Edgar Wallace
Großfuß
Edgar Wallace

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17

Mr. Gordon Cardew legte seinen Kompaß hin, nahm seine Brille ab und starrte mit offenem Mund auf Super, nachdem dieser seine sensationelle Neuigkeit erzählt hatte.

»Aber ich dachte, Miss Leigh hätte gesagt, er sei im Krieg gefallen?«

»Er lebt und liegt in einem Krankenhaus.«

Mr. Cardew sah von dem Plan des Landhauses zu dem Detektiv auf, als ob er sich überlegte, ob diese Nachricht genügend interessant sei, um eine Unterbrechung seiner Arbeit zu rechtfertigen.

»Ich bin sehr froh«, sagte er schließlich. »Außerordentlich froh. Ich habe von solchen Fällen gehört, aber ich ließ mir niemals träumen, daß ich jemals persönlich damit in Berührung kommen würde. Das erklärt mir natürlich, warum Miss Leigh nicht zu mir kam, als ich sie anrief.«

Und hier war für Mr. Cardew, soweit er in Betracht kam, die Sache zu Ende. Denn während die Auffindung eines verlorenen Vaters für Super in seiner Beamteneigenschaft mehr oder weniger interessant sein mochte, hatte Mr. Cardew wenig damit zu tun.

»Es ist kein Zweifel, daß er es war, der in der Mordnacht sang«, sagte Super. »Ich glaube, daß er in einer jener Höhlen dort oben lebte und eine Strickleiter hatte, die er nachts herabließ und am Morgen wieder heraufzog. Er erzählte mir so etwas.«

»Der Strolch!« keuchte Cardew. »War er nicht der Mann, der in jener Nacht im Garten war, als Sie bei mir saßen?«

Super nickte.

»Aber ein Landstreicher . . . Miss Leighs Vater! Es ist unglaublich! Was in aller Welt machte er denn? Ein Strolch!«

»Was Strolche eben machen«, sagte Super. »Herumstreifen, Dinge aufgreifen. Er muß sich irgendwie erinnert haben, wo er lebte. Ich glaube, er hatte eine verworrene Vorstellung, daß seine Tochter Hunger leiden könnte. Er pflegte Eier und Kartoffeln zu sammeln und sie auf die Treppe seines alten Hauses zu legen. Manchmal waren auch Blumen dabei.«

»Ist er nicht ganz richtig im Kopf?« fragte Mr. Cardew ängstlich. »Das will ich nicht hoffen. Diese Zerrüttungen sind häufig erblich.«

»Er ist bei Verstand und auch wieder nicht bei Verstand«, war Supers wenig zufriedenstellende Erklärung. »Der Arzt glaubt, daß ein Druck auf seinem Gehirn liegt – vielleicht ein Schädelbruch –, er hat eine zehn Zentimeter lange Narbe am Kopf. Jemand gab ihm einen Schlag, den er nicht so schnell vergaß.«

Der Rechtsanwalt legte die Fingerspitzen zusammen und schaute an die Decke.

»Vielleicht war es ein Granatsplitter – ich habe von solchen Fällen gehört. Aber ich kann nicht verstehen, wie er dazu kam, ein Landstreicher zu werden. – Es muß eine sehr freudige Aufregung für Miss Leigh gewesen sein, als sie erfuhr, daß ihr Vater noch lebt. Ich hoffe, daß Sie ihr die Nachricht vorsichtig beigebracht haben, obwohl Freude ja nicht tötet.«

»Ja, ich brachte es ihr taktvoll bei«, nickte Super. »Ich rief sie an und erzählte ihr, daß ich nicht glaube, daß ihr Vater tot sei. Und das bereitete sie auf die Neuigkeit vor.«

Mr. Cardew zog die Lippen zweifelnd zusammen. Er war wirklich nicht an der bemerkenswerten Entdeckung interessiert, höchstens so weit, als Leighs Gegenwart in Pawsey ein neues Moment in den Fall brachte.

»Sie bringen diesen Mann in Zusammenhang mit dem Verbrechen?« fragte er. »Wenn ich mich recht erinnere, glaubten Sie, daß er dieser Großfuß sein könnte?«

»Das habe ich nie gedacht!« brummte Super, der nichts so übelnahm, als wenn man ihm falsche Ansichten unterschob, die er nie gehabt hatte. »Sie theoretisieren wieder, Mr. Cardew.« Er sah auf den Plan, der kreuz und quer mit Bleistiftlinien durchzogen war. »Ist die ganze Sache nun ausgearbeitet?« fragte er dann ironisch. »Mord, begangen von einem linksfüßigen Mann?«

Mr. Cardew lächelte nachsichtig.

»Das ist nicht das Resultat meiner Untersuchungen«, entgegnete er. »Aber ich habe etwas Wichtiges von dem Bauamt von Pawsey erfahren. Man sagte mir, daß das Haus an der Stelle eines früheren Gebäudes errichtet wurde. Zweifellos gibt es unter dem Boden der Küche Keller . . .«

Super seufzte.

»Um Himmels willen«, sagte er sanft. »Vergessen Sie doch, die Keller! Wie entkam denn der Bursche? Etwa durch ein Loch im Boden? Und sind nicht auch geheime Federn vorhanden, die man berühren muß, damit sich das ganze Haus umdreht?«

»Jedenfalls hin ich davon überzeugt, daß Nachforschen nicht schaden kann«, versicherte Mr. Cardew. »Ich bin bereit, meine Erlaubnis dazu zu geben. Da das Haus mein Eigentum ist, kann ich nicht einsehen, was man dagegen einwenden könnte – ich werde die Grabarbeiten sogar bezahlen.«

»Kennen Sie meinen Sergeanten?« unterbrach ihn Super in seiner sprunghaften Art.

»Lattimer? Ja, ich kenne ihn. Er ist bei verschiedenen Gelegenheiten hier gewesen«, erwiderte Cardew überrascht.

»Hat er jemals versucht, sich freundschaftlich mit Ihnen zu stellen?«

Mr. Cardew zögerte.

