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8

Mason schaute wieder nachdenklich auf die bewußtlose Frau. Sie hatte sich noch immer nicht bewegt, und man konnte nicht einmal sehen, daß sie atmete.

»Es ist ein ganz gewöhnlicher Fall, Doktor, wie ihn die Polizei oft genug erlebt. Alles sieht geheimnisvoll aus, bis irgendein Zeuge auftaucht und redet. Und dann ist plötzlich alles so leicht, daß selbst die netten, alten Herren von Scotland Yard den Mord aufklären können. -- Also, wenn keine Aussicht vorhanden ist, daß sie zu Besinnung kommt, schicken Sie sie in Gottes Namen ins Krankenhaus«, sagte ex beinahe schroff und ging in das Amtszimmer zurück.

Seine Gedanken beschäftigten sich unaufhörlich mit dem Mord, den er aufzuklären hatte. Aber auch an die traurige Umgebung von Tidal Basin dachte er, an die vielen ärmlichen Gassen, das holperige Pflaster, die schlechtgebauten Häuser. Welches Elend beleuchteten doch die großen elektrischen Lampen! Wie viele Menschen lebten und starben hier in Not und Armut! Auf einen Toten mehr oder weniger kam es da wirklich nicht an. Aber weil ein Falschspieler, vielleicht sogar ein Erpresser, in dieser Gegend sein Ende gefunden hatte, war Scotland Yard nun fieberhaft tätig. Akten wurden gewälzt; der Fernschreiber arbeitete mit rasender Eile; Polizisten brachten auf Motorrädern die noch feuchten Blätter mit der Beschreibung des Toten zu ihren Kameraden, die auf Streife waren, und auf zehntausend Straßen und Plätzen lasen die Beamten im Schein ihrer Taschenlampen die Personalbeschreibung des Unbekannten, der von einem anderen noch weniger bekannten Mann ermordet worden war.

Mason erhob sich und ging zum Hauseingang. Das blaue Licht vor der Tür fiel auf sein Gesicht und verlieh ihm ein grausiges Aussehen. Die Straße lag tot und verlassen da, und immer noch fiel der feine Regen.

Der Chefinspektor wußte nicht, warum er plötzlich schauderte. Niemals ließ er sich von einer Umgebung beeinflussen, aber der Wirkung dieser unfreundlichen, ja unheimlichen Gegend konnte auch er sich nicht entziehen.

Es kam ihm ein Gedanke, und er ging ins Haus zurück. Im Amtszimmer warteten drei Kriminalbeamte, und er gab ihnen neue Instruktionen.

»Nehmen Sie Ihre Pistolen mit«, sagte er. »Es ist möglich, daß Sie sie brauchen.«

Nachdem sie sich entfernt hatten, telefonierte er mit Scotland Yard. Dann ging er wieder zu Dr. Marford hinüber.

»Sie wissen doch alles, was hier in der Gegend passiert. Haben Sie schon von dem Mann mit der weißen Maske gehört? Ist das nur eine Legende, oder existiert er wirklich? Ich weiß, daß früher im Westen ein Mann wohnte, der eine weiße Stoffmaske trug, weil sein Gesicht bei einem Unfall entstellt worden war.«

Der Arzt nickte bedächtig.

»Ich glaube, diesen Mann habe ich öfters gesehen.«

»Das ist aber hochinteressant«, erwiderte Mason sehr überrascht.

»Warum er die Maske trug, habe ich allerdings nicht verstanden, denn sein Gesicht sah wirklich nicht so schlimm aus. Er hatte nur eine große rote Narbe.«

Mason biß sich auf die Lippen.

»Ich kann mich auf den Mann im Westen sehr genau besinnen. Ein paar Zeitungsleute haben, seine Geschichte in letzter Zeit wieder aufgewärmt. Er wohnte vor Jahren in der Jermyn Street und hatte von der Polizei die Erlaubnis, die Maske in der Öffentlichkeit zu tragen. Seit einigen Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen. Hieß er nicht Weston?«

Marford zuckte die Schultern.

»Seinen Namen wußte ich niemals. Vor drei Jahren kam er zu mir, und ich behandelte ihn mit Höhensonne. Er war merkwürdig empfindlich und meldete sich vor jedem Besuch telefonisch bei mir an. Übrigens kam er stets um zwölf Uhr nachts und zahlte ein Pfund für jede Konsultation.«

Mason dachte eine Weile nach, dann ging er wieder zum Telefon und rief die Wache in der Nähe der Regent Street an. Der diensttuende Sergeant erinnerte sich sofort an den Mann, aber den Namen wußte auch er nicht.

»Er ist seit Jahren nicht mehr im Westen gesehen worden«, sagte er. »Scotland Yard hat auch schon verschiedene Male angerufen, weil man glaubt, daß er etwas mit Weißgesicht zu tun hat, der in der letzten Zeit soviel von sich reden macht.«

Mason kehrte wieder zu Marford zurück, um noch mehr von ihm zu erfahren.

»Wohnte der Mann nicht hier in der Nähe?« fragte er.

