lager wälzte, schickte er bald Gebete zum Himmel, bald rief er den Namen des Junkers; in Fieberbildern mit ihm sprechend, rechnete er sichs hoch zum Verdienst an, daß er ihn vor der Folterung bewahrt, trotzdem ihn alles dazu verlockt, höllisch verlockt, wie er von Reuegeistern bedrängt kleinmütig zugab. Welchen Ursprungs war denn die Liebe, die er zu dem Knaben gehegt, daß er all sein Geld und Gut und vielleicht noch das Seelenheil für eine Zärtlichkeit hingegeben hätte, zugleich aber mit der grausig-geilen Lust, den Körper zu vernichten, der ihm solche Gefühle einflößte? Höllischen Ursprungs, das litt keinen Zweifel, so war er verworfen und durfte nicht mehr vom Richtersitz her verdammen. Er ließ den Secretarius Baumgarten kommen, befahl, daß alle wegen Hexerei und Zauberei Angeschuldigten zu entlassen seien, und unterschrieb das Dokument, das für den Pater Gropp bestimmt war, mit zitternder Hand. Der Pater traute seinen Augen nicht, als er es las. Von einem Tag zum andern das Hexengefängnis leeren, das bedeutete, alle Dämonen des Luftreichs entfesseln, die mühsam gesäuberte obere Welt der untern zur Beute vorwerfen, ein herrliches Werk war um seinen Ruhm, um seine Frucht gebracht, die Christenheit war in Gefahr. Er weigerte sich, den Befehl auszuführen, namentlich, was den Junker von Ehrenberg betraf, der ihm wie eine Art Kernsubstanz teuflischen Wesens erschien, wollte er von Ledigsprechung nichts wissen, sondern gab im Gegenteil den heimlichen Auftrag, den Knaben, obschon er ungeständig, in der folgenden Nacht, wie es ja längst bestimmt war, mit dem Schwert zu richten. Zur gleichen Stunde schickte er einen Boten an den Bischof und ersuchte um seine Beurlaubung zur Rückkehr ins Collegium, in der zuversichtlichen Erwartung, daß der Bischof ihn nicht entbehren könne und nicht werde ziehen lassen. Seine Bestürzung war groß, als die Antwort eintraf, in welcher ihm der Bischof den Abschied gewährte.

