Jakob Wassermann
Der Aufruhr um den Junker Ernst
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X

Zwei Stunden später saß Ernst im bischöflichen Wagen an der Seite seines Oheims auf der Fahrt nach Würzburg. Das war mit sonderbarer Schnelligkeit zugegangen und nicht unter Vorzeichen, wie sie der Pater Gropp gewünscht hätte. Nicht war die Rede von verschärfter Zucht, von Verbringung in eine Kollegienschule oder ein strenges Seminar, oder nur in Kost und Losament bei einem geistlichen Professor in Würzburg oder Bamberg, nichts von dem. Der Bischof hatte erklärt: du kommst mit mir und wohnst in meinem Hause, ich will für alle deine leiblichen und sonstigen Bedürfnisse Sorge tragen. Keinen Tag länger sollte der Junker auf Schloß Ehrenberg bleiben. Was mit dem Magister Molitor zu geschehen habe, werde angeordnet werden; auch im Hinblick auf die Freifrau und ihr ferneres Leben auf dem Schloß werde das Nötige angeordnet werden. Kaum gönnte er dem Junker Zeit, sich von seinem alten Lehrer und der tauben Lenette, die in Tränen zerfloß, zu verabschieden. Der Abschied von seiner Mutter bestand darin, daß er sich stumm vor ihr verneigte und dann anscheinend auf etwas wartete. Worauf, war nicht zu ergründen. Er wartete vergebens, die Freifrau richtete kein Wort, keinen Blick an ihn; sie sah auf ihre Hände nieder, lächelte töricht verstohlen und schwieg und sah aus, als ob ihr das Schweigen kostbar sei.

Die ungestüme Eile des Bischofs glich auf ein Haar der eines Mannes, der einen geraubten Schatz in Sicherheit zu bringen hat. Da sein Gesicht nichts verriet, selbst wenn es innere Regungen hätte kundgeben wollen, weil das Innere zu arm war und durch die Hülle nichts dringen konnte, blieb auch seiner Umgebung verborgen, was ihn antrieb und bewegte. Oder sie erkannten es nur aus demselben Grunde nicht, aus dem ein Rätselrater die simple Einfachheit einer Lösung verwirft, da doch das Einfache das Unbegreifliche ist. Er verwandte keinen Blick von dem Knaben; wenn er beim Reden auf den jugendlichen Mund schaute, formten seine schlaffen Lippen in greisenhafter Albernheit die Worte nach; einmal, im Eifer des Sprechens, legte Ernst mit kindlicher, doch dem Pater Gropp sträflich erscheinender Vertraulichkeit selbstvergessen die rechte Hand auf den Ärmel des Bischofs; da zeigten sich auf den Wangen des alten Mannes zwei rote Flecken, und seine Augen bekamen einen fieberhaften Glanz. Laß nur, murmelte er hastig, als der Junker die Hand erschrocken wegzog, laß nur, mein Sohn. Dies alles beunruhigte den Pater, aber es war nicht seine Gewohnheit und die von seinesgleichen nicht, einer Sorge dadurch ledig zu werden, daß man sie zur Sprache brachte; vieles mußte sich sammeln und dann durch sein Gewicht die Richtung des Entschlusses bestimmen. Wassertropfen lassen sich nicht von einer Stelle zur andern tragen, aber der gefüllte Eimer. »Du sollst ein eigenes Gelaß bei mir haben«, sagte der Bischof zu seinem Neffen; »gegen meinem Schlafzimmer über, in der Ecke vorm Schwibbogen, Ihr wißt, Pater Gropp, da ist eine prächtige Kammer, die soll er haben.« Es war ein großes, dumpfes, dunkles Zimmer, in das der Hausmeier David Rotenhan den Junker nach seiner Ankunft führte; alte Truhen standen drin und ein geschnitzter Eichenschrank, der bis zur Decke reichte; an der einen Wand zwischen den Fenstern hing ein hölzernes Kruzifix, an der andern ein bis zur Schwärze verräuchertes Bildnis des Bischofs Julius Echter von Mespelbrunn, des großen Vorgängers von Philipp Adolph. Das Lager war ein Strohsack in einem Gestell mit ein paar Decken drauf; den schweren Tisch zierten ein silberner Leuchter, ein mächtiges Tintenfaß und ein in Pergament gebundenes lateinisches Brevier. Wenn man sich ans Fenster stellte, sah man eine enge Gasse mit schmalen traurigen Häusern, an deren geschlossenen Fenstern bisweilen traurige, argwöhnische Gesichter erschienen. Dem Junker wollte das Gelaß nicht gefallen, die Straße mit ihren Häusern auch nicht; nachdem er sich alles halb