Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10

Die Dynamomaschine surrte, als er den Gehweg entlangging. Zischend und funkensprühend sprang das grelle Licht an und beleuchtete plötzlich die Fassade des Landhauses. Auf der Straße hielt ein Motorradfahrer erstaunt an und betrachtete das ungewöhnliche Schauspiel.

»Was ist denn hier los?« fragte er neugierig.

»Hier werden Filmaufnahmen gemacht«, sagte Mike.

»Ach so, daher das Licht. Sicher gehört die Ausstattung Mr. Knebworth.«

»Wo fahren Sie hin?« fragte Mike plötzlich. »Entschuldigen Sie meine Frage, aber wenn Sie nach Chichester unterwegs sind, könnten Sie mir einen sehr großen Dienst erweisen, wenn Sie mich bis dahin mitnehmen.«

»Sitzen Sie hinten auf«, sagte der Mann. »Ich fahre nach Petworth, aber es macht mir nichts aus, wenn ich Sie erst nach der Stadt bringe.«

Brixan stieg nahe am Markt ab und ging zu dem Haus eines seiner früheren Lehrer, der sich in Chichester niedergelassen hatte. Er wußte, daß dieser eine ausgezeichnete Bibliothek besaß. Nachdem er die Einladung zum Abendessen strikt abgelehnt hatte, trug er sein Anliegen vor, und sein alter Lehrer lachte.

»Ich kann mich nicht darauf besinnen, daß Sie sehr fleißig waren, als Sie noch zur Schule gingen«, sagte er dann. »Aber meinetwegen können Sie ruhig die Bibliothek benützen. Haben Sie einen Vers von Vergil vergessen? Dann könnte ich Ihnen vielleicht das Nachschlagen ersparen.«

»Nein, um Vergil handelt es sich nicht, großer Meister«, antwortete Mike lächelnd. »Es handelt sich um etwas viel Greifbareres.«

Er hatte etwa zwanzig Minuten in der Bibliothek zu tun, und als er wieder zum Vorschein kam, lag ein zufriedener Zug auf seinem Gesicht.

»Kann ich einen Augenblick bei Ihnen telefonieren?« fragte Er bekam die Verbindung mit London sofort. Ungefähr zehn Minuten lang sprach er mit Scotland Yard, dann ging er ins Speisezimmer, wo sein Lehrer, ein alter Junggeselle, allein sein Abendbrot einnahm.

»Sie können mir noch einen großen Dienst erweisen«, sagte er zu ihm. »Haben Sie eine Schnellfeuerpistole im Haus, die ein größeres Kaliber hat als diese?«

Bei diesen Worten zog er seine eigene Waffe aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Mike wußte, daß Mr. Scott als Offizier beim Heer gedient hatte und sogar Lehrer bei dem Offiziersausbildungskurs gewesen war. Deshalb schien die Erfüllung seiner Bitte nicht so unmöglich, wie es aussehen mochte.

»Ja, ich kann Ihren Wunsch erfüllen. Was wollen Sie denn schießen – etwa Elefanten?«

»Etwas viel Gefährlicheres«, sagte Mike.

»Ich bin noch nie neugierig gewesen«, meinte Mr. Scott, verließ das Zimmer und kam mit einer schweren Browningpistole wieder. In der anderen Hand hatte er eine Schachtel mit Patronen.

Fünf Minuten reinigten sie die Pistole, die lange Zeit nicht in Gebrauch gewesen war. Und mit dieser neuen Waffe, deren Gewicht seinen Rock bedenklich herunterzog, nahm Mike Abschied.

Sein Herz war jetzt leichter und sein Verstand klarer als bei seiner Ankunft. Er nahm in der Stadt ein Auto und fuhr wieder nach Dower House. Kurz vor dem Ziel stieg er aus und schickte den Wagen zurück. Jack Knebworth hatte nicht einmal gemerkt, daß er verschwunden war. Aber der alte Mr. Longvale, der einen langen Rock mit einem Cape und eine seidene Kappe mit einer langen Troddel trug, kam gleich auf ihn zu, als er den Garten betrat.

»Kann ich Sie sprechen, Mr. Brixan?« fragte er leise. Sie gingen zusammen in das Haus.

»Erinnern Sie sich, daß Mr. Knebworth sehr bestürzt war, weil er glaubte, daß jemand zum Fenster hereinschaute – ein Geschöpf mit einem Affengesicht?«

Mike nickte.

»Es ist merkwürdig«, sagte der alte Herr nachdenklich. »Es war vor einer Viertelstunde – ich machte meinen gewöhnlichen Spaziergang in dem hinteren Teil meines Gartens und schaute über die Hecke auf das Feld hinaus. Plötzlich sah ich, wie sich eine riesenhafte Gestalt erhob, die wie aus dem Erdboden wuchs. Sie bewegte sich auf jenes Gebüsch zu.« Er zeigte durch ein Fenster auf eine Gruppe von Bäumen und Sträuchern, die jenseits der Straße stand. »Sie wollte sich wohl heimlich entfernen.«

»Können Sie mir den Platz zeigen?« fragte Mike schnell.

Er ging mit dem anderen quer über die Straße zu dem Gebüsch, aber in dem Gehölz war nichts zu entdecken. Um besser sehen zu können, kniete er nieder und suchte den ganzen Horizont ab, aber keine Spur von Bhag. Er war überzeugt, daß es der Affe von Griff Towers war. Vielleicht hatte die ganze Sache nichts zu bedeuten, denn Gregory hatte ihm selbst erzählt, daß sich das Tier nachts umhertrieb und daß es völlig harmlos war, vorausgesetzt...

