Edgar Wallace
Großfuß
Edgar Wallace

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24

»Um Gottes willen, wer tat das?« fragte Ferraby entsetzt.

Super kniete neben der Gestalt nieder, sah mit einem freundlichen Lächeln zu Jim auf und schien merkwürdig gefühllos zu sein.

»Wer das getan hat?« Seine Stimme war ganz leise geworden, so daß Jim scharf hinhören mußte, um ihn zu verstehen. »Es war derselbe Mann, der Cardew chloroformierte, derselbe, der Hanna Shaw erschoß und derselbe, der den vergifteten Kuchen schickte – derselbe Wille, dieselbe Hand, dieselbe Ursache. Er ist furchtbar konsequent, ich kann den Mann nur bewundern, der so handelt. Und er denkt an alles. – Richten Sie sich um Gottes willen nicht auf, Ferraby! Ich knie hier auch nicht, weil ich anbete, sondern um sicher zu sein. Wenigstens einer von uns beiden muß lebendig zurückkommen – im Interesse der Gerechtigkeit.«

Ein eiskalter Schrecken fuhr Jim in die Glieder.

»Ist er hier – in den Büschen?« flüsterte Jim.

Super nickte.

»Der Mord wurde vor weniger als zehn Minuten ausgeführt. Können Sie sich auf das ›plok, plok, plok‹ entsinnen, das wir vorhin hörten? Sie dachten, daß jemand Bäume fällte. Aber das waren Schüsse aus einer Pistole mit Schalldämpfer.«

Während der ganzen Zeit suchten seine Augen die unmittelbare Nachbarschaft ab. Seine scharfen Ohren versuchten, das Geräusch von raschelnden Blättern oder brechenden Zweigen zu hören.

Jim fühlte, wie Super alles absuchte, und sah plötzlich, wie er seinen Blick auf einen Stechginsterbusch konzentrierte – einen goldgelben Farbfleck zur linken Hand. Heimlich wies er nach dem Gesträuch, durch das sie eben gekommen waren.

»Springen Sie zur Seite!« sagte er hastig, und als Jim Ferraby eiskalt vor Schrecken vorwärts taumelte und in Deckung sprang, warf sich Super mit dem Gesicht nach unten glatt auf den Boden.

Plok, plok, plok!

Etwas schwirrte nahe an Jims Kopf vorbei, er hörte das Brechen von Zweigen und das Rascheln von Blättern. Im nächsten Augenblick war Super hinter ihm ins Gebüsch gesprungen.

»Laufen Sie, was Sie können und richten Sie sich nicht auf!«

Sie flohen den Pfad entlang, wo sie sich mit einem anderen Gebüsch decken konnten, und von da aus weiter zu einem entfernteren Strauch.

»Wir können jetzt langsam gehen – er wird nicht hinter uns her kommen«, sagte Super. »Ich habe ihn selbst nicht gesehen und hätte ihn auch nicht bemerkt. Ich habe nur einen Vogel beobachtet, der sich in dem Stechginsterbusch niederlassen wollte und plötzlich wieder davonflog. Ich habe eine große Vorliebe für Vögel und habe sie immer beobachtet. Ich hatte zwanzig junge Küken in der Brutmaschine diesen Morgen – das ist zwar nicht Natur, aber man verdient Geld damit.«

Das letzte, was Jim Ferraby jetzt zu besprechen wünschte, war Supers Geflügelfarm.

»Wo mag er jetzt sein?« fragte er und schaute zurück.

»Der? Oh, der bringt sich in Sicherheit. Er wartete nicht, nachdem er gefeuert hatte. Ich müßte auch eine Pistole bei mir tragen, aber ich bin noch von der alten Schule. Ich werde dafür sorgen, daß Cardew von heute ab polizeilichen Schutz bekommt.«

»Glauben Sie, daß ihm Gefahr droht?«

»Sicher«, sagte Super kurz. »Ich wußte schon immer, daß er in Gefahr schwebte, seitdem er in der Öffentlichkeit begann, den Mord in Beach Cottage zu diskutieren. Seine Theorie stimmt nicht ganz, aber sie ist doch der Wirklichkeit so nahe, daß sie gefährlich werden kann.«

Sie erreichten den Abhang, und Super machte halt, um über die Spitzen der grünen Büsche hinwegzuschauen.

»Er ist fortgegangen«, sagte er. Später war er zehn Minuten lang an Elsons Telefon beschäftigt.