Die Heimlichkeit des Exekutionsbefehls nützte dem Pater nichts, der Secretarius Baumgarten, der dem Jesuiten feindlich gesinnt war, hielt sich nicht zum Schweigen verpflichtet, und obwohl das Urteil als Bestätigung eines schon gefällten Spruchs nichts Überraschendes enthielt, wirkte es durch die Kraft letzter Unumstößlichkeit wie eine aufreizende Fanfare. Endlich erwachten auch die Bürger und das geringe Volk aus der Erstarrung, viele erfuhren von der Verschwörung zugunsten des Junkers, aber sie wagten sich selber nicht zu rühren, der Druck, unter dem sie so lang gekeucht, hatte sie feig gemacht, sie schlossen sich in ihre Häuser ein und warteten, was geschehen solle. Am Freitagnachmittag um vier Uhr begann das große Hereinströmen der Kinder durch die Stadttore, die Wachen standen mit offenen Mäulern da, die Offiziere wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten, eh die erbetene Ordre vom Kommandanten kam, war die zudringende Menge nicht mehr zu stauen. Vom Steinberg wogten sie herunter, vom Marienberg wimmelte es ameisenhaft herab, blaue grüne rote Fähnchen flatterten in der Sonne, Stimmengetöse wie von einem millionenfach verstärkten Grillenkonzert erschütterte die Luft. Beim Aschaffenburger Tor wollte die Wache die Zugbrücke aufwinden, in das Gerassel der Ketten hinein schallte das entsetzliche Angstgeschrei der Kinder, fünfzehn oder zwanzig stürzten in den Graben und ertranken, ein aus der Stadt kommender Reiteroffizier geriet in Zorn über das Verbrechen der Torwache und hieb mit dem Säbel unter sie, die Brücke wurde wieder herabgelassen, da man, wie der entrüstete Hauptmann zu verstehen gab, die Kinder doch nicht als erobernde Feinde betrachten und, wenn sie auch Feindliches im Sinn hatten, sich ihrer nicht durch solche heimtückische Tat erwehren dürfte. Aber die Nachricht von dem Geschehnis fand erbitterte Verbreitung, es verlautete, Hunderte seien im Stadtgraben ersäuft worden, und der Ungestüm der Eindringlinge hatte keinen Zügel mehr. Um fünf Uhr war die Menge ins Unübersehbare gewachsen. Es ist wie Ungeziefer, wie Heuschreckenschwarm, drückte sich der ratlose Bürgermeister gegen seine Amtsgenossen aus. Vor der Pfarrkirche, auf dem Domplatz, vor der Neumünsterkirche war das Gedränge derart, daß man über die Köpfe hätte gehen können, um sechs Uhr begann es von allen Kirchen Sturm zu läuten, die Stadtsoldaten zogen auf, die Schloßwache blies Alarm, auf dem Marktplatz formierten sich Bürgerwehren, ein paar Dutzend schüchterne Männlein, die nicht wußten, was sie sollten. Etwas vor sieben Uhr marschierten durch die Katharinengasse die Zöglinge einer Prämonstratenser-Klosterschule nach Hause, Knaben und Mägdlein von fünf, sechs, sieben Jahren, sie waren bei einer Feier gewesen, kamen vom Käppele, der Wallfahrtskirche am Marienberg, vorn schritten drei Musikanten mit zwei Posaunen und einer Zinke, dann Paar um Paar die Schüler mit ihren Lehrern, dann wieder drei Musikanten mit Geigen, darauf die Mädchen mit Blumenkränzen auf den Haaren, Blumensträußen in den Händen und die Gebetbücher unter den Armen. In kürzerer Zeit als man braucht, um ein Vaterunser aufzusagen, war das wandernde Idyll von den daherflutenden Haufen zerrissen und verschluckt, mitgeschwemmt durch die Gassenschluchten, an deren beiden Seiten sich die Bewohner aus allen Fenstern lehnten, in stummer Neugier und Bangigkeit, Namen wurden gerufen, manche erkannten ihre Söhne, Töchter, Enkel im Gewühl, Gesichter reckten sich empor, lachend, drohend, spottend, es war ein nichtendendes Wogen von blonden, braunen, schwarzen Zöpfen und Schöpfen, aus den Nebengassen wälzten sich immer neue Massen herzu, da sind die Dettelbacher, hieß es, da die Obernbreiter, die Ippesheimer, die Mainbernheimer, die Ochsenfurter, die Rimparer, die Zeller, die Karlstädter, die Retzbacher, die Volkacher, die Marktbreiter, oder es schallte dem einen und andern verdienstvollen Führer entgegen: Grüß Gott, Hans Christoph, grüß Gott, Metzgerschorsch, heiho Imsinger Diebold; wo sich die bewaffneten Knechte blicken ließen, wurden sie mit ihren Hellebarden einfach fortgespült, die Salvaguardi des Bischofs vermochten so wenig auszurichten wie der Zug von Dominikanermönchen, der mit erhobenen Armen und einem vorgetragenen Kruzifix den Eingang zum Juliusplatz versperren wollte. Die ganze Menge trieb wie von selbst gegen die Münze hin.

