Jakob Wassermann
Der Aufruhr um den Junker Ernst
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII

Von diesem Tag an lösten sich die Erfindungen und Eingebungen seiner Phantasie vom Wirklichen und den Menschen seiner Umgebung langsam ab, wie sich der Efeu vom Boden erhebt, wenn man ihm einen Halt anweist, von wo er gegen die Höhe wachsen kann. Geschichten erzählen, das war sein Eins und Alles, und vermutlich war er erst in jener Gewitternacht zum Wissen oder Ahnen davon gekommen, was das war, eine Geschichte. Daß man sie nicht hineinflicken durfte in den gemeinen Tag wie ein buntes Stück Stoff in ein abgeschabtes Gewand, daß sie selber ein schönes Gewand sein mußte, und der es verfertigte ein geschickter Schneider, und dem man es an den Leib paßte, einer, dem es auch gut zu Gesicht stand und der seine Freude dran hatte. Lange Zeit verging, vielleicht ein Jahr, da verhielt er sich überhaupt ziemlich still; es war, als schaue er sich vieles an und überdenke viel; beständig lag er Herrn Onno in den Ohren, er solle ihm Bücher verschaffen, Bücher, in welchen zu lesen sei, wie die Menschen leben, nicht die Menschen, die um ihn herum waren, sondern traumhafte Leute in fernen Ländern, Türken, Schweden und Engländer, auch die in der neuen Welt, aus der die goldbeladenen Schiffe kamen, wie er vernommen hatte; vom König Heinrich von Frankreich und seinem Mörder wollte er wissen; davon hatte der Magister einmal gesprochen, und des Junkers erregbarer Geist formte Bild auf Bild aus der bloßen Erwähnung. Herr Onno ließ sich erbitten und gab ihm ein spanisches Ritterbuch und eine Beschreibung vom Turnierstechen in Cambrai; da lag Ernst die halbe Nacht bäuchlings bei dem Öllicht, das immer in seiner Stube brannte, weil er sich vor der Finsternis noch als Dreizehnjähriger dermaßen fürchtete, daß er Krämpfe bekam, wenn er im Finstern einschlafen sollte oder erwachte; da lag er mit glühenden Wangen, der starre Zeigefinger glitt Zeile um Zeile übers Buch, und sein ganzer Körper war schweißbedeckt. Der Magister wurde des Wesens nicht mehr Herr; er stand davor und wußte sich nicht zu helfen; seine Ratlosigkeit wuchs, als der Knabe dann auf einmal im Haus nicht mehr zu halten und, kaum daß der Unterricht zu Ende war, entlief. Schnee und Regen konnten ihn nicht hindern, seiner mangelhaften Bekleidung achtete er nicht; er streifte durch den Wald nach Norden, über die Weinberge bis ins Maintal hinunter, kannte bald alle Dörfer und Gehöfte im Umkreis von zehn Stunden, schloß sich an allerlei Vagabunden an, saß bei den Bauern auf dem Feld oder, wenn sie droschen, in der Tenne, trieb sich auf den Jahrmärkten herum und vergaffte sich in Zigeunervolk und Possenreißer; wurde der bittern Not inne, von der die Menschen bedrückt waren, hörte die Klagen, die Seufzer, die Hoffnungen, die Gebete, sah Unrecht und Verstellung, Gewalt und Tod, tat eins zum andern wie viele kleine Gewichte, die zusammen ein großes ausmachen und mit denen man auf der Schicksalswaage die eine Schale beschwert, um die Last der andern zu heben und das Zünglein in die Mitte zu bringen. Was sich aber daraus ergab, war der Antrieb, von einer Welt Kunde zu geben, die eine andere war als die schlechte traurige und häßliche, die er sah und in der er so viele in unstillbarer Betrübnis sich mühen sah, von einer, die in ihm drin war wie ein Beet voller Blumen in einem Garten, von dem keine Seele was wußte. Es begann an einem Sommerabend, den Tag vor Fronleichnam; er ging durch das Dorf Günthersleben und hörte von einer Bretterbude her, wo für den Festtag Hühner gebraten wurden, Lärm und Geschrei, gewahrte näherkommend eine Menge Menschen, und ein Weib, die Budenbesitzerin, schrie auf einen Mann ein, den ein paar