»Hm . . . Ich möchte nicht zu seinem direkten Vorgesetzten über ihn sprechen, aber . . .«

»Aber was?«

»Nun wohl, einmal deutete er mir vorsichtig an, daß er etwas Geld borgen möchte.«

»So«, brummte Super, »das tat er? Haben Sie ihm was geliehen?«

»Nein. Ich kann wohl sagen, daß ich sehr enttäuscht war. Man vermutet doch nicht, daß ein verantwortlicher Polizeibeamter derartige Sachen macht. Ich habe es Ihnen nie erzählt, weil ich den Mann nicht in Unannehmlichkeiten bringen möchte.«

Super grübelte nach, dann zeigte er wieder auf den Plan.

»Haben Sie Ihre Theorie nun gut ausgearbeitet?«

Cardew lachte laut.

»Ich nehme Ihnen Ihre Sticheleien nicht übel, Oberinspektor«, sagte er in guter Laune, »weil ich doch weiß, daß Sie es nicht böse meinen. Aber ich möchte wetten, daß ich der Wahrheit über den Mörder näher bin als Sie.«

Er ging mit Super zur Vordertür.

»Mr. Elson ist krank«, sagte Super. »Er hat einen Anfall, ich nehme an, daß das von seiner Trinkerei kommt. Der Kerl ist der schlimmste Säufer, den ich je kennengelernt habe. Ich fragte heute morgen den Arzt, ob er schon das Delirium habe; aber er antwortete mir nicht darauf. Diese Ärzte sind alle Geheimniskrämer.«

»Wo ist Ihr Landstreicher jetzt?« fragte Cardew.

»Mr. John Kenneth Leigh vom Schatzamt der Vereinigten Staaten«, sagte Super korrekt, »liegt in einem Krankenhaus und wird dort gepflegt.«

»Und seine Tochter?«

»Miss Elfa Henrietta Leigh ist bei ihm, und sie möchte ihn gern über seine Erlebnisse zum Reden bringen. Aber er singt nur immer das verrückte Lied von dem maurischen König, der auf und ab reitet. Es mag ja ein ganz schönes Lied sein, aber mir gefällt es nicht. Anscheinend war es seine Lieblingsmelodie. Ich sah sie auf dem Notenpult des Klaviers stehen, als ich sie besuchte. In der Bibliothek habe ich auch verschiedene Bücher über spanische Dichtkunst gefunden. Daraus habe ich dann meine Schlüsse gezogen. – Wenn Sie noch irgendwelche Vermutungen oder Theorien über den Mörder haben, dann wissen Sie ja meine Telefonnummer. Ich werde mich stets dafür interessieren. Die Londoner Polizei teilte mir mit, daß sie nichts über den Einbruch in Ihrem Büro herausgebracht hat.«

»Das wundert mich«, sagte Mr. Cardew trocken. »Der Zusammenhang zwischen dem Mord und der Verbrennung der Dokumente der armen Hanna ist doch sehr augenfällig. Das müßte doch Scotland Yard auch einsehen.«

»Nichts ist klar in Scotland Yard«, sagte Super freundlich.

Mr. Leigh war in ein Krankenhaus in der Weymouth Street gebracht worden. Spät am Vormittag fand Super Zeit, dort einen Besuch abzustatten und sich nach seinem Patienten zu erkundigen. Elfa kam in den Empfangsraum herunter. Ihre Wangen waren frisch und rosig, und ihre Augen leuchteten, obgleich noch Tränen darin schimmerten.

»Er schläft jetzt«, sagte sie.

»Erkennt er Sie?« fragte Super.

Sie schüttelte den Kopf.

»Noch nicht ganz – ich muß mich aber auch in den letzten sechs Jahren sehr verändert haben. Er fragte mich, ob ich sein kleines Mädchen kenne.« Dabei zitterten ihre Lippen. »Wenn ich außer Fassung bin und weinen muß, so tadeln Sie mich, Super. Ist es nicht wunderbar, daß ich ihn wiedergefunden habe?«

»Ich habe ihn gefunden«, sagte Super.

Sie nahm seine rauhe Rechte zwischen ihre Hände und drückte sie.

»Ja, das haben Sie getan«, sagte sie sanft. »Niemand außer Ihnen hätte den Gesang mit meinem lieben Vater in Zusammenhang gebracht. Das Seltsamste ist doch, daß ich ihn an dem Abend singen hörte, als ich auf der Klippe lag. Ich dachte damals, daß ich träumte.«

»Wußten Sie denn überhaupt etwas von dem Vagabunden, der spanische Lieder sang?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich sicher gewesen, daß es mein lieber Vater war, obgleich ich längst annehmen mußte, daß er tot ist. Er hat auch all die Lebensmittel auf die Treppe in Edward Square gelegt. Er muß sich irgendwie an die Vergangenheit erinnert haben. Was ich nicht verstehen kann, ist nur, daß er niemals das Haus betrat oder sich zeigte. Er hat sich all die Jahre lang versteckt – ich möchte nur wissen, warum.«

Super lachte breit.

»Das hatte ich schon seit langer Zeit vermutet.«

Ein paar Türen von dem Krankenhaus entfernt wohnte der berühmte Arzt, den Super auf eigene Verantwortung zu Rate gezogen und gebeten hatte, eine Untersuchung von Mr. Leigh vorzunehmen. Super hatte Glück. Er traf den Doktor zu Hause, und der Bericht klang sehr ermutigend.

»Ich würde ihn nicht für geisteskrank halten, obgleich man ihn nicht für seine Handlungen verantwortlich machen kann. Alle Symptome weisen darauf hin, daß ein schwerer Druck auf seinem Gehirn lastet. Wenn man diesen Druck aufheben kann, besteht gute Aussicht, daß Mr. Leigh wieder vollkommen normal wird. Ich kann Ihnen natürlich nicht mit voller Gewißheit den Erfolg versprechen, aber eine Operation erscheint auf jeden Fall gerechtfertigt. Ein Beamter der amerikanischen Botschaft hat mich besucht und erklärt, daß keine Ausgaben gespart werden sollen.«

»Wann wollen Sie die Operation vornehmen?« fragte Super.