Der Gedanke war zu phantastisch, zu absurd – aber der Affe war so außergewöhnlich vernünftig und besaß fast menschlichen Verstand, daß keine Vermutung über ihn unmöglich gewesen wäre.

Als er zum Garten zurückkehrte, sah er Helen stehen. Sie hatte ihre Szene zu Ende gespielt und beobachtete nun die vorsichtigen Bewegungen zweier Filmbanditen, die in dem abgeblendeten Licht der Bogenlampen an der Mauer entlangkrochen.

»Entschuldigen Sie eine aufdringliche Frage, Miss Leamington. Haben Sie andere Kleider und Wäsche bei sich?«

»Warum wollen Sie das wissen?« fragte sie erstaunt. »Ja, ich habe andere Kleider mitgenommen. Das tue ich immer, für den Fall, daß wir einmal in den Regen kommen.«

»Nun noch etwas, haben Sie etwas verloren, als Sie in Griff Towers waren?«

»Ich vermisse meine Handschuhe«, sagte sie schnell. »Haben Sie sie gefunden?«

»Nein. Wann haben Sie sie verloren?«

»Ich habe sie gleich vermißt. Einen Augenblick dachte ich...« Sie hielt plötzlich inne. »Aber das war nur eine dumme Idee –« »Was dachten Sie?« fragte er.

»Das möchte ich Ihnen lieber nicht sagen, das ist eine rein persönliche Sache.« – »Sie dachten, daß Sir Gregory sie sich als Andenken angeeignet hat?«

Selbst in dem Halbdunkel sah er, wie sie die Farbe wechselte.

»Ja, das dachte ich«, sagte sie verwirrt.

»Dann ist die Frage, ob Sie noch andere Kleider mitgebracht haben, ziemlich belanglos.«

»Worüber sprechen Sie denn eigentlich?«

Sie sah ihn argwöhnisch an, und er fühlte, daß sie ihn vielleicht für etwas angetrunken hielt. Aber er konnte ihr im Augenblick unmöglich seine unzusammenhängenden Fragen erklären.

»Jetzt müssen alle zu Bett gehen«, sagte Jack Knebworth vernehmlich. »Legen Sie sich jetzt schlafen. Mr. Foß hat allen Räume angewiesen. Morgen früh um vier Uhr müssen wir wieder an der Arbeit sein. Deshalb muß jeder sehen, soviel wie möglich zu schlafen. – Foß, haben Sie die Räume bezeichnet?«

»Ja«, sagte der Dramaturg. »Ich habe die Namen an jede Tür geschrieben. Miss Leamington habe ich einen Raum für sich gegeben – ist das recht so?«

»Vielleicht«, sagte Knebworth in zweifelndem Ton. »Na, sie ist ja nicht lange genug dort, um sich daran zu gewöhnen.«

Helen sagte dem Detektiv gute Nacht und ging direkt in ihr Zimmer. Es war ein kleiner Raum, in dem ein etwas muffiger Geruch herrschte. Die bescheidene Einrichtung bestand aus einer Bettstelle auf Rollen, einer Kommode mit beweglichem Spiegel, einem kleinen Tisch und einem Stuhl. Bei dem Licht ihrer Kerze konnte sie sehen, daß der Fußboden erst kürzlich gescheuert worden war. In der Mitte des Zimmers lag ein abgenützter, quadratischer Teppich.

Sie schloß. die Tür, löschte das Licht, entkleidete sich im Dunkeln, ging zum Fenster und öffnete einen Flügel. Dabei bemerkte sie, daß in der Mitte der einen Scheibe ein kreisrundes weißes Papier aufgeklebt war. Zuerst wollte sie es abreißen, aber sie vermutete, daß es ein Merkzeichen für die Filmaufnahmen am nächsten Morgen sei, das Knebworth hatte anbringen lassen.

Sie konnte nicht gleich einschlafen. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit Mike Brixan, auf den sie sehr ärgerlich war. Sie wußte nicht, ob sie ihn bewundern oder sich über ihn lustig machen sollte. Er war ein sympathischer Mensch, das stimmte. Der sechste Sinn, den Frauen hierfür entwickeln, hatte ihr bereits diese Gewißheit gegeben. Sicherlich hatte er viel Mut. Schließlich siegte der Humor über ihre Gefühle, und sie schlief lächelnd ein.

Kaum hatte sie zwei Stunden geruht – ihr schien es nur ein kurzer Augenblick zu sein –, da erwachte sie voller Entsetzen. Das Gefühl einer unmittelbar drohenden Gefahr weckte sie. Sie richtete sich im Bett auf. Ihr Herz schlug heftig. Ängstlich sah sie sich im Zimmer um. In dem blassen Mondlicht war jede Ecke zu erkennen. Nichts rührte sich. Niemand befand sich außer ihr im Zimmer. War vielleicht jemand vor der Tür, der sie aufgestört hatte? Sie stand auf und drückte den Griff leise nieder. Aber die Tür war noch verschlossen. Das Fenster? Es lag nicht sehr hoch über dem Erdboden, wie sie sich erinnern konnte. Sie ging zum Fenster, um den einen Flügel zu schließen. Als sie auch den anderen zumachen wollte, kam plötzlich aus dem Dunkeln ein haariger langer Arm, und fünf Finger legten sich wie ein Schraubstock um ihr Handgelenk.

Sie schrie nicht. Sie stand atemlos vor Schrecken, ihr Herz setzte aus. Kalte Todesfurcht faßte sie. Was war das – was konnte das sein? Sie nahm all ihren Mut zusammen und schaute aus dem Fenster. Sie sah ein schreckliches, tierisches Gesicht, aus dem ihr zwei runde, grüne Augen entgegenfunkelten.


 << zurück weiter >>