Dort, auf dem mäßig großen Halbrund, das uralte Häuser zurücktretend bildeten, hatten sich schon zwischen sieben und acht Uhr ein paar Hundert Aufrührer eingefunden, und als die Zeit vorrückte, verlangten die Kühnsten Zutritt zum Gefängnis, ein Vermessen, das die drei würfelspielenden und pfeifenrauchenden Wächter mit verächtlicher Lache beantworteten. Auf ihr eindringlicheres Fordern drohten sie, ihnen die Köpfe einzuschlagen, aber da kamen schon aus allen Richtungen und Gassenzeilen Haufen der Verbündeten, die Wächter erschraken, begriffen nicht, was im Zuge war und schlossen eilig das Tor. Wütendes Geschrei brandete an den schwarzen Mauern empor, wurde aufgenommen, erneut und wiederholt von den geteilten Armeen, die sich nun in eine einzige zusammenknäulten. Es wurden tausend, es wurden zweitausend, es wurden fünf- und achttausend, und noch immer waren die Gassen, so weit man sehen konnte, voll von den halbwüchsigen Gestalten. Die Vordersten hatten Steine aufgelesen und schleuderten sie gegen die Fenster, daß eine Viertelstunde lang nur helles Glasgesplitter zu hören war, andere rissen Pflöcke aus den Zäunen und fingen an, das Tor zu rammen, der Studiosus Barger, ein vagabundierender Malergesell namens Koselick und Peter Mayer übernahmen den Oberbefehl, die Gitterstäbe an den erdgeschössigen Fenstern wurden ausgebrochen, es gab kein Halten und kein Hindernis, die zahllosen schwachen Arme vereinigten sich zur Kraft von Riesen, das Eichentor hielt nicht stand, die Wachmannschaft ergriff die Flucht, wenige Minuten nachdem es acht Uhr vom Domturm geschlagen, ergoß sich die erregte Menge unter ohrenbetäubendem Stimmengetöse, Jubelgebrüll und Triumphgesängen in das verödete Haus, schob und wälzte sich in alle Gänge aller Stockwerke und ein tausendfacher Schrei: Der Junker! Der Junker! widertönte von den Gewölben. Peter Mayer, überall vornedran, machte die Zelle ausfindig, in der der Junker gefangen saß, er herrschte den Wärter um den Schlüssel an, schon war der Batsch an seiner einen, der Silberhans an seiner andern Seite, sie hoben ihre Pistolen gegen den Zaudernden, dreißig, vierzig Burschen hämmerten mit Knütteln an die Zellentür, der Silberhans drängte sich mit dem Schlüssel durch, die schwere Tür flog auf, da stand der Junker, blaß, still, unendlich erstaunt, hinter ihm der Pater Spe, aber die Eindringenden sahen bloß ihren Geliebten, stürzten auf ihn zu, zwei ergriffen ihn und hoben ihn auf ihre Schultern, die andern vollführten einen ausgelassenen Freudentanz, wir haben ihn, wir haben ihn, jauchzte es durch die Flure, über die Stiegen, sie trugen ihn wie aus dem Grab heraus in den leuchtenden Abend und wurden unterm Tor von einer die ganze Atmosphäre erschütternden Jubelsalve von den ungeduldig Harrenden empfangen, die so dicht standen wie Gras auf der Wiese.

Im Gefängnis drinnen öffneten sich noch viele Türen. Eine Anzahl Bürger und Handwerker hatte mittlerweile gleichfalls das Gebäude besetzt, sie hatten sich unter dem Schutz des Aufruhrs ein Herz gefaßt und wollten sich ihrer Angehörigen versichern. Pater Spe schuf sich mühsam Raum, hielt Umfrage nach der Freifrau von Ehrenberg, entdeckte endlich mit Hilfe eines herumlungernden Bettelmönchs den eisernen Verschlag, wo sie in Gewahrsam lag, todesmatt, todesbleich, röchelnden Atems auf einem Bündel Stroh hingestreckt; es gelang ihm, den Mönch und einen buckligen Schlossergesellen zu bewegen, daß sie die Frau auf einer Bahre durch einen entlegenen Ausgang in das Haus des Propstes trugen, dort überzeugte er sich zuerst, daß sie gerettet werden konnte, wies die vor Freude keines Wortes mächtige Lenette an, was zu ihrer Pflege geschehen müsse, denn er nahm es darin an Kenntnissen mit jedem gelehrten Doktor auf, und kehrte sodann zur Münze zurück. Der Platz war leer, nur einige Nachzügler trieben sich in der Dunkelheit herum. Doch vernahm er von ferne noch immer das helle Jubelgebrause und folgte der Richtung, die ihm der wundersame Lärm wies. Er war noch nicht lang gegangen, da gewahrte er eine zum Himmel schlagende scharlachfunkelnde Feuergarbe, Häuser und Gassen hörten auf, er trat auf einen sanft ansteigenden Plan, die Bleichwiese, und bis zur Stadtmauer hinauf, deren Zinnen, efeubehangen in den schwarzblauen Äther hineinschnitten, war das ungeheure Gelände von den jugendlichen Aufrührern, Knaben und Mädchen, in verwirrendem Gewimmel bedeckt.