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Im Augenblick ist der Patient noch nicht kräftig genug, um einen so schweren Eingriff zu überstehen. Wir müssen erst seine Lebenskräfte wieder aufbauen.«

»Tun Sie es schnell, Doktor«, sagte Super. »Ich möchte diesen Fall vor meinen großen Ferien beenden. In sechs Wochen sind wieder Sitzungen des Gerichtshofes in Old Bailey. Es ist möglich, daß ich bis dahin alles soweit aufgeklärt habe.«

Er nahm ein kleines Notizbuch aus seiner Westentasche und sah darin nach.

»Ja, es stimmt. Voruntersuchung und Prozeß können im Juni abgeschlossen werden, und dann wird der Kerl im Juli aufgehängt. Das ist gerade die Zeit, wo ich in Urlaub gehen will – ich liebe es nicht, fortzugehen, bevor ich nicht meinen Verbrecher richtig tot habe. Bei all diesen Berufungsinstanzen und diesen Ausflüchten wegen Verrücktheit oder unbewußten Handelns unter fremder Suggestion können Sie nie sicher sein, daß Sie Ihren Mann wirklich haben, bevor er am Galgen hängt!«

Er ließ den armen Arzt im ungewissen, ob er betrunken war oder unter einem Sonnenstich litt.

Super brauchte sich dem Sergeanten der Polizeiwache von Marylebone Lane nicht vorzustellen und verschaffte sich ein Interview mit dem diensttuenden Beamten, indem er einfach ins Büro ging und die Tür hinter sich schloß.

»Ich möchte einen Beobachtungsposten vor der Klinik Weymouth Street 59 haben«, sagte er. »Dort liegt ein Mitglied der amerikanischen Botschaft mit Namen Leigh. Hier habe ich Ihnen eine Liste von Leuten aufgestellt, die ihn nicht besuchen sollen.«

Bei diesen Worten legte er ein Schriftstück auf den Schreibtisch.

»Ich habe der Vorsteherin gesagt, daß man ihm keine Nahrung geben soll, die nicht aus der Küche des Krankenhauses kommt. Keine Konfitüren, Bonbonnieren, Schokoladen, Trauben oder andere Früchte, die ihm von guten, anhänglichen Freunden geschickt werden. Ich verlange von Ihrem Polizeibeamten nur, daß er aufpaßt, daß niemand nach Einbruch der Dunkelheit in das Haus geht.«

Er erklärte dann weitläufig die Wichtigkeit der Aufgabe. Die meisten Polizeiinspektoren hätten das Auftauchen eines ›Fremden‹ von einem anderen Polizeibezirk als eine Beleidigung empfunden und wären bei seinem entschiedenen Ton stutzig geworden. Aber Super war eben Super. Es gereichte ihm zu großer Genugtuung, daß man versprach, seine Anordnungen auszuführen.

Nachdem er diese Arbeit getan hatte, konnte er sich den Luxus eines freundschaftlichen Besuches bei Jim Ferraby wohl erlauben. Sein Gedächtnis für die Gewohnheiten und charakteristischen Eigenheiten seiner Freunde war so groß, daß er gleichzeitig mit Jim auf der Treppe zu dessen Klub auftauchte.

Jim stürzte sich beinahe auf ihn, um neue Nachrichten zu erhalten.

»Ich versuchte den ganzen Morgen, Sie zu treffen. Miss Leigh berichtete mir telefonisch von der großartigen Neuigkeit. Aber seit der Zeit konnte ich nicht mehr mit ihr in Verbindung kommen. Dieser Landstreicher ist ihr Vater? Es scheint doch kaum möglich zu sein!«

»Ich stelle selten Theorien auf, aber wenn ich etwas vermute, so ist es fast sicher und nie unmöglich. Ich hätte Sie gern besucht, aber dann hätte ich im Restaurant essen müssen, und das ist sehr teuer. Deshalb zog ich es vor, Sie in Ihrem Klub aufzusuchen. Man ißt hier ebensogut, wenn nicht besser.«

Erst nachdem sie das Essen beendet hatten und beim Kaffee im Rauchzimmer saßen, begann Super zu sprechen.

»Das spanische Lied an und für sich konnte mir noch keinen Aufschluß geben, obgleich ich mir sofort sagte, daß dieser Vagabund anders als alle anderen war. Ich verfolgte seine Spur und erhielt überall aus dem Lande durch die lokalen Polizeibehörden Nachrichten über ihn. Ich entdeckte, daß er sehr wohl bekannt war. In Canterbury hatte er sogar wegen Landstreicherei eine Woche im Gefängnis gesessen. Ich wundere mich nur, daß der Gefängnisarzt nicht sah, daß er nicht recht bei Verstand ist. Als Sie mir aber letzten Sonntag die Nachricht von den Eiern und den Kartoffeln brachten, die auf der Türschwelle seiner alten Wohnung niedergelegt wurden, war mein Interesse geweckt. Meiner Meinung nach konnte das nur eins bedeuten, nämlich, daß jemand, der Miss Leigh gern hatte, diese kleinen Gaben niederlegte. Aber er wußte nicht, daß sie nicht mehr in dem Hause wohnte. Es konnte also nur jemand sein, der die verrückte Idee hatte, daß sie bitterste Not litt. Und der einzige, der so fühlen konnte, war ihr Vater. Ich besuchte die junge Dame also, und es war keine große Mühe, den Landstreicher zu identifizieren. Die Ärzte glauben, daß eine Operation ihn wieder völlig heilen wird, und dann werden wir sehr viele romantische Dinge erfahren, von denen Sie sich überhaupt nichts träumen lassen.«

»Was denn?« fragte Jim.

»Erinnern Sie sich nicht an den Stadtrat von Brixton, von dem ich Ihnen erzählte?«

Jim nickte.

»Das war ein ganz minderwertiger Bursche.«

»Was war denn mit ihm?« fragte Jim.

»Nichts«, erwiderte Super ausweichend. »Ich wollte nur wissen, ob Sie sich auf meine Äußerung von damals besinnen können.«

»Was hat der aber mit dem Landstreicher zu tun?«

»Sehr viel – auch mit der Ermordung Hanna Shaws. Bitte, achten Sie darauf, was ich Ihnen jetzt sage. Dieser Brixton wird ein hochinteressanter Zeuge werden.«

Er nahm sein Notizbuch heraus, legte es auf den kleinen Tisch, auf dem der Kaffee stand, schlug den Deckel auf und nahm einen gefalteten Briefumschlag heraus.