Burschen festhielten. Es stellte sich heraus, daß der Mensch einen der gerupften, noch nicht gebratenen Vögel von einer Stange, wo sie hingen, weggestohlen hatte; die Frau erspähte ihn gerade, als er die Flucht ergreifen wollte, mehrere herumstehende Kinder liefen ihm nach und hielten ihn auf; er sah recht verwahrlost aus, und wahrscheinlich war er unsäglich vom Hunger geplagt, denn er hatte das kurze Stück benutzt, noch dazu im Laufen, um den Hahn aufzureißen und was ihm von dem blutigen Innern in die Hand geriet, gierig zu verschlingen. Als das jammernde Weib hernach den Schaden besichtigte, fehlte eigentlich nur das Herz, das Herz hatte der hungrige Dieb verzehrt. Scheu standen die Kinder abseits, die ihn verfolgt hatten, Knaben und Mädchen im Alter zwischen neun und zwölf. Ernst trat auf sie zu und sagte: »Dem ist nicht wohl zumut, wenn einer ein Herz ißt, muß er alles vergessen, was mit ihm gewesen ist.« Die Kinder blickten ihn neugierig an, er lächelte und fuhr fort: »Ich will euch erzählen, wie das kommt, ich will euch die Geschichte von dem erzählen, der seines Hundes Herz aufgegessen hat.« Er setzte sich unter die Linde, die nahebei war, die Kinder versammelten sich um ihn, und je länger er erzählte, je gebannter hingen sie an seinen Lippen. Es war eine verhältnismäßig einfache Geschichte, aus dem lebendigen Anlaß herausgesponnen und unterstützt durch den alten Volksglauben, von dem er gehört, daß das Herzessen vergeßlich macht. Aber dazu erfand er passende Begebenheiten, von einem Jüngling, der nicht mehr weiß, wo sein Elternhaus ist, von einem Klausner, der in Gläsern viele Herzen von Menschen und Tieren aufbewahrt, von einem Waldgeist, der alljährlich in eine Landschaft verheerend einbricht und dem man das zerriebene Herz einer frommen Magd in den Wein gibt, wodurch erreicht wird, daß er den Weg vergißt und im Dickicht gefangen werden kann. Dies alles, sinnvoll verbunden, wie es ihm der Augenblick eingab, wurde zu einem schwebenden Gebilde, dessen Vortrag die jugendlichen Zuhörer mit Entzücken lauschten. Und da er dies einmal genossen hatte, Ziel leuchtender, gläubiger, dankbarer, ergriffener Blicke zu sein, verlangte ihn danach, es wieder und wieder zu genießen. Bald hatte er seine Lauscherschaft in allen umliegenden Flecken, Weilern und kleinen Städten, von Klingenberg und Wörth bis Esselbach und Tiefenstein, von Rothenbuch und Heimbuchenthal bis Hafenlohr und Marktheidenfeld. Wenn er von weitem in Sicht kam, liefen ihm seine Kunden schon entgegen; viele hatte er vielleicht erst mit dem Gefühl ungeduldiger Erwartung bekannt gemacht; sie lachten ihm zu, umringten ihn, brachten ihm Birnen, Trauben, Pfefferkuchen, Honigzucker; er setzte sich auf eine Gartenmauer, unter einen Baum, bei schlechtem Wetter in einen Scheunenwinkel, in eine Schifferhütte am Main, unter eine Brücke; sie alle um ihn her. Und nun hieß es: Erzählt, Junker; vom Daumenklein; von der Sternenjungfrau; vom Hinzelmann; vom wilden Jäger; vom Moosweibchen; vom Eppela Gaila; vom Rothensteiner Schatz; vom Riesen Hidde. Aus jedem Mund ein besonderer Wunsch, aber sie einigten sich dann oder wurden vielmehr still, wenn der Junker anhub, bedächtig und lehrsam, mit schalkhafter Umständlichkeit, mit einem Atemholen, das auf Grausiges vorbereitete. Selten erzählte er, was die erregt Gespannten forderten, was ihnen schon Phantasiebesitz geworden war, so daß sie, deshalb nicht weniger hingerissen, Zug um Zug vorauswußten und sich darauf freuten, wenn die überraschende Wendung kam; ihn selbst lockte das Neue, und aus Sage, Legende, Geschautem, Geträumtem zauberte er Niegehörtes hervor, als ob sein Geist jahrhundertealt und sein Gedächtnis erfüllt wäre von allen Erlebnissen des menschlichen