Edgar Wallace
Großfuß
Edgar Wallace

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2

Der junge Beamte hörte mit bewunderungswürdiger Geduld zu.

»Ich habe Sullivan festgenommen, weil er vorige Nacht in der Nachbarschaft des Tatortes schlief. Praktisch hat er schon eingestanden, daß er versuchte, in das Haus einzubrechen.«

»Nehmen Sie die Maße seiner Ohren und betrachten Sie ihre Form.« Bei diesen Worten nahm Super seinen Federhalter auf. »Haben Sie schon bemerkt, daß Verbrecher und Halbverrückte Ohren haben, die so groß wie Wandschirme sind? Das steht alles in dem Buch, und das Buch kann doch nicht lügen. Der Detektivberuf ist nicht mehr das, was er einst war, mein lieber Sergeant. Wir brauchen jetzt mehr Physiognomiker und mehr Chemiker. Wenn ich mir so einen richtigen Detektiv von heute vorstelle, sehe ich einen Mann vor mir, der in einer feinen Villa wohnt, in einem kostbaren Armsessel sitzt und ein Mikroskop, einen Blutfleck und etwas Londoner Straßenschmutz vor sich hat. Wenn er diese Dinge zusammenmischt, dann kann er Ihnen sagen, daß die Juwelen von einem linkshändigen Mann gestohlen wurden, der in einem grünlackierten Packard, letztes Modell, fuhr. Sind Sie schon einmal einem Mann mit Namen Ferraby begegnet?«

»Mr. Ferraby von der Staatsanwaltschaft?« fragte der Sergeant interessiert. »Ja, ich sah ihn, als er neulich hier war.«

Super nickte. Seine Kiefer schlossen sich wie eine Rattenfalle, und dann zeigten sich zwei Reihen gesunder Zähne, als er lachte.

»Der ist kein Detektiv«, sagte Super mit Nachdruck. »Der versteht sich nur auf die Gesichter der Leute. Wenn der zugezogen würde, um die geheimnisvolle Sache mit dem Rajah von Bong aufzuklären, dessen Armbanduhr verlorenging, würde er zunächst entdecken, daß der Großwesir, oder wie der Kerl heißt, so ein Ding bei Veltheims Tag- und Nachtleihhaus versetzt hat, und dann würde er den Wesir schnappen und gefangensetzen. Aber ein wirklicher Detektiv würde nicht so töricht handeln. Der würde erst folgern, daß die Uhr im Kampf mit einer jungen, schönen Stenotypistin abgerissen wurde, die hinter einer geheimen Tapetentür verborgen sitzt, mit einem Knebel im Munde, vollständig gefesselt und soweit verpackt, daß sie von diesen verdammten Indern nach dem Lapislazulipalast gebracht werden kann. Der alte Cardew, das ist ein Detektiv! Das ist ein Mann, an dem Sie sich ein Beispiel nehmen müssen, Sergeant!«

Super zeigte mit dem Ende seines Federhalters bedeutsam auf seinen Untergebenen.

»Er kennt sich in der Psychologie aus, er versteht etwas von der Form der Ohren, er weiß, was ein vorstehendes Kinn und ein unsymmetrisches Gesicht bedeuten und wieviel ein Gehirn wiegen kann – und noch viel mehr so schöne Dinge. In Barley Stack hat er eine große Bibliothek, in der nur Bücher über Verbrechen stehen.«

Wenn Super erst anfing, von dem ausgezeichneten Amateurdetektiv Gordon Cardew zu sprechen, dann war schwer etwas mit ihm anzufangen. Der Sergeant seufzte leise und respektvoll.

»Wollen Sie Sullivan sprechen, Super? Er hat praktisch schon eingestanden, daß er nach Hill Brow kam, um einen Einbruch zu verüben.«

Super schaute drohend um sich, dann nickte er plötzlich zum größten Erstaunen Lattimers.

»Ich will ihn sehen, lassen Sie ihn hereinkommen.«

Der Sergeant erhob sich schnell und verschwand in dem anstoßenden Raum. Einige Minuten später kehrte er mit einem großen, wenig appetitlichen Landstreicher zurück, der sehr verwirrt aussah.