»Erinnern Sie sich daran?«

Jim nickte.

»Es war der Briefumschlag, der in der Mordnacht in der Küche gefunden wurde.«

»Nur zwei Leute außer mir wissen hiervon«, sagte Super. »Sie und Elfa Leigh. Selbst Lattimer hat keine Ahnung davon. Der Mann, der den Brief schrieb, der zu diesem Umschlag gehört, war der Mörder Hanna Shaws. Das ist mir vollständig klar. Ob er nun den Kamin heruntergekrochen ist oder aus unterirdischen Tiefen, geheimen Kellern oder anderen merkwürdigen Plätzen kam – der Mann, der das geschrieben hat« – er tippte bedeutungsvoll auf den Umschlag – »hob die Pistole, mit der die unglückliche Frau getötet wurde. Möglicherweise ist sie gar nicht so unglücklich und beklagenswert, wie man im allgemeinen annimmt. Persönlich habe ich die Überzeugung, daß es für sie sehr gut war, aus diesem Trubel und den Wirrnissen herauszukommen.«

»Wo herauszukommen?« fragte Jim verwundert.

»Aus allem. – Wenn, Sie mir noch etwas bestellen wollen, dann möchte ich gerne einen alten Kognak trinken. Süße Damenliköre sind nicht nach meinem Geschmack.«

Er gab Jim die Adresse des Krankenhauses, dann holte er sein Motorrad aus der Garage von Scotland Yard, wo alle jungen Polizisten es gebührend bewunderten, und fuhr unter geräuschvollen Explosionen zu seiner Polizeistation zurück. Lattimer war nicht zugegen. Er hatte ihn schon früh am Morgen nach Pawsey geschickt, um Untersuchungen anzustellen. Die gerichtliche Verhandlung der Leichenschau sollte am nächsten Tage stattfinden. Super mußte sich darauf vorbereiten, und es war sehr schwierig zu prüfen, ob alle Tatsachen im Gerichtssaal der Öffentlichkeit preisgegeben werden durften oder ob sie im Interesse der Aufklärung des Mordes geheimzuhalten waren. Von Zeit zu Zeit hob er seinen Kopf und legte die Feder hin. Er hatte schadenfrohe Gedanken und dachte besonders daran, daß Mr. Cardew seine theoretische Arbeit, mit der er den Kriminalfall aufklären wollte, im Stich lassen mußte, um in einem kleinen, dumpfen Gerichtszimmer ungeduldig zu warten.

Lattimer kehrte gegen Abend zurück und berichtete das Resultat seiner Nachforschungen.

»Ich folgte dem Feldpfad südlich von Pawsey drei Kilometer weit. Ein Wagen konnte unmöglich dorthin entkommen. Der Weg ist sehr eng und außerdem durch zwei Zauntritte versperrt. Später mündet er in die London Lewes Road, wie Sie vermuteten.«

»Wie ich wußte«, verbesserte ihn Super. »Also ein Wagen konnte den Weg nicht fahren. Ich wäre auch sehr verwundert gewesen, wenn es gegangen wäre.«

Lattimer machte große Augen.

»Ich dachte, Sie erwarteten . . .«

»Ich wiederhole Ihnen, ich wäre wirklich sehr verwundert gewesen, wenn ein Wagen den Weg hätte fahren können«, sagte Super befriedigt. Als Lattimer sich zum Gehen wandte, fügte er noch hinzu:

»Elson geht es wieder besser, wie ich hörte.«

»Ich habe nicht einmal gewußt, daß er krank war«, sagte Lattimer gleichgültig.

»Ich weiß nicht, ob Delirium tremens eine Krankheit oder ein Dauerzustand ist. Aber jedenfalls geht es ihm jetzt besser. Es wäre ganz gut, wenn Sie morgen früh zu ihm gingen und einige unverfängliche Fragen stellten. Ich hätte ihm Blumen gesandt, nur scheint mir das zu voreilig zu sein – dann, Lattimer, ich brauche Sie morgen früh auf dem Gericht.«

»Ich werde dort sein.«

Dicht bei der Polizeiwache lag das Häuschen, in dem Super wohnte. Es gehörte auch ein kleiner Garten dazu. Zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer lagen in einem Stockwerk, während sich auf der Hinterseite des Hauses ein kleines Feld befand, auf dem seine kostbaren, braungelben Orpington-Hühner lebten und sich von den Erträgnissen der Nachbargärten nährten. Denn es gehörte zu ihren ständigen Gewohnheiten, über die Grenzen ihres Feldes hinauszugehen. Supers Name hatte aber eine solche magische Kraft, daß nur wenige Klagen kamen, obgleich die gefiederten Räuber die Dorffelder und Gärten der Umgebung dauernd heimsuchten. Es gab aber auch noch andere Räuber in dieser Gegend, die weder vor Super noch vor seinen Hühnern Respekt hatten. Manchmal kamen nachts von der Spitze des Hügels rote, schleichende Gestalten, aber Super entdeckte bald den Weg, auf dem die Füchse kamen, und brachte eine Falle mit Selbstschuß dort an, sehr zum Nachteil der dortigen Jagd. Es war eine gute Falle, obwohl er sie selbst verfertigt hatte.

Es war schon dunkel, als Super zu dem kleinen Schuppen hinüberging, in dem er sein Motorrad aufbewahrte, Er wollte ein paar Ausbesserungen an der Maschine vornehmen und seinen Vergaser reinigen. Die Zeit nach Mitternacht schätzte er besonders, um Reparaturen an seinem Rad auszuführen.

Obgleich er sehr gut sehen konnte, hatte er sich angewöhnt, mit der Hand an der Lichtleitung entlangzufühlen, die das Haus mit dem Schuppen verband. Er war kein gelernter Elektriker und hatte sie etwas roh angelegt.

