Edgar Wallace
Großfuß
Edgar Wallace

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14

Zu einer ungewöhnlich frühen Stunde machte der Polizeipräsident einen Besuch im Dienstgebäude der Staatsanwaltschaft. Jim hatte das Glück, daß er der älteste Beamte im Dienst war. Sein Chef lag mit einem Fieberanfall zu Bett, und der zweite Direktor war bei dem Geschworenengericht in Herford, um einer Gerichtssitzung beizuwohnen.

Super sprach von dem Polizeipräsidenten Colonel Langley nur als von dem ›langnasigen Vorgesetzten‹ manchmal mit den heftigsten Verwünschungen. Der Polizeipräsident sprach selten von ihm, aber wenn er von ihm sprach, so tat er es nur in Ausdrücken der Bewunderung und Hochachtung. Der Streit zwischen Super und dem Polizeipräsidium war eigentlich nur in der Einbildung Supers vorhanden.

»Super ist das reinste Glückskind in seinem Beruf«, sagte Langley neidisch. »Durch günstige Umstände kommt er zu einem schweren Fall, wie die Fliege in die Milch fällt. Als er mich bat, ihn nach Abteilung I zu versetzen, glaubte ich schon, er leide an Verstandesschwäche.«

»Er hat mir gegenüber immer behauptet, daß er nach Abteilung I verbannt wurde«, bemerkte Jim.

»Super ist ein Lügner«, war die ruhige Antwort. »Niemand darf Super verbannen. Was sollten wir ohne ihn anfangen? Wir waren natürlich alle froh, als er sich von uns verabschiedete; denn mit ihm zusammenleben zu müssen, ist eine harte Aufgabe. Aber das ist so ganz seine Art, daß er jetzt noch obendrein behauptet, man habe ihn verbannt und beiseite gestellt. Er hat ausdrücklich darum gebeten und Lattimer mit sich genommen. Lattimer hat dasselbe Glück, daß ihm die Bearbeitung dieses Falles in den Schoß fällt.«

Es gehörte nicht zu Jim Ferrabys Pflichten, dem Polizeipräsidenten alles zu erzählen, was er über Lattimer wußte. Er hatte es Super mitgeteilt, und das war genug. Aber es war verständlich, daß er wenigstens eine Frage wegen des Vorlebens des Sergeanten stellte.

»Ich weiß wenig von ihm. Er hat eine gute Erziehung genossen und hat ausgezeichnete Verbindungen.«

Lattimer interessierte den Polizeipräsidenten wirklich nicht, und er kam nun direkt auf den Grund seines Besuches zu sprechen.

»Super hat mir mitgeteilt, daß auch Sie kurz nach dem Mord in Pawsey waren. Wir hatten gestern eine Konferenz in Scotland Yard, und ich muß zugeben, daß wir alle sehr überrascht sind. Die großen Fußabdrücke sind nicht das Sonderbarste an dem Fall, denn sie führen nur zu dem Hause hin – Super hat sie fotografiert, und die Abzüge kamen gestern abend an. Hier sind die Resultate, ich wäre sehr froh, wenn Sie sie nachprüfen würden.« Er zeigte auf die Bilder.

»Das Haus war verschlossen, als Sie Sonnabend vor Mitternacht dort ankamen, und Lattimer war seit einigen Stunden dort auf Posten. Er hatte auch das Haus genau untersucht und bestätigt Supers Angabe, daß das Vorhängeschloß außen an der Tür befestigt und sie außerdem noch verschlossen war. Die Tür auf der Rückseite des Hauses war von innen zugeriegelt. Die Fenster waren geschlossen, die Rolläden heruntergelassen und befestigt, und die Versuche, die man gestern abend auf unser Ersuchen angestellt hat, haben deutlich bewiesen, daß es unmöglich war, durch eines der Fenster in das Haus zu gelangen. Der Kamin ist zu schmal, um einen normalen Mann durchzulassen. Und bis jetzt konnten wir keinen anderen Eingang zu dem Haus entdecken. Kurz vor Mitternacht kommt Miss Shaw in einem alten Auto an. Sie hält vor der Haustür, nimmt das Vorhängeschloß ab, schließt die Tür auf und geht hinein. Dann verschließt oder verriegelt sie die Tür hinter sich. Super versuchte, die Tür zu öffnen, als er den Wagen besichtigte, und stellte fest, daß sie geschlossen war. Zehn bis fünfzehn Minuten später kommt Miss Shaw aus dem Haus, schließt die Tür wieder ab und fährt weg.