Als er seine verschiedenen Gespräche beendet hatte, kamen auch schon die einzelnen Polizeimannschaften an, teils zu Rade, teils in Autos. Die meisten kamen mit dem Krankenwagen vom Hospital. Einige von ihnen waren schwer bewaffnet, und mit diesen ging Super in das Gebüsch zurück an die Stelle, wo er Elson gefunden hatte. Er hatte den Toten mit dem Gesicht auf dem Boden liegen lassen, aber seine Taschen waren noch nicht ausgeräumt gewesen, wie das jetzt der Fall war.

»Wir unterbrachen ihn, als wir kamen, und er ging seitwärts in die Büsche, in der Hoffnung, seine Arbeit zu vollenden. Hat jemand Lattimer gesehen?«

»Er war nicht auf der Wache, als ich wegging«, sagte ein Polizeisergeant in Uniform. »Ich hinterließ aber Nachricht, daß er hierher kommen sollte.«

Super sagte nichts.

Er ging quer durch die Stechginsterbüsche, bog sie um und schaute darunter. Die abgeschossenen Patronenhülsen lagen ganz offen dort. Er sagte einem Beamten, der ihm folgte, daß er sie aufheben solle, und schenkte ihnen weiter keine Beachtung. Er schnüffelte und witterte überall umher wie ein guter Jagdhund.

»Ich habe eine sehr feine Nase«, sagte er zu Jim. »Riechen Sie nicht etwas?«

»Nein, außer dem Ginstergeruch kann ich nichts wahrnehmen.«

Ein Arzt untersuchte den Körper des Toten, als sie zurückkamen, und hatte bereits Anordnungen getroffen, daß er fortgeschafft werden sollte.

»Begleiten Sie mich auf einem kleinen Spaziergang«, sagte Super und ging zu den Ginstersträuchern zurück. »Er ist in dieser Richtung fortgegangen.« Er zeigte auf eine Stelle zwischen den Brombeersträuchern. »Sie müssen mir folgen, ich will Ihnen wie ein Bluthund die Spur zeigen.«

Jim fühlte sich krank. Die Sonne schien heiß, und er entsetzte sich vor dieser neuen Bluttat. Man hätte glauben können, daß Super von einer Tennispartie sprach, bei der er geschlagen worden war, so respektvoll sprach er von dem Mann, der ihn immer aufs neue in Erstaunen setzte.

»Ich glaube, Sie müssen auch unter Polizeischutz gestellt werden, Mr. Ferraby«, sagte er. »Außerdem bin ich davon überzeugt, daß ich es am meisten notwendig hätte. Andererseits habe ich aber eine Chance, Großfuß zu fassen, bevor die Ärzte Leigh operieren, wenn ich für meine Person den Schutz ablehne.«

»Hängt viel von der Operation ab?«

Super nickte.

»Wenn Leigh seinen Verstand zurückbekommt, wird die ganze geheimnisvolle Angelegenheit so einfach zu enträtseln sein, daß selbst der jüngste Polizeibeamte den Fall aufklären könnte. Aber wie es jetzt liegt, habe ich noch keinen Beweis, sondern nur Verdachtsmomente. Gerichtshöfe lieben aber keine Verdachtsmomente, sie brauchen zwei einwandfreie Zeugen, die den Mörder beobachteten, während er das Verbrechen beging, und womöglich noch eine Fotografie des Kerls bei der Tat. Und sie haben bis zu einem gewissen Grad auch recht. Kennen Sie eigentlich den Henker?« fragte er plötzlich, als er vorsichtig den Waldpfad entlangging.

»Ich habe noch nicht das Vergnügen gehabt, seine Bekanntschaft zu machen.«

»Er ist ein lieber Mensch«, sagte Super. »Er hat keine Kapricen. Ich kannte einen Henker, der die ausgesuchtesten Leckerbissen zum Frühstück haben mußte. Aber dieser neue Mann ist einer von den gewöhnlichen, die Bier und Käse bevorzugen. Er ist so bescheiden, wie, man sich nur einen Menschen wünschen kann. Für gewöhnlich ist er in seinem Barbierladen in Lancashire tätig. Er hat mich schon oft rasiert.«

Jim schauderte.

»Wenn Kriminalfälle nur auf Grund von Verdachtsmomenten vor die Richter gebracht würden«, sagte Super, indem er seine frühere Unterhaltung wieder aufnahm, »so könnte der Mann ruhig in seinem Barbierladen bleiben. Das Gewerbe bringt nicht viel ein, besonders an diesem Ort, wo viele Bergleute wohnen, die sich nur einmal in der Woche rasieren lassen. Er sagte mir auch, daß die neuen Selbstrasierer seinem Geschäft großen Abbruch getan haben. Ich würde gern eine lohnendere Nebenbeschäftigung für ihn finden.«

Jim wußte aus Erfahrung, daß Super viel reden mußte, wenn er intensiv nachdachte, aber der Gegenstand, über den er sich unterhielt, und das, worüber er nachdachte, waren zwei vollständig verschiedene Dinge.

»Es ist merkwürdig«, fuhr er fort, »daß alle Leute glauben, ein Mann müsse verrückt sein, wenn er einen einigermaßen schlau durchdachten Mord begeht. Man würde sich Großfuß vorstellen mit Stroh im Haar – hier bog er ab«, sagte er plötzlich und nahm die Zweige eines jungen Holzapfelbaums beiseite. Er kroch auf eine Lichtung hinaus, die mit Gras bestanden war und sah einen einfachen Drahtzaun vor sich. Er lehnte sich darüber und schaute auf den vertieften Weg, der an der Grenze der beiden Grundstücke entlanglief.

»Das ist Cardews Feld«, erklärte Super. »Es ist nicht so verwildert – ich möchte nur wissen, ob er noch am Leben ist«, sagte er ruhig.

»Sie denken doch nicht . . .« Jim beendete seinen Satz nicht.

»Das kann man niemals wissen«, entgegnete Super, stieg über den Zaun und ging vorsichtig den steilen Abhang zu der staubigen Straße hinunter. Hier stellte er genaue Nachforschungen an.

»Der Weg ist schmal genug, um darüber hinwegzuspringen. Wenn er aber auf dem Gras weiterging . . . Hallo!«

Ein Mann kam langsam die Straße entlang. Er hatte einen Zigarrenstummel zwischen den Zähnen und den steifen Hut ins Genick gesetzt.

»Sehen Sie, Lattimer kommt jetzt auch zur Arbeit«, sagte Super scharf. »Man sollte nicht denken, daß die Fabrikglocke schon vor einer halben Stunde geläutet hat. Guten Tag, mein tüchtiger Sergeant«, sagte er, als der Beamte auf Hörweite herangekommen war. »Waren Sie auf einer Hochzeit?«

»Nein, aber ich hörte gerade, daß es hier neue Unannehmlichkeiten gibt.«

»Haben Sie es erst jetzt gehört?« fragte Super ironisch. »Deshalb sind Sie wohl auch in so scharfem Trab hergelaufen?«

»Ich glaubte, daß es nicht notwendig sei, sich so zu beeilen«, sagte der andere kühl. »Einer der Dienstboten im Hause erzählte mir, was sich zugetragen hat, und ich dachte, ich könnte hier herumkommen, um den Weg abzukürzen. Auch hoffte ich eine Spur zu finden. Es ist doch ganz klar, daß er an dieser Stelle aus dem Gebüsch gekommen ist.«

Super antwortete nicht – dann zeigte er auf die Straße.

»Hier ist sehr viel Staub – wenn Sie den aufsammeln wollen?« sagte er. »Gehen Sie zu Cardews Haus und sehen Sie, was sich dort ereignet hat. Bleiben Sie bei ihm, bis ich Sie ablöse. Er darf nicht aus den Augen gelassen und sein Haus muß während der Nacht bewacht werden. Haben Sie verstanden?«

»Jawohl. Soll ich Mr. Cardew sagen, daß er unter polizeilichem Schutz steht?«

»Sagen Sie ihm alles, was Sie für richtig halten. Wenn er bemerkt, daß Sie auf seinen Türstufen sitzen, dann wird er schon vermuten, was los ist. Dann noch eins, Sergeant: Wenn er zu diesem Gebüsch gehen will, um Spuren zu suchen, dann tun Sie ihm den Willen. Aber lassen Sie ihn nur dann hierhergehen, wenn noch viele andere Leute an der Stelle sind. Ich mache Sie für sein Leben verantwortlich. Wenn man ihn tot in seinem Zimmer auffindet, lasse ich keine Entschuldigung gelten.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Lattimer und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

»Lattimer ist ein guter Kerl«, sagte Super, »aber er hat zu wenig Instinkt. Alle Tiere einschließlich der Detektivsergeanten haben Instinkt – wenn sie ihn doch bloß entwickeln würden!«

»Sie trauen Lattimer sehr – täuschen Sie sich auch nicht in ihm?« fragte Jim ruhig.