neugierig, halb ängstlich angeschaut hatte, ging er auf den finstern Flur hinaus und weiter, an Türen vorbei, auf deren Klinken er drückte und die zugesperrt waren. Er erklomm eine Treppe, da war abermals ein Flur, wieder mit zugesperrten Türen. Oben war es jedoch ein wenig heller, er gewahrte verstaubte Bilder an den Wänden, Bilder von Heiligen und der Passion Christi, geschnitzte Figuren und allerlei Kirchengerät, Betstühle, Weihkessel, Monstranzen, verblichene Teppiche. Er wanderte, ohne einer Menschenseele zu begegnen, ab und auf durch den alten Palast, bis er müder wurde als sonst, wenn er stundenlang durch den Schwarzforst marschiert war, und als vor einer Treppe der Pater Gropp vor ihm stand wie aus dem Boden gewachsen, stieß er vor Schreck einen leisen Schrei aus, und der nämliche Schauder überflog ihn wie vor Stunden, als er bloß seine Gegenwart daheim im Ehrenberger Saal gespürt hatte. Der Pater, der gut seine sechs Fuß maß, sah stumm auf ihn herab, in böser Weise stumm, Ernst blickte zu ihm empor, an dem schwarzen Kleid bis hinauf zu dem viereckigen Flachhut, so standen sie eine Weile schweigend einander gegenüber, und Ernst dünkte es, daß eine Ewigkeit verflossen sei, als er die Worte hörte: »Der Herr Bischof verlangt nach dir. Geh hin. Ich aber will dir sagen: wenn du ihm mit deinem hexischen Geplapper Geist und Herz verwirrst, so gnad dir Gott in deinem Sündenjammer.« Der Junker dachte, der Pater wolle scherzen, doch ein Blick in die granitenen Züge belehrte ihn, daß in dem Mann so wenig Neigung zu Spaß und Spiel wohnte, wie in dem finstern Bischofshause Licht und Sonne Einlaß fanden; warum aber, war sein Gedanke, läßt er mich so drohend an und steht vor mir da wie der Riese Einheer vor den Winden und Haunen, was kann ich ihm angetan haben? Ich will doch den Herrn Oheim drum fragen. Was kann ich ihm angetan haben: uraltes Staunen der Arglosen vor den Argen. Schwerlich hätte der Bischof die Antwort geben können, auch wenn Ernst zuletzt nicht den Mut verloren hätte, denn der Pater ging ihm unsichtbar nach und verbot ihm die Frage. Zum erstenmal spürte er Menschenfurcht, die unbesieglichste aller Ängste und die unheilbarste; sie langte mit einer Tatze in seine Seele hinein, da war etwas, das er meiden mußte, einer, der still im Dämmer der Stube stand, wenn er einschlief und aufwachte, und in dessen Augen eine Welt war, vor der man die eigenen Augen schließen mußte, sonst war alles trüber und verworrener, als man es bisher gewußt. Der Bischof ahnte davon nichts; er hatte vorerst keine Lust, nach Verborgenem im Gemüt des Knaben zu forschen, da er vollauf mit dem beschäftigt war, was zutage lag; die Leute bemerkten eine große Veränderung in seinem Wesen, die sich am deutlichsten in Gegenwart des Junkers zeigte, so daß es schon nach kurzer Zeit gewiß war, daß er die Gesellschaft seines Neffen nicht mehr missen konnte. Gleich nach der Frühmesse verlangte er nach ihm, ließ ihn aufwecken, konnte es nicht erwarten, bis er kam. »Setz dich her zu mir«, sagte er, »hast du schon deine Grütze gegessen, da setz dich her auf den Schemel, damit wir uns unterhalten können, und hab keine Scheu vor mir, sprich nur alles, was dir in den Sinn kommt, das hör ich gern, brauchst gar nicht acht zu haben auf deine Worte.« Geschah es dann nach seinem Wunsch, so beugte er sein Haupt gegen den Knaben nieder, lauschte nicht bloß mit den Ohren, sondern mit Augen und Händen, und wenn einer ihn dabei störte, der Sekretarius, der Stadtprofoß, ein Mönch, ein Domherr oder ein Hausbediensteter, fuhr er auf, stierte den Betreffenden grimmig an und winkte ihm, wieder zu gehen. Alle Mahlzeiten mußte der Junker mit ihm teilen; zehnmal hintereinander fragte er ihn, ob er das nicht möge oder das, was er am liebsten esse, ob er ihm ein Hühnchen zubereiten lassen solle oder Wildpret oder Mehlgebackenes mit süßem Schaum. So etwas war nie vorgekommen, niemand hatte es für möglich gehalten; aber er ging noch weiter in der Überwindung verhärteten Geizes; er ließ den vornehmsten Schneider der Stadt kommen und bestellte für den Junker ein Staatskleid aus dunkelviolettem Samt mit Zobelbesatz und dazu einen kostbaren Mantel. Während der Schneider Maß nahm, stand der Bischof aufpassend dabei, ermahnte ihn in seiner scheltenden Weise zu genauer Arbeit und daß er mit Stoff und Futter nicht sparen solle. Als nach wenigen Tagen der neue Anzug kam und der Junker sich ungemein stattlich darin präsentierte, ging der Bischof etliche Male im Kreis um ihn herum und ließ mit der Zunge fortwährend ein entzücktes Tz-tz hören wie ein Handeljud, der ein gutes Geschäft abgeschlossen hat. »Sollst auch eine goldne Kette haben«, flüsterte er ihm ins Ohr, »wenn du brav bist und mir in allem folgst, schenk ich dir eine schöne goldne Kette.« Ernst küßte dem Oheim lächelnd die knochige, behaarte Hand und verbarg seine Gedanken, welche er auch haben mochte; niemals äußerte er etwas über sich selbst, niemals sagte er, wie ihm zumute war, noch was er gesonnen war zu tun, niemals ließ er sich Traurigkeit oder Sorge anmerken, über seiner ganzen Person lag die strahlende Verträumtheit seines Gemüts wie ein glitzerndes Gewebe, durch das nichts von seinem Innern zu erkennen war. Indes der Schneidermeister noch an ihm herumnestelte, eine Falte vor der Brust glättete, ein Band am Knie fester zog, lachte der Junker hellauf, weil ihm der spindeldürre und vor dem Bischof verängstigte Mensch recht komisch vorkam, und fing an, die Geschichte eines Schneidergesellen zu erzählen, der geprahlt hatte, er getraue sich zur Mitternachtszeit über den Kirchhof zu gehn; das führte er auch aus, es war eine eiskalte Dezembernacht, die Gespenster umringten ihn und zwangen ihn unter fürchterlichen Drohungen, daß er jedem an seinem klappernden Gebein das Maß zu einem Kleid nahm; den Stoff wollten sie ihm in die Werkstatt legen, wenn er heimkam, würde alles Tuch schon da sein, und er mußte geloben, die vierundzwanzig Kleider, so viel Gespenster waren da, in der Neujahrsnacht auf den Kirchhof zu bringen. Um Gotteswillen, jammerte der Gesell, wie soll ich in so kurzer Frist, es sind ja nur noch neun Tage, vierundzwanzig Gewänder verfertigen, habt doch Mitleid, ihr Knochenleute; aber da nützte kein Bitten, die gespensternden Herrschaften bestanden auf ihrem Willen. Wie nun der Schneider nach Hause kam, sah er in seiner Einbildung große Ballen Zeug in der Werkstatt und machte sich unverzüglich mit Elle, Nadel und Schere an die Arbeit. Aber niemand konnte den Stoff sehen als er allein, und da er nun, auf seinem Tisch hockend, in die Luft hinein schnitt und maß und nähte, entsetzten sich alle, die es sahen und hielten ihn für übergeschnappt. Er ließ sich jedoch bei seinem Tun nicht stören, sondern nähte und schneiderte Tag und Nacht, aber bei aller Mühe konnte er bloß dreiundzwanzig Gespensterkleider fertig bringen. Die türmte er in der Neujahrsnacht übereinander, huckte sie auf den Rücken, es war nichts, es war wiederum lauter Luft, gleichwohl schleppte er sich stöhnend unter der Last zu den Gräbern. Beim zwölften Glockenschlag, wie es sich gebührt, stellten sich die Gerippe ein. Der Schneider, den die Angst pfiffig gemacht hatte, packte die eingebildeten Kleider mit großer Langsamkeit aus, forderte, daß jedes Gespenst seinen Anzug besonders probiere, besah sich jedes mit Kennerblicken, hatte an jedem etwas zu glätten und zu bessern und zu sticheln (obgleich da nichts zu sehen war als das blanke Gebein, und wer weiß, ob sogar das) und zögerte seine Geschäftigkeit so lange hin, daß die Turmuhr gerade eins schlug, als er zum vierundzwanzigsten seiner Kunden kam. Da mußten sie aber natürlich alle verschwinden, und es sei nicht ausgemacht, so schloß der Junker schalkhaft, ob sich nicht alle vierundzwanzig für gefoppt hielten, da sie doch nach wie vor mit nackten Knochen tanzen mußten, oder ob der Schneider allein der Narr war, da er so viel Müh und Zeit darauf verwendet hatte, den unwirklichen Schatten unwirkliche Schattenkleider zu liefern.