Hier eine wichtige Tatsache, die man im Auge behalten muß, Ferraby. Wenn Miss Shaw früher am Tage mit einem Begleiter gekommen wäre, dann wäre es ja möglich, daß sie ihn eingeschlossen hätte, obgleich das ein ungewöhnlicher und verdächtiger Umstand wäre. Aber sie war den ganzen Tag über nicht dort, und die Ortspolizei hat überzeugende Beweise, daß kein Mann auf dem Grundstück verborgen war, ehe Lattimer ankam. Am Abend vor dem Mord kam ein Polizist, der diese vereinsamten Häuser überwacht, an Beach Cottage vorbei, stieg von seinem Rad und untersuchte wie gewöhnlich die Haustür. Das ist angeordnet worden, weil Vagabunden und anderes Gesindel gelegentlich in solche verlassene Villen einbrechen. Der Mann hatte einen Landstreicher bemerkt, der auf einer der oberen Klippen entlanglief. Er wandte deshalb eine Vorsichtsmaßregel an. Wie Sie wissen, haben die Polizeipatrouillen kleine Holznägel bei sich, an denen ein schwarzer Faden befestigt ist. Hiermit wird die Türöffnung verspannt, die einem Einbruch ausgesetzt ist. Man befestigt Stifte so unauffällig in Ritzen oder Spalten, daß sie nur von Leuten entdeckt werden können, die wissen, daß sie vorhanden sind.

An dem Abend, an dem der Mord geschah, kam der Polizist kurz vor Sonnenuntergang wieder an dem Haus vorbei. Lattimer hatte seinen Wachtposten schon bezogen. Der Mann machte an der Tür von Beach Cottage halt und sah, daß der Faden unversehrt war. Es war also niemand durch die Haustür gegangen, sonst wäre der Faden zerrissen.«

Jim nickte.

»Das wirft also meine Theorie um, daß der Mörder schon in dem Haus verborgen war.«

»Ja. Hören Sie weiter. Miss Shaw kommt aus Beach Cottage heraus, fährt die Straße entlang, den Hügel hinauf und verschwindet. Ihr Wagen wird später oben in den Klippen gefunden, ihr Regenmantel und ihr Hut werden von einem Polizeibeamten entdeckt, sie hängen an einem Strauch in halber Höhe der Klippe.«

»Wann war das?« fragte Jim erstaunt.

»Diesen Morgen. Ich hörte gerade davon, ehe ich Scotland Yard verließ. Unsere augenblickliche Vermutung ist nun, daß Miss Shaw sich verabredet hatte, einen Mann in dem Haus zu treffen. Sie entdeckte aber, daß sie beobachtet wurde. Es ist möglich, daß sie Ihren Wagen sah, der in dem Steinbruch verborgen war, oder daß sie jemand von Ihnen bemerkte – soviel ich weiß, hatten Sie sich versteckt, als sie durchfuhr. Um Sie nun fortzulocken, kehrte sie nach der Spitze der Klippe zurück, schlich aus ihrem Wagen und kam auf einem der vielen kleinen Pfade, die den Abhang durchziehen, zurück. Möglicherweise wartete der Mann an der Stelle, wo sie den Wagen verließ, und begleitete sie zu dem Haus zurück.«

»Warum hat sie denn ihren Hut und ihren Mantel abgenommen?« fragte Jim.

»Der Regenmantel und der Hut waren von heller Farbe. Ihr Kleid unter dem Mantel dagegen war schwarz. Es ist leicht möglich, daß sie die beiden Kleidungsstücke ablegte, um nicht gesehen zu werden. Jedenfalls wurden sie in der Nähe eines dieser vielen Pfade gefunden.«

Jim schüttelte den Kopf.

»Sie vergessen, Herr Präsident, daß Lattimer zurückgelassen wurde, um das Haus zu bewachen.«

»Daran habe ich auch gedacht. Lattimer wurde in Groß-Pawsey zurückgelassen, das in einiger Entfernung von der Küste liegt, und kam erst eine halbe Stunde später zu dem Haus zurück. Wenigstens sagte er so. Das war reichlich Zeit genug für die Frau, mit ihrem Begleiter zurückzukommen. Es ist allerdings eine sehr einfache Erklärung, aber in Fällen dieser Art ist die einfachste Erklärung gewöhnlich die richtigste.

Ich habe meine Ansicht Super bereits durchs Telefon gesagt, und obgleich er sehr höflich war, fühlte ich doch, daß er wütend wurde. Er sagte, es sei lächerlich, zu behaupten, Hanna Shaw habe genug Zeit gehabt, die Klippen herunterzusteigen, bevor Lattimer zu dem Haus zurückkehrte.

Wer ist dieser Großfuß? Wer hat diese unglückliche Frau verraten? Wir kommen jetzt zu einem Vorfall, bei dem Sie, wie ich glaube, Zeuge waren. Den Abend vorher hatte Mr. Cardew ein Essen gegeben. Super erzählte nun, daß er einen Landstreicher sah, der im Schatten eines Strauches vor den Fenstern stand und mit einer Pistole bewaffnet war. Später hörte er, wie dieser Strolch Byrons Übersetzung eines bekannten spanischen Liedes sang – ›Ay de mi, Alhama!‹ Nun stimmt die Beschreibung dieses Mannes, die Super gibt, genau mit der des Ortspolizisten überein, der sah, wie sich ein Landstreicher oben in den Klippen versteckte. Nach dem Mord hörte Super diesen Mann dasselbe Lied singen wie vorher in dem Gehölz von Barley Stack. Der Mann, den wir suchen, ist der singende Landstreicher. Darin stimmen wir überein?«

»Ist das auch Supers Ansicht?« fragte Jim vorsichtig.« Er für seine Person war geneigt, die Theorie des Präsidenten rückhaltlos anzunehmen.