Als er nun wieder an dem Draht entlangtastete, merkte er zu seinem großen Erstaunen, daß die Leitung unterbrochen war. Als er sich bückte, entdeckte er das schlaff herabhängende Ende des Drahtes auf dem Erdboden. Nun war ja an einem abgerissenen Draht nichts Besonderes, aber als er ihn heute am Tag gesehen hatte, war er noch straff gespannt, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er zerstört worden war.

Er machte kurz kehrt, ging ins Haus zurück und nahm das lose Ende des Drahtes mit sich, nachdem er es von dem Isolator abgenommen hatte. Beim Licht der Tischlampe prüfte er die Bruchstelle. Der Draht war durchgeschnitten, er konnte die Kneifstellen einer Zange deutlich feststellen.

»Donnerwetter!« sagte Super.

Eins war sicher. Ein Spaßvogel erlaubte sich keinen Scherz mit Super. Der Draht war also aus einem guten Grund abgeschnitten, und es mußte sicher zum Schaden Supers geschehen sein.

Er ging in sein Schlafzimmer, holte eine kleine Kiste unter seinem Bett hervor, nahm daraus einen schweren Polizeirevolver, lud ihn, und nachdem er eine Weile gesucht hatte, fand er eine Polizeilampe. Mit diesen beiden Dingen ging er auf den Hof zurück und schlich sich geräuschlos wie eine Katze zu dem Schuppen. Kein Laut kam durch die Stille der Nacht, nur ab und zu ertönte das schläfrige Gackern einer Henne. Er ahnte den Zusammenhang. In der Hütte war eine Gefahr verborgen.

Der Lichtschalter für den kleinen Schuppen war draußen hinter dem Dachvorsprung gegen Wind und Wetter geschützt. Die Tür wurde niemals verschlossen. Es war sehr einfach, in den Hof zu kommen und in den Schuppen zu gehen. Vorsichtig schritt er vorwärts und beleuchtete den Weg mit seiner Lampe, die andere Hand hatte er am Revolver. Er drückte sich ganz auf die Seite und riß plötzlich die Tür zum Schuppen auf. Eine betäubende Explosion folgte, und darauf hörte er Glas splittern. Als sich der Rauch verzogen hatte, schaute er durch eine Spalte der Tür, hinter der er stand.

Das mußte seine eigene Fuchsfalle mit dem Selbstschuß gewesen sein. Er hatte sie aber nicht so aufgestellt, daß die Mündung nach der Tür zeigte. Auch hatte er nicht die Schnur der Falle an die Türklinke gebunden. Als er sie zum letztenmal gesehen hatte, war sie einige hundert Meter entfernt zwischen den Gebüschen verborgen aufgestellt gewesen.

Er hörte jemand rufen und ging zum Haus zurück. Dort traf er Lattimer.

»Hallo, ich dachte, Sie wären schon zu Bett!« sagte Super.

»Ich hörte eine Explosion – was hatte das zu bedeuten? Es war zu nahe für einen Schuß aus der Fuchsfalle.«

Lattimer war außergewöhnlich aufgeregt.

»Treten Sie näher«, sagte Super. »Hier ist eine gute Gelegenheit für junge Detektive, um sich an der Aufklärung solcher Dinge zu üben.«

»Ist irgendein Schaden geschehen?« fragte Lattimer atemlos.

»Drei Glasscheiben sind zertrümmert, und fünfundzwanzig erstklassige Rassehühner sind aus ihrem schönen Schlaf aufgeschreckt. Das ist alles.«

Eine Rauchwolke lagerte über dem Garten, und man konnte überall den Geruch von verbranntem Schießpulver wahrnehmen. Lattimer folgte seinem Vorgesetzten in den Schuppen und besah sich die Schießfalle. Es war eine sehr einfache Konstruktion, die Super selbst hergestellt hatte.

»Hatten Sie die Falle im Schuppen stehen?«

Super sah ihn ironisch an.

»Natürlich – ich versuchte, Selbstmord zu verüben. Ich mache öfter solche Verrücktheiten.«

Er schaute wie eine alte Eule auf das noch rauchende Schießeisen und schüttelte den Kopf.

»Na, der hat einen Schreck bekommen!«

»Wer?« fragte Lattimer schnell.

»Der Kerl, der mir diese Falle gestellt hat! Ich wette, daß er der elendste Bursche im Umkreis von -zig Kilometern ist. Er mußte doch wissen, daß ich das Licht anmache, bevor ich die Tür öffne. Aber er wollte vermeiden, daß ich die Falle sehe, und schnitt deshalb die Lichtleitung durch. Er ist ein verschmitzter Kerl, dieser Großfuß. Ich will Ihnen noch etwas sagen, Sergeant. Wenn Elson im Bett läge, wäre dies nicht passiert. Wenn er in eine Zwangsjacke gesteckt worden wäre, so daß er nicht hätte umherschleichen können, so würde die Falle noch in ihrem alten Versteck unter den Sträuchern stehen.«

»Glauben Sie, daß Elson das getan hat?«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Super. »Das habe ich auch nicht gesagt. Legen Sie mir niemals Worte in den Mund, die ich nicht geäußert habe. Ich habe nur bemerkt, daß ich nicht gezwungen wäre, morgen für mein gutes Geld Glas kaufen zu müssen, wenn dieser Mensch in eine geschlossene Zelle gebracht worden wäre. Ich dachte, Sie wären schon schlafen gegangen, Sergeant.«

»Nein, ich fühlte mich nicht mehr so müde wie vorher. Ich ging noch die Straße auf und ab und rauchte eine Pfeife, als ich hörte, wie der Schuß losging. Dieser Fall geht mir wirklich auf die Nerven.«

»Sie sind zu temperamentvoll«, sagte Super.

Er schlurfte zu seinem Haus zurück, der Sergeant ging hinterher.

»Legen Sie sich schlafen, mein Sohn. Sie werden Ihre hübsche Gesichtsfarbe noch ganz verlieren.«

Er wartete, bis Lattimer zu seiner Wohnung zurückgegangen war, dann begann er eine systematische Durchsuchung des Grundstücks. Der mordlustige Besucher konnte auf vielen Wegen gekommen sein, aber er konnte keine Spuren von ihm finden; denn der Boden war trocken und hart.