Nicht bloß der Schneidermeister und der Bischof waren bei dieser Erzählung die Zuhörer; es hatte sich noch eine ganze Anzahl anderer Personen eingefunden, der Sekretarius Baumgarten, der Hausmeier Rotenhan, der seinem Herrn einen Bericht abzustatten kam, ein junger Dominikaner aus dem Kloster Himmelpfort, der im Vorzimmer gewartet hatte und zwei Alumnen aus der im Anbau des Schlosses untergebrachten Schule; sie sollten in Begleitung eines Diakons dem Bischof als Novizen vorgestellt werden. Einen der beiden kannte Ernst zufällig; es war ein Lehrerssohn aus Kitzingen, er hatte ihn oft unter seinem Gefolge gesehen, wußte auch, daß er Peter Mayer hieß; der unterdrückte mit Mühe einen Freudenschrei, als er des Junkers ansichtig wurde; von der Stimme angelockt, war er der erste gewesen, der sich auf die Türschwelle gewagt hatte, nachher folgten ihm die andern, auch ein Chorherr gesellte sich schließlich dazu, und der Bischof selbst war so benommen von der Art und Rede seines Neffen, daß er Einspruch und Abwehr gegen die Hereindrängenden vergaß, die sich damit eines sträflichen Übergriffs schuldig machten. Aber so war es eben, bei diesem Anlaß wie bei jedem, die Heiterkeit und Grazie, mit der der Junker Ernst seine Geschichten vortrug, bezwang das widerwilligste Ohr; kein Unterschied zwischen Alt und Jung, der mit Geschäften beschwerte Amtsträger mußte ebenso stillhalten und lauschen wie der einfache Handwerker, die finstersten Züge verschönten sich durch ein verwundert-sinnendes Lächeln. Die Gespenstergeschichte da, was war sie schließlich, ein ergötzliches Nichts, und als ob sich der Erzähler hätte heimlich lustig machen wollen über das Nichts, hätte zeigen wollen, wie aus dem Nichts ein Etwas wird, wenn man den Schicksalsbogen drüber auswölbt, machte er es noch zum Inbild des Geschehens. Aber wie alles schwebte und sich bewegte, ohne Gewicht und ohne Greifbarkeit wie Blumen in einem klaren Spiegel; wie es aus der Tiefe kam, in der das Ängsten und Weben des Volkes war, so daß es, gesprochen und zur Figur gestaltet, zum elementhaften Wesen wurde, dem Gang und Rhythmus der Sterne ähnlich, notwendig der Seele und entlegen dem Geist. Er hatte es in einem Augenblick erfunden; als er den Schneidermeister so besorgt und wichtig an sich herumhantieren sah, war alles schon Erscheinung, und er hätte ohne das geringste Nachdenken gleich zehn andre Geschichten dranhängen können, die freilich noch nicht Erscheinung waren, bloß Schein. Aber darum mußte er sich nicht plagen, da war eine Kraft in ihm, der er sich nur anzuvertrauen brauchte, ein Hinströmen, und er mußte dem Strom gehorsam sein, oder eine Last, deren er ledig werden mußte, wenn er nicht drunter ersticken wollte. So kam es, daß er auch hier alsbald, wo er ging und stand, seine Zuhörer hatte: in der Antekamera des Bischofs, unterm Torweg des alten Palastes, auf dem Platz vorm Dom, an der Mainbrücke, in einem abseitigen Gäßchen, im Häuserwinkel bei einer Schmiede. Da aber der Oheim Bischof seinem unzähmbaren Freizügigkeitsdrang mit jedem Tag drückendere Schranken setzte, obschon in einer feigen Art, so daß das Verbot anfangs immer vom Hauptmann der Schloßwache ausging, der ihn dann auch überwachen ließ, entwischte er oft ungesehen und zu abendlichen Stunden, bestellte sich auch Kinder und junge Menschen in den Hof, in die Flure des Bischofshauses, und einer seiner häufigen Gänge war, nachdem er sich mit Peter Mayer verständigt hatte, zu den Alumnen im andern Trakt; hiezu brauchte er das Haus gar nicht zu verlassen. Als die Lehrer und Aufseher dahinterkamen, verwehrten sie ihm den Eintritt; doch sei es, daß sie sich gegen den