»Dies ist Sullivan«, meldete der Beamte.

Super legte seine Feder hin, nahm seine Brille ab und schaute den Gefangenen an.

»Was hast du da vorhin erzählt . . ., daß dieser Strolch dich nicht nach Hill Brow hineinließ?« fragte er unerwartet. »Und wenn du lügen willst, Sullivan, dann lüge wenigstens so, daß es glaubwürdig erscheint.«

»Es stimmt, Super«, sagte der Landstreicher heiser. »Und wenn ich in dieser Minute sterben soll – der schwachsinnige Kerl hat mich beinahe umgebracht, als ich das Fenster öffnen wollte. Und wir hatten doch vorher alles so genau ausgemacht – er sagte mir sogar die Stelle, wo der Amerikaner sein Geld aufbewahrt. Und wenn ich diesen Augenblick sterben soll . . .«

»Das wirst du nicht tun – Landstreicher sterben überhaupt nicht«, bemerkte Super bissig. »Sullivan? Jetzt weiß ich Bescheid. Du bist doch damals wegen Raubes zu drei Jahren verurteilt worden . . . Lukas Markus Sullivan – ich erinnere mich genau an deine Heiligennamen!«

Lukas Markus bewegte sich unruhig hin und her, aber bevor er widersprechen und seine Unschuld beteuern konnte, fuhr Super fort: »Was weißt du von diesem verrückten Landstreicher?«

Sullivan wußte nur wenig. Er hatte ihn in Devonshire getroffen, hatte aber schon vorher durch andere ›Ritter‹ der Landstraße von ihm gehört.

»Er ist nicht ganz richtig im Kopf, Super, das sagen alle. Er geht im Land umher und singt vor sich hin, er schließt sich keiner größeren Gesellschaft an und führt so merkwürdige Reden – so vornehmes Zeug – und dann spricht er immer in fremden Sprachen.«

Super lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

»Das hast du nicht aus den Fingern gesogen, dazu hat dein Gehirn nicht das nötige Gewicht. Wo hat er denn seine Bleibe?«

»Er kampiert überall. Aber ich glaube, daß er doch irgendwo eine feste Wohnung hat, wahrscheinlich in der Nähe des Meeres. Als ich die eine Woche mit ihm zusammen auf der Straße wanderte, fragte er mich öfters, ob ich Schiffe gern hätte, und dann erzählte er mir, daß er ihnen ganze Tage lang auf der See zuschaute und feststellte, welche nicht untergehen könnten. Er ist wirklich verrückt. Nachdem wir ausgemacht hatten, daß wir in das Haus einbrechen wollen – was meinen Sie, was er zu mir gesagt hat? Er hat mich angefahren, als ob er ein böser Hund wäre. ›Fort‹, sagte er – genauso, wie ich es jetzt sage, Super –, ›fort, deine Hände sind nicht rein genug, um . . .‹, und dann kam noch etwas von Gerechtigkeit . . . der ist verrückt.«

Der Oberinspektor sah den Mann lange Zeit an, ohne zu sprechen. Sullivan war es nicht wohl dabei.

»Dir bleiben die Lügen ja im Hals stecken«, meinte Super schließlich. »Du kannst die Wahrheit gar nicht sagen, du hast so sonderbare Augen! Bringen Sie ihn wieder hinter Schloß, und Riegel, Sergeant – wir werden ihn hängen!«

Super schaute düster und bewegungslos auf das Tintenfaß und hielt den Federhalter in der Hand. Sullivan saß wieder in seiner Zelle, und der Sergeant hatte sein Mittagessen noch nicht ganz beendet, als Super sich wieder erhob. Er schnitt ein Gesicht, als ob er Schmerzen empfände, zog die Pantoffeln aus, die er unweigerlich während der Bürostunden trug, und zog mit einem Seufzer seine zerrissenen Stiefel an.

Lattimer war beim Pudding, als sein Vorgesetzter in das Beamtenzimmer trat.