Aber Marford konnte ihm darauf keine Auskunft geben. Als der sonderbare Patient ihn das erstemal besuchte, hatte er unzweifelhaft in der Gegend von Piccadilly gewohnt, und später war er immer nur in unregelmäßigen Zwischenräumen wieder aufgetaucht.

»Glauben Sie, daß er mit dem sogenannten Teufel von Tidal Basin identisch sein könnte?« fragte Mason plötzlich.

Marford lachte.

»Teufel! Es ist doch zu sonderbar, daß vernünftige Menschen anderen Leuten, die ein körperliches Gebrechen haben, irgendeine Teufelei anhängen müssen. Gewöhnlich müssen Krüppel, arme Lahme und Schielende daran glauben.«

Er konnte wenig Interessantes, über den Mann mit der weißen Maske berichten, höchstens, daß er sich in der letzten Zeit nicht mehr telefonisch angemeldet hatte. Er war stets über den Hof gekommen, der hinter der Klinik lag.

»Ich verschließe die Hintertür niemals.« Marford erzählte, daß er einen sehr festen Schlafe habe und daß die Kranken, die ihn nachts aufsuchten, häufig direkt an seine Zimmertür kämen und ihn aufweckten. »Bei mir kann man nicht viel stehlen, höchstens ein paar medizinische Instrumente und ein paar Giftflaschen. Und ich muß auch gerecht gegen die Leute sein. Es ist mir nichts abhanden gekommen, seit ich hier wohne. Ich behandle sie freundlich, und solange sie sich anständig benehmen, habe ich nichts dagegen, wenn sie sich frei in meinem Haus bewegen.«

Mr. Mason verzog das Gesicht.

»Ich begreife nur nicht, daß Sie in dieser Umgebung leben können. Wie können Sie Tag für Tag mit diesen Menschen verkehren und sich mit ihrem Elend beschäftigen?«

Dr. Marford seufzte und schaute wieder nach der Uhr.

»Das Kind wird jetzt schon geboren sein.«

Einen Augenblick später klingelte das Telefon, und der Sergeant rief den Arzt zum Apparat. Das Kind war tatsächlich schon ohne den Beistand des Doktors auf die Welt gekommen.

Gleich darauf kam der Krankenwagen, und Lorna Weston wurde abtransportiert. Elk schickte einen Detektiv mit, der die Frau im Krankenhaus beobachten sollte. Dann erschien er mit glänzenden Augen im Amtszimmer.

»Wenn der Fall aufgeklärt wird, müßte ich befördert werden«, sagte er.

»Bringen Sie Mrs. Albert herein«, erwiderte Mason, der die Bemerkung nicht weiter übelnahm. »Sie hat lange warten müssen, aber ich habe ihr absichtlich einen Schrecken einjagen wollen, damit sie uns die Wahrheit erzählt.«

Elk führte die Frau herein, Sie war sehr bleich und hielt immer noch ihre Kanne in der Hand. Ihre Hände zitterten, und sie schaute verstört um sich. Mason ließ ihr Zeit, sich etwas zu sammeln.

»Es tut mir leid, daß ich Sie solange habe warten lassen müssen, Mrs. Albert«, begann er dann. »Ihr Mann ist doch Nachtwachmann bei der Eastern Trading Company?«

Sie nickte nur.

»Es ist doch verboten, daß ein Nachtwächter während des Dienstes Bier trinkt?«

»Ja«, entgegnete sie mit schwacher Stimme. »Der vorige Nachtwachmann ist deshalb auch entlassen worden.«

»Aha!« erwiderte Mason scharf. »Aber Ihr Mann trinkt gerne Bier, und es ist auch verhältnismäßig leicht, eine Kanne durch die kleine Tür in der Mauer zu schmuggeln?«

Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen und schaute auf den Boden.

»Und er hat die Angewohnheit, die kleine Tür jede Nacht bis ungefähr um elf aufzulassen, damit Sie die Kanne Bier hineinstellen können?«

Die Frau blickte verzweifelt um sich. Sie konnte nur vermuten, daß sie verraten worden war. Welcher ihrer Nachbarn mochte wohl den Angeber gespielt haben?

Eine verhältnismäßig hübsche Frau, dachte Mason, trotz der drei Kinder und der vielen Arbeit.

»Sehen Sie, da haben wir den Zusammenhang«, wandte er sich an Elk. »Durch diese Tür ist auch Mr. Louis Landor entkommen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich habe schon drei Leute losgeschickt, die das ganze Grundstück absuchen sollen. Mr. Landor wird allerdings längst das .Weite gesucht haben. Ich habe seine Personalbeschreibung bereits bekanntmachen lassen.«

Mrs. Albert sank schuldbewußt in einen Stuhl und sah Mr. Mason furchtsam an. Es war ihr, als ob die ganze Welt zusammenstürzen müßte. Ihr eigenes Unglück interessierte sie weit mehr als der Tod des Unbekannten. Ihr Mann würde seine Stelle verlieren! Und die Arbeitslosigkeit war doch so groß, daß er kaum einen neuen Posten finden würde. Mit Entsetzen dachte sie an die endlosen Wege, die ihm bevorstanden. Die paar Schillinge, die sie als Aufwartefrau verdienen konnte, zählten kaum ...