Geschlechts. Er konnte sich so von einem ins andre verlieren, daß oft die Dunkelheit hereinbrach, und keiner der Zuhörer merkte was davon; es war Licht, wenn er was Heiteres, und finster, wenn er was Trauriges erzählte, das hing nicht vom wirklichen Tag und Abend ab. Bisweilen hörte man ein kleines Mädchen seufzen oder ein Bübchen weinen, oder sie lachten allesamt herzlich, wenn der Anlaß kam, wenn der Bösewicht seine gerechte Strafe empfing, der heimtückische Zwerg die verdiente Züchtigung. Alle waren eines Herzens, und man hörte das gesammelte Herz freudig schlagen, wenn der unglückliche Sohn, der von neidischen Brüdern um sein Erbteil war gebracht worden, nach vielen Fährnissen und überstandenem zauberischen Trug endlich zu Glück und Ansehn gelangte. Es gab bestimmte Figuren, die er selbst erdacht hatte und die immer wiederkehrten, in verschiedenen Handlungen; Gustav, der Pfeifer, Margret, das blinde Edelfräulein, Helmweiß, der schweifende Ritter, Siderlist, der Magier. Nannte er einen dieser Namen, so ging ein Aufatmen durch die Reihen, die Leiber beugten sich vor, jeder wußte: jetzt kommt das Besondere. Manchmal wurden die Angehörigen besorgt und hielten Nachschau, wo die Kinder steckten; es geschah dann nicht selten, daß sie, statt der späten Unterhaltung ein Ende zu bereiten, sich selber niederließen, gefangen vom Wort und der Gabe des Junkers. Solche Rede hatten sie noch nie vernommen; wer hätte je zu ihnen wahrhaft geredet; was wußten sie vom Schicksal, kannten sie doch von ihrem eigenen kaum den Schatten; was hatten sie erfahren vom Geheimnis der Welt, von unsichtbaren Boten, von diamantenen Palästen, von den Gewalten, die in unscheinbaren Pflanzen schlummern, in Schlehdorn und Marktdorn, in der Haselnußstaude, im Löwenzahn; hatten sie Ahnung davon gehabt, so war es nur von der Unheilsrichtung her; daß es andere Fügung gibt, zum Glück und zur Erlösung, wußten und glaubten sie nicht. Nun erfuhren sie es. Wie geisterhaft, es Bild um Bild vor Augen zu haben; daß das möglich war; daß man den König Heinrich von Frankreich tatsächlich sah, und wie seine schöne Königin, eine Fee, das Szepter ergriff und die Sonne wieder aufgehn ließ, die seit dem unmenschlichen Mord in einer Bergschlucht begraben lag, und wie die Edlen zu Hof zogen, um ihren Herrn zu rächen. Da verstand man erst die Welt, lernte begreifen, wie es bei den Fürsten zuging. Alsbald wurde es so, daß ihm nicht bloß die Kinder auf Schritt und Tritt folgten, wenn er sich irgendwo blicken ließ, sondern er hatte auch unter Erwachsenen einen festen Anhang, allerdings nur ein Dutzend Personen etwa, aber die waren immer in seiner Nähe und fanden sich auf die wunderbarste Weise zu ihm, sobald er Schloß Ehrenberg verließ, zum Beispiel der Silberhans, ein Spielmann aus Veitshöchheim; der Christophorus Barger, ein ewig betrunkener Studiosus aus Schwanfeld; der Batsch, ein ehemaliger Würzburger Rotgerber und andere noch.

Von allen diesen Vorgängen erhielt der Magister nach und nach genügend Kunde, um in Zorn und Kummer zu geraten, auch in beständige Furcht wegen der Verantwortung, die er trug. Mußte er doch täglich gewärtig sein, daß man ihn über das unsinnige Treiben seines Zöglings zur Rechenschaft verhielt. Es war zu jener Zeit nicht nur nicht üblich, sondern geradezu schimpflich, daß irgendein Mensch, geschweige denn ein Edelmannssohn, auf Landstraßen und in den Dörfern herumwanderte; wer auf blanker Erde Fuß bei Fuß setzte, der verunglimpfte sich und erlitt Einbuße an seiner Ehre. Aber es half nichts, dies dem Junker vorzusagen; es half keine Mahnung, keine Züchtigung; ebensogut hätte man versuchen können, einen jungen Adler mit Zwirnsfäden an einen Wegweiser zu binden.


 << zurück weiter >>