*

»Es wäre vielleicht gut, wenn ich einen tüchtigen Bluthund hielte«, sagte Super am nächsten Morgen, als er sich rasierte. »Fast alle Detektive brauchen Spürhunde. Ich müßte eigentlich auch einen haben. Es ist nur ein Unglück, daß ich keinen Hund vom andern unterscheiden kann.«

»Sind Sie davon überzeugt«, fragte Lattimer, »daß jemand die Schießfalle in der Absicht aufgestellt hat, Sie zu töten? Es kann doch auch ein Scherz gewesen sein.«

»Da möchte ich aber laut loslachen«, sagte Super und zog, die Stirn kraus, als er sich das Kinn rasierte. »Solche dummen Scherze nötigen mir nicht einmal ein Lächeln ab, nicht in Hunderten von Jahren.«

»Wo haben Sie die Schießfalle zuletzt gesehen?«

»Draußen auf den Feldern, in der Nähe der Weißdornbüsche. Ich habe sie dort gegen die Füchse aufgestellt. Nehmen Sie einmal an, ich hätte die Tür geöffnet, ohne zu wissen, daß etwas geplant war. Was würden die Leute wohl gesagt haben? Man hätte doch sicher behauptet, dieser alte, verrückte Super habe eine Schießfalle in seinem Schuppen aufgestellt und vergessen, daß sie dort stand. Ergebnis der Leichenschau: Tod durch Unfall, man soll der Witwe Bedauern und Teilnahme aussprechen. Und da ich nicht verheiratet bin, wäre die letzte Bemerkung überflüssig gewesen. Ich kann überhaupt nicht begreifen, warum Leichenschaugerichte so sentimentale Anwandlungen haben. Und dann würden drei Zeilen Normaltypendruck in der Zeitung stehen – wenn es hoch kommt, sind es auch vier, und vielleicht auch ein oder zwei Zeilen unter den Schauernachrichten. Lattimer, wenn ich unter den Händen solcher Schufte und Verbrecher sterben soll, dann brauche ich eine ganze Spalte und eine dicke Überschrift in der Zeitung. Ich weiß, was ich mir schuldig bin und was ich beanspruchen darf. Wenn ich an diesen schmutzigen Hund denke, der die Schießfalle im Stall aufgestellt hat, dann kommt mir die Wut. Die Explosion hat auch meinem Motorrad sehr geschadet. Die ganze Farbe um den Handgriff herum ist weggeschmort und abgeblättert. Ich muß Feuerfliege wieder neu anstreichen. Was meinen Sie zu einem dunklen Orange, Sergeant?«

»Das wird sehr schön sein«, meinte Lattimer.

Super schärfte sein Rasiermesser mit einem abwesenden Blick.

»Elson fühlt sich besser, er wird den Abend wieder herumwandern können. Ich habe das Kriegsministerium angerufen, daß man mir einen Tank zur Unterstützung senden soll. Wenigstens habe ich daran gedacht, aber ich habe es noch nicht getan.«

Jim Ferraby, der auch als Zeuge bei der Leichenschau anwesend war, holte Super und Lattimer mit seinem Wagen nach Pawsey ab. Er fand den alten Oberinspektor in sehr gehobener Stimmung; er war sogar zum Scherzen aufgelegt. Man hätte niemals aus seinem Benehmen schließen können, wie nahe er in den frühen Morgenstunden dem Tode gewesen war. Als Jim vor der Polizeiwache auf Super wartete, weil dieser noch in elfter Stunde den diensttuenden Beamten eine Rede halten mußte, sah er, daß Cardews Auto vorbeikam und der Anwalt seinen Wagen zum Stehen brachte.

»Nein, ich danke Ihnen, ich habe versprochen, Super nach Pawsey zu bringen«, sagte Jim auf seine freundliche Einladung.

Cardew lächelte bitter.

»Ich hoffe, daß ich das Vergnügen haben werde, Sie zurückzufahren. Ich glaube, daß ich Ihnen eine endgültige Erklärung geben kann, wie der Mord ausgeführt wurde. Es wurde mir plötzlich über Nacht klar, als ich im Halbschlaf lag. Je länger ich nun darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, daß ich die richtige Lösung für diesen ganzen Fall gefunden habe, der bisher ein unerklärliches Rätsel schien. Und was noch viel wichtiger ist«, fuhr er nachdenklich fort, »ich habe einen Parallelfall entdeckt, den Mordfall Starkie, der 1769 begangen wurde. Er ist ausführlich in einem alten Kalender beschrieben. Danach scheint es nämlich, daß ein Mann mit Namen Starkie . . .«

Aber Jim hatte weder Zeit noch den Wunsch, alle Einzelheiten dieses Mordes anzuhören, und entschuldigte sich, als Super auf der Bildfläche erschien und ein Paar wildlederne Handschuhe anzog, die so wenig zusammenpaßten, daß Jim diesen Umstand der Geistesabwesenheit und Zerstreutheit Supers zuschrieb.

»Einer ist immer schlechter als der andere«, sagte der Oberinspektor, als er sich an Jims Seite setzte und die Beine bequem ausstreckte. »Ich verliere immer meinen linken Handschuh. Ich wundere mich nur, warum noch niemand auf die Idee gekommen ist, rechte und linke Handschuhe einzeln zu verkaufen. Damit ließe sich doch ein gutes Geschäft machen – da fährt der alte Cardew in einer großen Staubwolke vor uns her und sein Gehirn ist ganz voll von Hypothesen und Vermutungen. Er hat so etwas wie eine juristische Auffassung der Sache, mit anderen Worten, er kann nicht geradeaus sehen.«

»Er hat schon eine Theorie fertig ausgearbeitet, um sie Ihnen vorzulegen«, sagte Jim, als der Wagen in schnelle Fahrt gekommen war und die langsame Limousine vor ihnen überholte.

»Das glaube ich gern, daß er schon wieder eine neue Theorie hat«, sagte Super selbstzufrieden.