»Er wird entlassen!« sagte sie tonlos.

Mason schaute sie an und schüttelte den Kopf.

»Ich werde die Sache der Eastern Trading Company nicht melden. Sie hätten mir allerdings mehr geholfen, wenn Sie die Wahrheit gleich gesagt hätten, als ich Sie nach dem Bier fragte.«

»Sie wollen es nicht melden?« fragte sie mit zitternder Stimme. Sie war dem Weinen nahe. »Ach, ich habe schon so schwere Zeiten durchgemacht. Die arme Frau hätte Ihnen auch bestätigen können, wie schlecht es uns ging. Sie hat nämlich früher bei mir gewohnt.«

»Von welcher armen Frau sprechen Sie denn?« fragte Mason schnell.

»Von Mrs. Weston.«

Sie wurde jetzt etwas sicherer und verlor ihre Furcht vor dem Polizeibeamten.

»Ach, sie hat bei Ihnen gewohnt?«

Elk hatte inzwischen den Raum verlassen, und Mason winkte der Frau, mit ihrem Stuhl etwas näher zu rücken.

»Erzählen Sie mir alles«, sagte er freundlich.

Sein liebenswürdiges Wesen beruhigte sie.

»Ja, sie hat bei mir gewohnt, bis sie reich wurde.«

»Woher hat sie denn das Geld bekommen?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe sie nie danach gefragt. Sie hat mir immer regelmäßig die Miete bezahlt. Ich möchte nur gern wissen, ob es ihr Mann oder ihr Freund war, der ermordet wurde.« Sie neigte sich etwas vor.

»Es war ihr Freund«, erklärte Mason ohne Zögern. »Kannten Sie ihn?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber ihren Mann kannten Sie doch?«

»Ich habe seine Fotografie einmal in ihrem Zimmer gesehen., Sie und zwei Herren waren auf dem Bild, und es war in Australien gemacht worden. Das heißt, ganz richtig habe ich es nicht betrachten können. Ich wollte es gerade einmal genau ansehen, als sie ins Zimmer kam und mir den Rahmen aus der Hand riß. Ich habe mich damals sehr gewundert, denn das Bild stand schon lange vorher auf dem Kamin. Ich hatte mich nur nie darum gekümmert, bis sie mir eines Tages erzählte, daß es ihr Mann und ein Freund seien. Und am nächsten Tag kam sie dann dazu, wie ich es betrachten wollte.«

»Wann war denn das?«

Mrs. Albert dachte nach.

»Letzten Juli zwei Jahre.«

Mason nickte.

»Und kurz darauf bekam sie viel Geld?«

»Ja, schon am nächsten oder übernächsten Tag zog sie aus. Und seitdem habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie wohnt jetzt in dem vornehmen Viertel von Tidal Basin. Ich sage ja immer, wenn die Leute zu Geld kommen...«

»Ich kann mir schon denken, was Sie immer sagen«, erwiderte Mr. Mason nicht unfreundlich, aber bestimmt. »In was für einem Rahmen steckte denn das Bild? War er aus Leder?«

Sie hielt es für Leder, es konnte aber auch Holz gewesen sein, das mit Leder bezogen war.

»Sie hat das Bild dann in ihren Kasten getan -- ich habe es gesehen. Es war ein kleiner, schwarzer Kasten, der unter ihrem Bett stand.«

Mason unterwarf sie noch einem Kreuzverhör, um sicherzugehen, daß sie einfache Tatsachen nicht mit irgendwelchen Erfindungen ihrer Phantasie ausschmückte. Sie verstand nicht, warum er immer wieder mehr oder weniger dasselbe fragte. Aber plötzlich erwachte ihr Interesse, als er sie fragte, ob sie einmal einen Mann mit einer weißen Maske vor dem Gesicht gesehen habe. Sie schauderte.

»Meinen Sie den Teufel von Tidal Basin...? Ja, ich habe von ihm gehört, aber Gott sei Dank habe ich ihn noch nie gesehen. Der hat sicher auch den Mord begangen -- alle Leute haben es gesagt, als wir dabeistanden.«

»Sie haben ihn also nicht gesehen?«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Nein! Und ich will ihn auch nicht sehen! Aber ich kenne Leute, die ihn gesehen haben...mitten in der Nacht.«

»Wenn sie geträumt haben«, meinte Mason. Aber sie bestritt es.

Der Teufel gehörte nun einmal zu Tidal Basin, und die Leute wollten sich das Recht auf ihn nicht nehmen lassen.

Mason entließ die Frau, die ihm unter Tränen dankte. Auch Marford verabschiedete sich von dem Chefinspektor. Dr. Rudd war schon vorher gegangen.

Mason hatte viel zu tun. An drei Stellen hätte er zu gleicher Zeit sein sollen. Es handelte sich um drei wichtige Dinge, die er selbst tun mußte und die er keinem anderen überlassen konnte. Er beschloß, die erste Aufgabe allein zu lösen. Bei der zweiten konnte ihm Elk helfen.


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