Günstling und Verwandten des Bischofs eines nachhaltigen Widerstandes entäußerten, sei es, wofür bessere Gründe sprachen, daß des Junkers liebenswerte Schmiegsamkeit und leuchtende Offenheit auch sie in Bann schlug, sie drückten ein Auge zu und stellten sich unwissend, wenn er nach Anbruch der Dunkelheit in die Säle schlich und zwanzig, dreißig, vierzig von den Zöglingen um sich versammelte wie ein Priester, der zum Gottesdienst ruft; einige von den Präzeptoren mischten sich selber unter die ungeduldige Schar und bemühten sich nur, möglichst ungesehen zu bleiben. Die Alumnen, hagere Jünglinge mit traurigmüden, -hohlen Augen, die Gesichter fahl und schlaff und in allem Tun lautlos, wie es die Hoffnungslosen sind, hatten sich schon den ganzen Tag gefreut und ließen sich gern forttragen aus ihrer kalten Welt, in der die geistige und sinnliche Nahrung so kärglich war wie die leibliche. Das reizte den Junker Ernst sehr, diese Müden zu bewegen, die Bedrückten zu erheben, ihrer innern Finsternis unerwartete Helligkeit zu spenden. Da wurden seine Erzählungen am übermütigsten, und Ausgelassenheit verband sich oft mit unbewußtem Tiefsinn wie in der Geschichte von dem Mann, dessen größter Kummer war, daß die Zeit so schnell verging, und der überall die Uhren stillstehn machte; wo er einer Uhr habhaft wurde, brachte er sie zum Stehen, auch auf die Türme stieg er und zerstörte das Räderwerk, und wie er einmal eine einzige Stunde brauchte, um eine gute Tat zu vollbringen, fehlte ihm die, denn der Tod trat in die Tür, und es war zu allem zu spät. Von derlei Begebenheiten und Erfindungen war er voll; auch versuchte er etwas bei den Alumnen, worauf schon die morgenländische Scheherazade verfallen war, von der er jedoch nie vernommen hatte; er erzählte eine Geschichte nicht zu Ende und spann sie in den nächsten Abend hinüber, manchmal in den zweiten und dritten; an der verwickelsten Stelle aufzuhören und die Erwartung über einen Tag in Atem zu halten, bereitete ihm Genuß, es war wie ein kleiner Betrug an der Phantasie der Menschen und ein Erproben ihrer Gläubigkeit, die er ja dann nicht enttäuschte. Er war durch eine Not drauf gekommen; der Oheim Bischof hatte einen Mönch mit seiner Bewachung betraut, zu allen Stunden, in denen der Bischof selbst durch sein Amt verhindert war, sollte dieser Mönch, ein dummer alter Mann, in der Nähe des Junkers sein; es gelang Ernst, auch den zu betören, und da er neben seiner Einfalt ungemein neugierig war, konnte Ernst nur dadurch sein Schweigen erkaufen, daß er den Faden einer Geschichte immer in dem Augenblick abriß, von dem Bruder Felician, der alles als wirkliches Geschehnis nahm, vor Aufregung das Wasser aus dem offenen zahnlosen Mund lief. Nicht allein dem Bruder Felician ging es so. Nach Verlauf mehrerer Wochen war das ganze Domkapitel über den Junker ins Fieber geraten, Domherren, Pröpste, Kapläne, Dekane, Kapitulare, Laienpriester, Klostergeistliche, alle fing er ein, alle unterlagen der rätselhaften Gabe, und obschon sie Gewalt genug über sich hatten, um sich nicht so stürmisch an ihn anzudrängen wie die Jugend, die oft in ganzen Heerscharen Schloßhof und Domplatz besetzt hielt, nur in der Hoffnung, ihn zu sehen, dünkte es doch den meisten, als ob sie ein leibhaftiges Wunder erlebten, und sie glaubten, dem Bischof zu gefallen, wenn sie den Junker rühmten und ihr Erstaunen laut verkündeten. Dem war aber nicht so. Der Bischof wurde von einer wachsenden Unruhe ergriffen, die allmählich seine Gewohnheiten durchbrach, seine Tageseinteilung umstieß, seine Audienzen, Übungen, Gebete und richterlichen Entscheidungen störte.


 << zurück weiter >>