»Ich traue niemand«, war die überraschende Antwort. »Es mag so scheinen, als ob ich ihm traue, aber das ist doch gerade meine Schlauheit, daß immer alles so scheint. Wenn Sie ein guter Polizeibeamter sein wollen, dann dürfen Sie niemand trauen, auch nicht Ihrer eigenen Frau. Das ist auch der Grund, warum Polizeibeamte niemals verheiratet sein sollten. Früher oder später wird Lattimer einmal ein sehr guter Detektiv werden, wenn er nicht auf Abwege gerät. Jeder junge Detektiv hat Versuchungen durchzumachen. Er kommt viel in schlechte Gesellschaft.«

Sie gingen langsam nach Hill Brow zurück, und Super untersuchte das Arbeitszimmer des Toten. Mit Ausnahme eines Dampferbilletts, eines Kreditbriefes über eine außerordentlich hohe Summe und einer großen Menge englischen Geldes fand er nur wenig wichtige Dinge. Es waren fast gar keine Dokumente in den Schubladen von Elsons Schreibtisch, nur ein paar Kaufmannsrechnungen und eine Grundstücksurkunde über Hill Brow. Seine Sekretärin, eine blasse Frau in mittleren Jahren, erzählte Super, daß er wenig Korrespondenz gehabt habe.

»Ich glaube auch kaum, daß er richtig schreiben und ordentlich lesen konnte«, klagte sie. »Er hat mich übrigens in seinen Privatangelegenheiten nie ins Vertrauen gezogen.«

»Vielleicht hatte er überhaupt keine Privatangelegenheiten«, meinte Super.

Der große Aschenkasten vor dem Kamin war noch gefüllt und rechtfertigte Mr. Cardews Verdacht. Es war alles Asche von verbrannten Papieren. Die Überreste von zwei Büchern waren zu erkennen, aber was für Bücher es waren, konnte man nicht mehr feststellen.

»Er hatte natürlich irgendwelche Akten – ob er sie nun selbst geschrieben hat oder ob sie für ihn geschrieben wurden. Sicher ist nur, daß er sie verbrannt hat. Tatsächlich hatte er eine schnelle Flucht vorbereitet.«

Bevor Jim in die Stadt zurückkehrte, ging er noch hinauf, um den Anwalt zu begrüßen. Als er zu Mr. Cardew kam, schien es ihm, daß dieser viel weniger Vertrauen in seine eigene Sicherheit habe als vorher. Er saß blaß und nervös in seiner Bibliothek, schrak bei jedem Geräusch auf und war entsetzt über die Nachricht, die ihm Lattimer gebracht hatte.

»Ein Trauerspiel nach dem anderen«, sagte er mit hohler Stimme, als Jim näher trat. »Es ist ganz schrecklich, Ferraby. Wer hätte denken können, daß der arme Elson . . .« Er brach mitten im Satz ab. »Sie wissen doch, daß er gewarnt worden war. Sergeant Lattimer erzählte mir die Geschichte. Ein Stück Papier wurde vorigen Abend an seine Tür geheftet.«

Offenbar beunruhigte Cardew diese Warnung ebensosehr, wenn nicht mehr als die Mordtat selbst; denn er kam dauernd darauf zurück.

Seine Leidenschaft, Kriminalfälle aufzuklären, war augenblicklich auf dem Höhepunkt. Jim hatte noch nichts von dem Papier gehört, das an Elsons Tür angeklebt worden war, und er wunderte sich, warum der Oberinspektor ihm diese merkwürdige Tatsache nicht mitgeteilt hatte. Wahrscheinlich wäre die Sache bei Elsons Verhaftung herausgekommen. Er erwähnte diesen Umstand Cardew gegenüber, der ihn entsetzt anschaute.

»Elson sollte verhaftet werden? Warum?« fragte er keuchend. »Was hat er denn getan?«

»Er muß irgend etwas gestohlen haben, oder es befand sich gestohlenes Eigentum in seinem Besitz. Ich habe den Verhaftungsbefehl nicht gerade gern unterzeichnet. Es war das erstemal, daß ich meinen Namen unter ein solches Dokument setzte. Aber Super bestand so sehr darauf, daß ich es schließlich tat. Er wollte gerade die Verhaftung vornehmen, als er den Mord entdeckte.«

»Also Elson sollte verhaftet werden«, wiederholte Cardew ungläubig. »Das kann ich nicht verstehen. In meinem Verstand geht alles durcheinander. Ich hoffe, daß man mein Zeugnis bei der gerichtlichen Untersuchung des Mordes nicht braucht. Ich bin vollständig erledigt durch diesen neuen Schrecken.«