»Er hat die Theorie wieder mitten in der Nacht gefunden.«

»Sie hat sich wohl geschämt, ihn am Tag zu überfallen«, lachte Super. »Na, ich möchte nicht den Verstandesapparat von Cardew haben, und wenn man mir zehn Millionen Pfund dazu schenkte. Ich kann Ihnen seine Theorie schon im voraus sagen. Er wird den Mut finden, mir all diese Märchen von heimlichen Kellern und dergleichen auf die Nase zu binden, und seine Theorie wird in der kühnen Behauptung gipfeln, daß Hanna Shaw von Miss Leigh ermordet wurde.«

»Was meinen Sie?« fuhr Jim auf, und in seiner Erregung lenkte er den Wagen plötzlich quer über die Straße.

»Nein, seien Sie nicht gleich böse, wenn ich einen Spaß mache. Wer täte das nicht einmal? Meine Nerven sind nicht ganz auf der Höhe, aber ich möchte wetten, das ist seine Theorie. Miss Leigh traf Hanna Shaw – sie hatte ihr doch telegraphiert –, und dann sind beide in Streit geraten, und Miss Leigh hat sie erschossen. Sie ist aus dem Haus gegangen und hat die Tür hinter sich zugeschlossen.«

»Aber das ist doch verrückt!«

»Natürlich ist das verrückt«, sagte Super vergnügt. »Aber das ist die Erklärung, die ein so romantischer Mann wie Cardew geben wird.«

»Er ist mir niemals romantisch vorgekommen«, lächelte Jim.

»Er ist aber romantisch. Warum würde er sonst all die Bücher über Anthropologie lesen? Wenn es noch etwas Romantischeres als seine Kriminalstudien gibt, dann sagen Sie es mir bitte.« Ein paar Minuten später erzählte er gleichgültig sein Erlebnis mit der Schießfalle.

»Es hat mir doch etwas zugesetzt, aber nicht so viel wie das Geld, das ich dem alten Smith für neue Scheiben zahlen muß. Der flaust mir vor, daß es jetzt einen Glastrust gibt und daß alle Preise gestiegen sind. Er muß immer lügen . . .« Super schaute über seine Schulter zurück. Mr. Cardews Wagen lag weit hinter ihnen. »Wenn ein Mann bekannt werden möchte, dann weiß er gewöhnlich nicht die Grenzen einzuhalten. Morgen werden in allen Zeitungen Artikel von ihm stehen, und keiner von diesen Reportern wird mich auch nur bitten, ein freundliches Lächeln zu zeigen. Persönlich ziehe ich es ja vor, die öffentliche Meinung nicht auf mich zu lenken. Ich bin einer der stillen Arbeiter, von denen Sie in den Büchern lesen. Haben Sie das auch schon gefunden?«

»Nein«, sagte Jim.

»Aber es ist tatsächlich so«, behauptete Super. »Ich gehe diesen Spürnasen von Zeitungsleuten eine Meile weit aus dem Weg. Im ›Surrey Comet‹ wurde einmal geschrieben: ›Der Oberinspektor Minter arbeitet gern im Dunkeln‹ – ich habe mir sechs Exemplare der Zeitung aufgehoben und will sie Ihnen dieser Tage einmal zeigen.«

Aber Supers Bescheidenheit trat nicht sehr deutlich in Erscheinung, als sie die Stadthalle erreicht hatten, wo die Leichenschau abgehalten werden sollte. Jim beobachtete, daß Super sich sofort unter eine Gruppe von Zeitungsberichterstattern mischte und gleich darauf an der Spitze der ganzen Schar im Hotel Royal verschwand. Die Gesellschaft kam gerade noch rechtzeitig vor Beginn der Verhandlung an. Super entschuldigte sich bei ihm.

»Ich habe den jungen Leuten nur eine Runde spendiert – ich wollte nämlich, daß sie mich nicht erwähnen, und ich dachte, es wäre besser, wenn ich ihnen das vorher sage.«

Am Abend las Jim den Bericht über die Sitzung, und es war merkwürdig, daß trotz der Vorsichtsmaßregeln Supers nicht nur sein Name erwähnt war, sondern auch äußerst schmeichelhafte Bemerkungen über seine Klarheit, sein Talent und seine bewunderungswürdige Begabung hinzugefügt waren.

Die Verhandlung dauerte länger, als Jim vermutet hatte. Supers Aussage war ein Wunder an Konzentration; aber es verging doch eine geraume Zeit, bis er fertig wurde. Ferraby selbst war eine halbe Stunde lang auf dem Zeugenstand, während Cardews Erklärungen über eine Stunde dauerten. Es war schon ziemlich spät am Nachmittag, als der Gerichtshof zu seinem Spruch zusammentrat.

»Haben Sie gehört, was Cardew alles erzählte?« fragte Super ärgerlich. »Ich wußte ja schon im voraus, daß er nur so übersprudeln würde – er tat es natürlich im Gegensatz zu mir, um mich zu ärgern. Als dieser kindische Leichenbeschauer ihm obendrein für seine äußerst wertvollen Angaben dankte, platzte er direkt vor Stolz.«

Sie nahmen erst noch ihren Tee im Hotel ein, bevor sie in die Stadt zurückkehrten. Mr. Cardew gesellte sich ihnen ungebeten zu, obwohl er aus dem harten, abweisenden Blick Supers hätte entnehmen können, daß es nicht der geeignete Augenblick war, seine neuen Hypothesen auszukramen. Jim versuchte, ihn auf eine neue Spur zu bringen, aber Cardew wollte sich nicht geschlagen geben.

»Ich habe heute morgen zu Ferraby gesagt, daß ich Ihnen die Lösung dieses merkwürdigen Rätsels mitteilen wollte.«

»Hören Sie gut zu, Lattimer«, sagte Super mit zweifelhafter Höflichkeit. »Ein junger Beamter kann nicht genug lernen. Und wenn Sie einen Gentleman wie Mr. Cardew anhören, der seine Theorien auseinandersetzt, dann müssen Sie die Ohren aufmachen. Das ist für Sie eine Art Erziehung. Es mag auch sein, daß es Ihnen nicht viel nützt, das kann man niemals vorhersagen. Also nun sitzen Sie still und hören Sie zu!«

Aber Lattimer brauchte solche Ermahnungen nicht. Er paßte angestrengt auf.