Dahin hatten sie den befreiten Junker getragen, immer zwei auf ihren Schultern, und wenn den zweien die Last zu schwer geworden, hatten sie zwei andere abgelöst. Sie wurden aber nicht leicht müde, die nach diesem Liebes- und Ehrenamt strebten, es waren Bauernsöhne, starke Kerle. In der Mitte der Bleichwiese stand ein bemooster Stein, da ließen sie ihn herabgleiten und setzten ihn hin wie auf einen grünen Thron. Weil es allgemach finster wurde und sie ihn vor allem anschauen wollten, schleppten sie Reiser, Zweige, dürres Wurzelwerk und trockenes Laub herbei, schichteten alles zu einem riesigen Haufen und zündeten den an. Eine gewaltige Flamme lohte auf, die dann fleißig genährt wurde, bei ihrem Schein strömte das ganze Aufrührerheer auf der Bleichwiese zusammen, alle wollten den Junker sehen, im gefährlichen Gedränge kletterten manche auf die Pappeln, die in weitem Bogen gegen die Stadtmauer standen, andere rollten leere Fässer aus der Weinschenke des Kaspar Bösen-Schwechelhoff herbei und stellten sich drauf, wieder andere fanden endlich die Gelegenheit, dem Junker ihre Mitbringsel zu überreichen, Käse, allerlei Früchte, frischgebackenes Brot, Bretzeln, in Blätter gewickelten Honig, Dinge, die sie seit vielen Stunden in den Taschen oder im Ränzel mit sich herumtrugen und die sie nun gleichsam als Huldigungsgaben vor ihn hinlegten. Dabei stießen und drückten sie einander, kleine Mädchen schrien vor Angst, der Junker sah, daß er den allgemeinen Eifer zähmen mußte, damit kein Unglück geschah. Er erhob sich und winkte mit der Hand, Jubel über Jubel aus unzähligen Kehlen, sie verstanden sein Begehren und blieben still auf dem Fleck, wo sie waren. Da ließ sich der Junker auf die Knie nieder und hockte sich auf die Fersen zurück, das war ihnen vertraut, so war er oft vor ihnen gekauert, wenn er seine Geschichten erzählt hatte, sie erinnerten sich und knüpften Hoffnung an die Erinnerung, Augenpaar um Augenpaar heftete sich verlangend auf ihn, im Bogen ab und auf sah er die jungen hungrigen, vom hochflackernden Feuer außen, von Begeisterung und Erwartung innen glänzenden Augen, nicht nur in der einen Reihe vor ihm, sondern in vielen Reihen hintereinander, immer ein Augenpaar zwischen zwei Köpfen, weit hinein, bis die Dunkelheit der Juninacht die Züge verwischte, Augen wie Feuerkäfer, wie schimmernde Steine, wie Metall und farbige beseelte Kugeln, und auf einmal brach es aus: »Erzählt, Junker! Eine Geschichte, Junker!« in allen Stimmen und Stimmlagen, die zwischen neun und siebzehn Jahren möglich sind, brechender Alt, heller Diskant, Zwitscherlaut und Gurgelton, immer neu erhoben der nämliche Ruf, der Schlacht- und Wahlruf, von Mund zu Mund durch hundert Reihen durch, vom äußersten Rand herüber, obgleich sie dort nur eine Trompete hätten hören können, nicht eine erzählte Geschichte. Als der Junker schwieg, als er beklommen vor sich hinschaute, das Haupt immer tiefer sinken lassend, fingen sie abermals an: »Erzählt, Junker, erzählt!« – »Vom Meister Grimmerlein!« – »Vom Schatzgräber Bodenlos!« – »Vom Alräunchen und der Silberfee!« – »Vom König Grünewald!« – »Vom wundertätigen Brunnen!«

Der Junker hob den befangenen Blick und ließ ihn suchend herumgehen, hilfesuchend schier, da gewahrte er unter den Kopf bei Kopf stehenden jungen Gestalten den Pater Spe, hoch und befremdlich verschieden von ihnen. Er hatte sich langsam durch sie Bahn gemacht, stand ruhig da, und aus seinen Augen, so anders als die Kinderaugen, erfahren und traurig, aus der Bewegung seines Mundes las, erriet, empfing der Junker die Mitteilung, auf die er mit schmerzlich gepreßtem Herzen gewartet hatte, und so gewartet, daß ihm alles dies nichts war, die Befreiung, der Jubel, der weite Himmel über der Welt, die werbenden Stimmen und strahlenden Blicke, alles nichts. »Botschaft von der Mutter bring ich und daß sie gerettet ist und leben wird«, hieß die Mitteilung. Er richtete sich auf, ein schwärmerisches Lächeln bebte um seine Lippen, und er sagte: »Ich will euch eine Geschichte erzählen, keine von denen, die ihr kennt, eine ganz andere, die Geschichte vom Junker Ernst von Ehrenberg, aber heut nicht, übers Jahr vielleicht, übers andere Jahr vielleicht, habt nur Geduld, um das eine bitt ich euch, nur Geduld . . . . . . . . . . . . . . . . .

 
Geschrieben Herbst und Winter
1925-26


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