Und doch mußte er noch sehr stark von seiner Passion beherrscht werden, denn er fuhr fort:

»Möglicherweise waren Hanna und Elson wirklich verheiratet, und es wäre möglich, daß ein unbekannter Rivale die beiden tötete. Solche Fälle sind schon vorgekommen.« Er machte eine verzweifelte Bewegung mit seinen Händen. »Ich bin verrückt, daß ich mich mit all diesen Dingen abquäle. Leute wie der Oberinspektor Super eignen sich für solche Sachen viel besser, trotz all meiner Kenntnisse und meiner Studien. Allmählich fühle ich doch meine Unterlegenheit«, sagte er mit einem schwachen Lächeln.

Lattimer saß im Garten, als Jim aus dem Haus kam. Er hatte einen Stuhl in den Schatten eines Maulbeerbaums gestellt und schien halb eingeschlafen zu sein, denn er schrak zusammen, als Jim ihn anrief.

»Gott sei Dank, daß Sie nicht Super sind«, sagte er. »Es ist ein furchtbar einschläfernder Platz.«

Jim sah, daß er von seinem Sitz aus sowohl den vorderen Eingang von Barley Stack wie auch die Fenster von Mr. Cardews Arbeitszimmer überschauen konnte.

»Sind Sie auch wie Super der Ansicht, daß Mr. Cardew in Gefahr ist?«

Lattimer zuckte die Achseln.

»Wenn Super sagt, daß Ihm Gefahr droht, dann ist er eben in Gefahr.«

Jim glaubte, einen ironischen Unterton in der Antwort zu hören.

»Waren Sie mit Super zusammen, als er den Toten fand, Mr. Ferraby? Wie ist er getötet worden? Hat man ihn erschossen?«

»Ja«, sagte Jim ruhig. »Und es war ein glücklicher Umstand, daß wir nicht auch sein Los teilten.«

Lattimer schaute ihn mit großen Augen an.

»Wieso?« fragte er höflich. »Hat er oder sie oder wer es auch immer war auf Sie geschossen? Der Kerl muß aber Nerven wie Stahl haben. Ich dachte, Super wäre nur wieder mal schlechter Laune gewesen – aber das erklärt alles. Haben Sie denn nichts von dem Schützen gesehen?«

»Nein«, sagte Jim. Seiner Meinung nach war die Frage etwas überflüssig.

»Super hat ihn nicht gesehen – oder glauben Sie, daß er ihn doch gesehen hat? Super kann sehr scharf sehen, obgleich er immer vorgibt, daß es nicht so ist. Vor zwei Jahren behauptete er plötzlich, daß er stocktaub geworden sei, und die halbe Polizeidirektion ließ sich auch von ihm täuschen. Er hat auf Sie geschossen?« sagte er halb belustigt und schaute Jim dabei forschend an. »Also deshalb wird auch Mr. Cardew unter polizeilichen Schutz gestellt. Dieser Großfuß ist sicher ein ganzer Kerl.« Er unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. »Ich habe vorige Nacht gewacht«, sagte er und nahm sein Taschentuch heraus.

Jim nahm einen schwachen Duft wahr. »Ich hätte nie geglaubt, daß Sie so eitel wären, Sergeant«, sagte er gut gelaunt.

»Meinen Sie das Parfüm?« Lattimer roch an dem Batisttuch. »Meine Wirtin legt immer ein Riechkissen zwischen meine Taschentücher. Aber ich habe es ihr verboten und hoffe, sie wird es nicht wieder tun.« Dann überkam Jim ein kalter Schauer, als ihm plötzlich wieder zum Bewußtsein kam, wie Super im Gebüsch umhergeschnuppert hatte. Er mußte sich zusammennehmen. Er wollte Lattimer eben eine verfängliche Frage stellen, als der Beamte sie ihm unwillkürlich beantwortete.

»Super würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, wenn er den Duft riechen könnte. Er hat eine Spürnase wie ein Jagdhund. Dieser Mann hat übernatürliche Gaben.« Er gähnte wieder. »Ich würde heute abend gern früh zu Bett gehen.«

Es war spät, als Jim Ferraby nach Whitehall zurückkehrte, aber sein Vorgesetzter war noch im Büro und sandte nach ihm, als er ihn kommen hörte.

»Es scheint, daß Sie in letzter Zeit in eine Mordaffäre verwickelt sind«, sagte der alte Sir Richard. »Worum dreht es sich denn eigentlich?«

Jim erzählte ihm alles, was er wußte, aber es war nicht viel.