»Supers Ansicht? Nein. Sie werden doch nicht erwarten, daß Super dieselbe Meinung wie das Polizeipräsidium hat. Offensichtlich ist er auf einer anderen Spur. Gestern abend kam eine eilige Anforderung von ihm, daß wir die Polizei in Cambridge um Nachforschungen ersuchen sollten – er wollte nämlich wissen, ob Mr. Elson in der Mordnacht dort geschlafen habe. Aber das sieht Super wieder ähnlich. Er sagt, daß Elson mit der ermordeten Frau sehr eng befreundet war. Aber er hat sich noch nicht herabgelassen, mir zu erklären, warum er einen amerikanischen Millionär verdächtigt, eine harmlose Haushälterin zu ermorden. Wahrscheinlich sandte er Lattimer, um Erkundigungen einzuziehen, denn einer meiner Bekannten berichtete, daß der Sergeant heute morgen auf seinem Weg nach Cambridgeshire London passierte. Anscheinend waren Lattimers Nachforschungen vollkommen unbefriedigend.«

Jim erwartete nicht, daß der Sergeant ihn auf seinem Rückweg besuchen würde, denn es lag kein Grund vor, warum er das tun sollte. Er war daher überrascht, als Lattimer spät am Nachmittag bei ihm eintrat. Im ersten Augenblick dachte er, daß er mit einer Botschaft von Super käme.

»Ich habe gehört, Mr. Ferraby, daß Ihnen viel daran liegt, zu erfahren, ob Elsons Alibi stimmt.«

»Mir war nicht das geringste davon bekannt, daß man ihn in Verdacht hatte«, sagte Jim lächelnd.

»Der Verdacht fiel auf ihn«, sagte Lattimer zögernd. »Wenn Super irgendeinen Gedanken gefaßt hat, so ist es schwer, ihn davon abzubringen. Elson wurde von Sonnabend mittag bis Sonntag abend vermißt. Es scheint, daß er zu einer Trinkerei gefahren ist und die Nacht in Cambridge zubrachte. Sein Name steht zwar in keiner der Hotellisten, aber ich fand den Eigentümer einer Garage, der sich entsinnen kann, daß er seinen Wagen einstellte. Es ist möglich, daß Elson irgendein Privatlogis fand.«

»Das ist aber kein lückenloses Alibi«, sagte Jim, und Lattimer war verstimmt.

»Ich hoffe, daß es den Oberinspektor befriedigt«, sagte er kühl. »Ich habe seit Sonnabend nacht kein Bett gesehen, ich bin fertig. Es scheint, daß Super überhaupt nicht zu schlafen braucht. Er war heute morgen schon wieder vor Tagesanbruch draußen.«

»Haben Sie neue Entdeckungen in Pawsey gemacht?«

Lattimer schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht, daß noch viele Entdeckungen zu machen sind«, entgegnete er. »Haben Sie gehört, daß wir ihren Hut und ihren Mantel gefunden haben? Sie hingen an einem Strauch, wo der Klippenabhang am steilsten ist.« Der Sergeant lächelte schwach. »Das war ein Schlag für Super, denn er erwartete, die Sachen woanders zu finden.«

»Wo denn?« fragte Jim erstaunt.

»Das weiß ich nicht genau. Ich glaube beinahe, daß er es selbst nicht weiß!«

»Wie lange dauerte es, bis Sie die Beobachtung des Hauses wieder aufnahmen, nachdem wir Sie in Pawsey zurückließen?«

»Sie meinen in der Nacht, in der der Mord geschah?« vergewisserte sich Lattimer. »Das mag ungefähr eine Viertelstunde gewesen sein. Super erklärte, daß Hanna Shaw in dieser Zeit nicht zurückkehren konnte. Meiner Meinung nach war reichlich Zeit dazu. Ich vermute sogar, daß sie ähnlich wie Miss Leigh die Klippe herunterschlitterte und dabei Hut und Mantel verlor. Aber es hat ja keinen Zweck, Super gegenüber Theorien zu erwähnen. Er ist ein Tatsachenmensch. Als ich ihm sagte, daß das Haus auf einem Platze stände, wo früher Schmuggler ihren Wohnsitz hatten, und daß sich wahrscheinlich unterirdische Keller unter dem Haus befänden, wurde er so grob, wie noch niemals in den Jahren, seit ich ihn kenne. Er läßt sich überhaupt nicht auf Theorien ein, und darin hat er ja auch recht.«

»Warum denn?«

Lattimer schaute ihn befremdet an, und ein unmerkliches Lächeln huschte über seine Züge.

»Weil Super alles weiß«, sagte er trocken. »Niemand weiß besser als er, wie dieser Mord begangen wurde und warum er begangen wurde.«

Bevor sich Jim von seinem Erstaunen erholen und weitere Fragen an Lattimer stellen konnte, war der Sergeant gegangen.


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