»Soviel ich aus der ganzen Verhandlung entnehme«, begann Mr. Cardew, »hatten Sie drei sich an der Küstenstraße versteckt, als die arme Hanna ankam. Sie sahen sie als dunklen Schattenriß, als sie vorbeifuhr. Sie haben ihren Hut und ihre Gestalt erkannt, und Sie sahen, wie sie vor der Haustür hielt, aber nicht, wie sie herauskam.«

»Ganz recht!« bemerkte Super. »Da haben Sie aber eine Schlußfolgerung gezogen, auf die Sie stolz sein können.«

»Sie haben sie nicht herauskommen sehen«, fuhr Cardew wohlwollend fort. »Und wenn Sie sie nicht herauskommen sahen, dann haben Sie auch nicht den Mann gesehen, der sieh in dem hinteren Teil des Wagens versteckt hatte und sich in der Nähe des Hauses niederbückte, um nicht gesehen zu werden. Es ist möglich, daß er unerkannt in den Wagen sprang, als Hanna auf der Straße vorbeifuhr, und wartete, bis sie die Tür geöffnet hatte. Dann sprang er auf sie zu, brachte ihren Hilferuf zum Verstummen und zog sie in das Haus hinein. Daß die Küche verschlossen war, beweist doch genau, daß er den Raum als Gefängnis für sie benützte.«

»Die Tür schloß sich hinter ihm – ich hörte, wie sie krachend ins Schloß fiel«, sagte Super gelangweilt.

»Er konnte sie doch mit seinem Fuß zugezogen haben«, antwortete Cardew schnell. »Was sich in der Küche zutrug, weiß niemand. Sicher sind sie nicht so lange dort gewesen, bis dieser mörderische Schuft die arme Frau erschoß. Was haben sie dann getan?«

»Ach ja – was haben sie dann getan?« fragte Super.

Cardew schaute ihm gerade ins Gesicht.

»Er zog ihren Mantel an und setzte, ihren Hut auf«, fuhr Cardew langsam fort. »Er kam aus der Tür, schloß sie und stieg in den Wagen ein. Er schaltete die Scheinwerfer ein – Sie sagten doch selbst, daß sie ein paar Sekunden aufleuchteten und dann wieder ausgemacht wurden. Der Grund dafür ist ganz klar. Wenn er die Lampen hätte brennen lassen, wäre ihr Schein auf die Vorderwand des Hauses gefallen, und jede Person in der Nähe wäre erkannt worden, und vor allem hätte man gesehen, daß er nicht eine Frau, sondern ein Mann war, trotz des Frauenhutes, den er trug.«

Super war mäuschenstill.

»Er fuhr dann mit dem Wagen auf die Straße«, fuhr Cardew fort und weidete sich an der Sensation, die er durch seine Erklärung hervorgerufen hatte. »Er fuhr auf die Höhe der Klippe, legte Hut und Mantel ab und ging zu Fuß zu seinem Wagen, der auf ihn wartete – wahrscheinlich war es nur ein kleiner Wagen, den man leicht verstecken konnte.«

Super sah ihn mit großen Augen an.

»Das ist eine der bedeutendsten Theorien, die ich jemals gehört habe«, sagte er schließlich, und Jim wußte, daß er es im Augenblick nicht ironisch meinte. Seine Augen waren weit geöffnet, und sein Schnurrbart schien sich zu sträuben. »Donnerwetter, Sie haben recht!«

Tödliches Schweigen folgte. Dann erhob sich Super langsam, streckte seine große Hand aus und ergriff Cardews Rechte.

»Ich danke Ihnen«, sagte er schlicht.

Super sprach auf der Rückfahrt von Pawsey bis zur Polizeistation kein Wort. Er lehnte Jims Einladung ab, neben ihm Platz zu nehmen, und kauerte sich auf einem der Rücksitze zusammen. Neben ihm saß Lattimer. Nur einmal während der Fahrt war es Jim, als ob er etwas vor sich hin brummte. Erst beim Abschied brach er das Schweigen.

»Ich nehme viel von dem zurück, was ich über Cardew sagte – nicht alles, aber vieles. Ich dachte niemals, daß Anwälte derartig viel oder zu etwas anderem taugten, als Briefe an Leute zu schreiben, die ihre Kohlenrechnungen nicht bezahlt haben. Aber dieser Cardew hat etwas fertiggebracht, das ihm so leicht kein anderer nachmacht, Mr. Ferraby. Er hat mein Selbstvertrauen gestärkt. Er hat mir gezeigt, daß ich klüger bin als er, und einen Mann, der das zustande bringt, nenne ich einen Wohltäter der Öffentlichkeit.«

»Aber wieso sind Sie klüger als er?« fragte Jim erstaunt.

»Er erwähnte Großfuß mit keinem Wort. Nun sehen Sie mich an – ich weiß, wer Großfuß ist, und ich kenne ihn ebensogut wie Lattimer.« Er schaute zu dem Sergeanten. »Ich weiß es auch ohne Theorien, Schlußfolgerungen, Hypothesen oder anderen gelehrten Unsinn. Vor einigen Tagen war Großfuß in meinem Büro. Ich hätte Ihnen Großfuß vorstellen können, wenn ich gewollt hätte.«

»Den Mörder?«

Super nickte.

»Großfuß war ganz bestimmt der Mörder.«

»Kam er denn durch die Hintertür in das Haus?«

Super nickte wieder.

»Ja, er kam auf verschiedenen Wegen, er ging sicher durch die Hintertür des Hauses.«

Jim war verstört.

»Aber hat Hanna Shaw ihn gekannt?«

»Nein, Hanna Shaw hat niemals seine Füße gesehen. Sie war tot, ehe Großfuß kam.«

»Aber Super, Sie haben doch gesagt, daß sie von ihm ermordet wurde!«

»So war es«, sagte Super, als er in die Polizeistation eintrat. »Also denken Sie darüber nach, mein Sohn. – Sergeant, holen Sie mir eine Abendzeitung, ich möchte doch einmal sehen, was diese stenografierenden Verbrecher über mich gesagt haben.«


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