»Super ist mit der Aufklärung der Sache betraut«, sagte der Vorgesetzte nachdenklich. »Man könnte keinen besseren Mann für diesen Zweck finden. Tut er nicht sehr geheimnisvoll?«

»Ja, sein Verhalten ist sehr seltsam.«

Sir Richard mußte lachen.

»Dann können Sie sicher sein, daß er bald den Schuldigen festnehmen wird«, sagte er. »Wenn Super offen und frei über einen Fall spricht, dann ist die Lage meist hoffnungslos.«

Jim beendete seine Arbeit. Er war durch Supers Besuch etwas in Rückstand gekommen und beeilte sich, Elfa aufzusuchen. Sie war noch im Krankenhaus, als er nach Cubitt Street kam. Zwischen den Ärzten hatte eine Beratung stattgefunden, bei der bestimmte Entscheidungen gefallen waren, und man mußte ihre Einwilligung haben. Sie sah abgespannt und müde aus, als er sie an der Ecke von Cubitt Street traf.

»Sie werden die Operation nicht vor Ende nächster Woche vornehmen«, erzählte sie ihm. »Mr. Cardew hat mir eine sehr eilige Botschaft geschickt und mich gefragt, ob ich nicht zu ihm nach Barley Stack kommen wolle. Er hat wichtige und dringende Arbeiten, und er sagt, daß er sein Haus nicht verlassen darf.«

»Sie werden nicht zu Cardew gehen«, sagte Jim entschieden. »Er steht selbst unter Polizeischutz, und ich kann es nicht dulden, daß Sie sich dort einer neuen Gefahr aussetzen.«

Er brauchte ihr nicht die Geschichte von Elsons Tod zu erzählen, sie hatte schon alles in der Abendzeitung gelesen. Aber die Sorge um die Gesundheit ihres Vaters war so groß und sie war dadurch so in Anspruch genommen, daß sie sich wenig um andere Dinge kümmerte.

»Ich kannte ihn kaum«, sagte sie. »Aber das würde mich nicht von Barley Stack abhalten. Ich bin nur so schrecklich müde, Jim.«

»Cardew kann warten«, sagte er fest.

Aber offensichtlich konnte Mr. Cardew nicht warten. Als sie in das Wohnzimmer kamen, läutete das Telefon, und es war der Anwalt, der anrief. Sowie Jim es bemerkte, nahm er Elfa den Hörer aus der Hand.

»Hier ist Ferraby«, sagte er. »Ich komme eben mit Miss Leigh ins Zimmer. Sie ist viel zu angegriffen, um heute abend noch nach Barley Stack zu kommen.«

»Überreden Sie sie doch, daß sie herkommt«, bat Cardew dringend. »Begleiten Sie sie doch, wenn Sie wollen. Ich würde mich auch sicherer fühlen, wenn jemand hier im Hause ist.«

»Aber hat denn die Angelegenheit nicht Zeit?«

»Nein, nein, es ist Gefahr im Verzug!«

Jim nahm deutlich die Unruhe und Aufregung in der Stimme des Anwalts wahr.

»Es ist absolut notwendig, daß ich jetzt meine Angelegenheit in Ordnung bringe.«

»Aber Sie glauben doch nicht, daß Ihnen wirklich Gefahr droht?«

»Doch, ich bin ganz sicher. Ich möchte schnell alles ordnen, damit die junge Dame das Haus wieder verlassen kann, bevor weitere Beunruhigungen kommen. Super hat mir verboten, das Grundstück zu verlassen. Können Sie denn nicht mit Miss Leigh herkommen?« Er drängte so sehr, daß Jim die Öffnung des Hörers mit der Hand zuhielt und Elfa die Sachlage erklärte.

»Ist es wirklich so dringend?« fragte sie erstaunt. »Ich hätte nicht gedacht, daß Mr. Cardew so ängstlich sein könnte.«

Sie zögerte.

»Vielleicht wäre es doch besser, wenn ich ginge. Wollen Sie mich begleiten?«

Die Aussicht, eine Nacht mit ihr unter dem gleichen Dach zubringen zu können und eine lange Fahrt mit ihr durch die Abendkühle zu machen, hatte Jims Ansicht vollständig geändert. Aber trotzdem durften seine egoistischen Gründe nicht den Ausschlag geben, und er versuchte sie zu überreden, nicht fortzugehen. Er war aber nur halb bei der Sache, wie sie sofort mit dem feinen Instinkt der Frau erkannte.