»Wissen Sie irgend etwas über diesen Amerikaner Elson? Bleiben Sie aber ruhig sitzen und essen Sie weiter.«

»Man sagt, daß er sehr reich sei.«

»Das habe ich auch schon herausgebracht«, meinte Super. »Wenn ein Mann in einem großen Haus lebt, drei Autos und zwanzig Dienstboten hat, dann kann ich mir an meinen fünf Fingern abzählen, daß er in den besten Verhältnissen lebt. Ich werde ihn jetzt aufsuchen.«

Super hatte ein Motorrad, das in der ganzen Gegend verrufen war. Es verhielt sich zu einem anständigen Motorrad wie etwa eine Spelunke zum Buckingham-Palast. Jedes Frühjahr nahm er seine Maschine fast vollständig auseinander, und während Sergeant Lattimer bestürzt zuschaute, reinigte er sie und setzte sie wieder zusammen. Und dann gab er ihr ein ganz anderes Aussehen, denn er hatte eine Vorliebe dafür, die Farbe der alten Maschine zu ändern. Einmal erstrahlte sie in einem leuchtenden Grün, ein andermal war sie feuerrot. In einem Jahr hatte er sie sogar weiß und die Speichen himmelblau angestrichen. Er konnte an keinem Farbengeschäft vorbeigehen, ohne sich neue Emaillefarben zur Verschönerung seines Rades zu kaufen. In dem kleinen Schuppen hinter seinem Haus standen die Farbtöpfe reihenweise auf den Wandbrettern. An das Kriegsjahr, in dem er ein Dutzend kleiner Probenäpfe dazu benützte, seiner Maschine einen Tarnanstrich zu geben, erinnern sich noch sämtliche Polizeibeamten Londons.

Aber es war immerhin noch ein brauchbares Motorrad. Der Zweizylinder war wunderbarerweise außerordentlich leistungsfähig und machte eine große Geschwindigkeit möglich. Die früher blanken Teile der Maschine waren längst mit Farbe übermalt, der Sitz war mit vielen Lederstrippen repariert, und die Reifen hatten ein so auffälliges Muster, daß selbst das kleinste Kind in einem Dorf, wenn es nur die Spuren des Rades sah, sagen konnte, daß Super vorbeigekommen und in welcher Richtung er gefahren war.

So ratterte er denn seinen Weg entlang bis nach Dewlag Hill und fuhr an der hohen, roten Ziegelmauer von Hill Brow vorbei. Dann stieg er ab, stieß das Tor auf und ging zwischen den Ulmen durch, die die Zufahrt zu dem Haus von Mr. Elson einfaßten. Er lehnte sein Motorrad an einen Baumstamm, ging langsam zu dem großen Gebäude, stieg die breiten Stufen empor und blieb in der offenen Eingangshalle stehen. Sie war leer, aber er hörte die Stimmen einer Frau und eines Mannes. Der Schall drang aus einem Raum, der mit der Halle in Verbindung stand. Der Türflügel war nur angelehnt. Plötzlich sah er vier kurze, dicke Finger um die Kante der Tür greifen. Er schaute sich nach einer elektrischen Klingel um und bemerkte, daß sie in der Mitte des Haustores war. Er ging eben darauf zu, um auf den Knopf zu drücken . . .

»Heirat, aber sonst nicht, Steve! Ich bin lange genug zum Narren gehalten worden. Versprechen, Versprechen – immer nur Versprechen . . . Ich werde krank, wenn ich nur davon höre! Geld! Was bedeutet mir das? Ich bin ebenso reich wie Sie . . .«

In diesem Augenblick wurde die Tür ganz geöffnet, und Super konnte die Frau sehen. Er erkannte sie, obgleich sie ihm den Rücken zukehrte. Es war Hanna Shaw, die unfreundliche Hausdame von Barley Stack. Einen Augenblick schaute er verwundert auf die Gestalt, schlüpfte dann leise zur Tür, stieg schnell über das Geländer der Treppe und verschwand. Hanna hatte nicht einmal seinen Schatten bemerkt. Aber um ganz sicher zu sein, daß seine Anwesenheit nicht bekannt wurde, schob Super sein Motorrad erst einen Kilometer weit, bevor er es wieder bestieg.


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