»Sagen Sie ihm bitte, daß ich kommen werde. Die Luftveränderung wird mir guttun, und es wird vielleicht auch gut für Mr. Cardew sein.«

Jim übermittelte die Botschaft und legte dann den Hörer auf.

»Ich glaube, daß ich mich wegen der bevorstehenden Operation so mutlos fühle. Bitte gehen Sie schon zum Wagen, ich werde inzwischen meine Sachen packen und zu Ihnen hinunterkommen.« Sie hatte noch nicht zu Abend gegessen, aber sie wollte nicht warten.

»Mr. Cardew ißt immer sehr spät zu Abend, und er wird sicher auf uns warten.«

Ihre Vermutungen waren gerechtfertigt. Als sie ankamen, fanden sie Cardew in der Bibliothek. Er ging nervös auf und ab und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Als Elfa ihn sah, erschrak sie über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, seitdem sie ihn zum letztenmal gesehen hatte. In der Aufregung, in der er sich jetzt befand, schien er zehn Jahre älter geworden zu sein. Und er war sich dessen auch bewußt.

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte er und drückte ihr dankbar die Hand. »Ich habe mit dem Abendessen auf Sie gewartet und hoffe, daß Sie noch nicht gespeist haben. Ich werde mich wohler fühlen, wenn ich etwas gegessen habe. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich heute überhaupt schon etwas zu mir genommen habe.«

Für gewöhnlich trank er keinen Wein, aber bei dieser Gelegenheit stand eine Flasche mit goldenem Hals auf Eis. Cardew wurde durch den Genuß des Weins wieder frischer und bekam seine Haltung wieder.

»Es ist teilweise der traurige Unglücksfall, der Elson zugestoßen ist, teils auch die Erkenntnis, daß ich unter polizeilichem Schutz stehe, wie es der Oberinspektor ausdrückt, was meine Nerven so sehr aufregt, und doch« – er machte eine Pause mit dem Weinglas in der Hand – »diese höllische Leidenschaft, Verbrechen aufzuspüren, ist so stark in mir geworden, daß ich mich selbst immer wieder dabei ertappe, Theorien aufzustellen und Schlußfolgerungen zu ziehen, wie Minter es nennt.«

Später erklärte er, warum er Elfa hatte kommen lassen.

»Ich bilde mir eigentlich nicht ein, daß überhaupt Gefahr für mich besteht; aber als alter Anwalt muß ich mir sagen, daß ich auf jede Eventualität gefaßt sein muß. Heute nachmittag überkam mich plötzlich die Erkenntnis, daß ich kein Testament gemacht habe und noch nichts tat, um meine Papiere in Ordnung zu bringen. – Ich bin tatsächlich, wenn mir etwas zustoßen sollte, ebenso unvorbereitet wie irgendein unvorsichtiger Laie, dessen ungeordnete Nachlassenschaft die Zeit unserer Gerichte sehr in Anspruch nimmt. Mein letzter Wille ist schon aufgesetzt. Wenn Miss Leigh zwei Abschriften anfertigt, würde ich Sie bitten, Mr. Ferraby, sie durchzusehen und meine Unterschrift als Zeuge zu beglaubigen. Einer meiner Dienstboten kann dann als zweiter Zeuge mitunterzeichnen.« Als Elfa sprechen wollte, lächelte er. »Unglücklicherweise können Sie selbst nicht Zeugin sein, denn ich habe mir erlaubt, Ihnen ein großes Legat auszusetzen.«

Er brachte sie durch eine Handbewegung zum Schweigen, als sie ihm danken wollte.

»Ich bin ein alter Mann. Ich habe mich in meinem Leben noch nie so einsam gefühlt wie an diesem Abend. Ich habe keine Verwandten mehr, höchstens ein paar Freunde, und nur wenige Menschen, gegen die ich Dankbarkeit empfinde.« Er lächelte. »Ich habe dem Oberinspektor Minter wenigstens ehrenhalber ein Legat ausgesetzt – ich habe ihm nämlich meine kriminologische Bibliothek vermacht.« Er lachte zum erstenmal. »Ich habe ihm auch eine Geldsumme vermacht, die ihn in den Stand setzt, entweder ein Haus zu kaufen, in dem er die Bibliothek aufstellen kann, oder ein Motorrad, das seine Zeitgenossen und Mitmenschen nicht mehr so erschreckt, wenn er damit auf den Straßen umhersaust.«

Nach dem Abendessen zog er sich mit Elfa in die Bibliothek zurück, und Jim, der sich selbst überlassen war, ging in den Garten, um eine Zigarre zu rauchen. Er war kaum zwei Schritte weit gegangen, als der unvermeidliche Wachtposten erschien. Es war nicht Sergeant Lattimer, wie Jim wahrnahm, sondern ein Detektiv, den er schon früher einmal in Supers Büro getroffen hatte. Sie sprachen über das Wetter, über die schöne Nacht, über die Aussichten, die die Zweijährigen in dem nächsten Derby haben würden – sie sprachen tatsächlich über alles, aber sie erwähnten nicht, warum der Beamte hier wachte. Während sie auf und ab gingen, wurden die Rolladen von Cardews Arbeitszimmer hochgezogen, und Jim konnte auf der einen Seite des Schreibtisches den Anwalt, auf der anderen Elfa sehen. Sie schrieb schnell nach seinem Diktat.

»Ist das nicht ein wenig, gefährlich?« fragte Jim nervös. »Die Leute sind doch vom Garten aus deutlich zu sehen.«

»Vielleicht geben Sie ihnen den Rat, die Rolladen herunterzulassen«, sagte der Beamte.

Da Jim den Anwalt nicht selbst unterbrechen wollte, sandte er eine Nachricht durch einen der Diener hinein, und zu seiner Genugtuung stellte er fest, daß man seinem Rat folgte.

»Ich wundere mich, warum Mr. Cardew nicht schon selbst daran dachte«, sagte der Beamte. »Soviel ich weiß, beschäftigt er sich mit Dingen, die sonst nur die Polizei angehen.«

In diesem Augenblick hörte man von den Feldern her den ersten sanft schmelzenden Laut eines Nachtigallenschlages. Dann herrschte wieder tiefes Schweigen.

»Vielleicht gehen Sie jetzt hinein«, sagte der Mann höflich zu Jim. »Meine Ablösung kommt. Super würde es wahrscheinlich nicht gerne sehen, wenn er mich im Gespräch mit Ihnen fände.«

Jim ging verwundert in das Haus. Er begab sich in sein Schlafzimmer und packte seinen Koffer aus, den er aus dem Klub geholt hatte. Nachdem er der Ablösung Zeit gelassen hatte, zu kommen und zu gehen, ging er wieder in den Garten und war erstaunt, denselben Beamten noch auf Posten zu finden. Noch erstaunter war er, daß die Rolladen wieder hochgezogen waren, so daß Cardew und seine Sekretärin deutlich sichtbar waren.

»Super dachte, es sei wichtig und notwendig, den Raum überschauen zu können. Er sagte, daß sich hinter geschlossenen Läden etwas ereignen könnte.«

»War Mr. Minter hier?«

»Nur für eine Minute, Sir«, sagte der andere. Er war nicht abgeneigt, die Unterhaltung mit ihm fortzusetzen. Er nahm eine Zigarre, die Jim ihm anbot, und beklagte sich dann über die Ungerechtigkeit des neuen Pensionssystems für Polizeibeamte. Um Viertel nach zwölf kam Elfa aus dem Arbeitszimmer und bat Jim in die Bibliothek.

»Ich glaube, wir haben jetzt alles fertiggemacht. Es war eine entsetzliche Arbeit«, sagte sie mit leiser Stimme. »Jim, er hat mir eine ungeheure Summe vermacht. Das hätte er nicht tun sollen, aber er lehnt es ab, das Testament zu ändern.«

Cardew hatte nach seinem verschlafenen Diener geläutet. Dann wurde das Testament von allen unterzeichnet, auch von Jim und dem Diener.

»Ich möchte Sie bitten, dies aufzubewahren«, wandte sich der Anwalt an Jim. »Verwahren Sie es wenigstens bis morgen früh, bis ich es an einen sicheren Ort bringen kann. Es war eine wirklich erfolgreiche Arbeit heute abend, und ich bin sehr froh, daß sie beendet ist.« Er war ruhiger und hatte sich wieder erholt.

»Es wäre nun besser, Miss Leigh«, sagte er, »wenn Sie zu Bett gingen. Das Dienstmädchen wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Sie haben den Raum schon bewohnt, als Sie das letztemal hier waren.«

Sie war froh, daß sie gehen konnte, schloß mit einem Gefühl der Erleichterung die Tür ab und begann sich auszuziehen. Zehn Minuten später fiel sie schon in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Von den Feldern her sah Lattimer, wie ihr Licht ausgemacht wurde, und kam näher an das Haus heran.


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