Edgar Wallace
Das Gesicht im Dunkel
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20

»Alle Zimmer durchsuchen!« befahl Shannon. »Der Mann muß noch im Haus sein. Er ist hier gewesen.« Er deutete auf die Papiere, die wirr und teilweise blutbefleckt auf dem Schreibtisch umherlagen. Dann begann er hinter den Samtvorhängen nach einem zweiten Ausgang zu suchen. »Großer Gott!« stieß er plötzlich hervor.

Hinter einer der Portieren thronte auf einem breiten Sockel ein großer, bronzener Götze, und hinter diesem war eine ungeheure goldene Sonne inkrustiert, deren tanzende Flammen mit Tausenden von kleinen Rubinen besetzt waren und wie Feuer zu lodern schienen. Rechts und links von dem Götzen standen zwei katzenartige Bronzetiere mit funkelnden, grünen Augen.

»Smaragde – echte Smaragde«, sagte Dick. »Sind wir denn in Ali Babas Höhle geraten? Den Götzen kann ich nicht unterbringen – ein Mittelding zwischen Pluto und den Medusen – sehen Sie doch nur die Schlangenhaare!«

Es war eine scheußliche Gestalt mit greulichem Mund und zackigen Elefantenzähnen, die sich zu bewegen schienen.

»Der alte Herr scheint ein Teufelsanbeter zu sein«, erklärte Dick und zeigte auf zwei rauchgeschwärzte Schalen.

»Das ist Blut«, murmelte Steel und beleuchtete einen schmierigen roten Fleck mit seiner Taschenlampe. »Und wonach riecht es hier so eigentümlich?«

»Der Teppich sengt«, bemerkte einer der Leute und nahm mit seiner behandschuhten Hand eine halbverglühte Kohle auf.

Schließlich wurde in einer Ecke eine kleine Tür entdeckt, die der Feuerwehraxt nicht widerstand. Eine Steintreppe führte von dort zu einem Vorderzimmer hinab. Hier waren allerlei seltsame Sachen aufgestapelt: Felle und Zulu-Assegais und eine große Sammlung greulicher Götzenbilder. Dazwischen ein in leuchtenden Farben bemalter ägyptischer Sarg, dessen Deckel aus einer geschnitzten Menschengestalt bestand. Shannon lüftete den Deckel – der Sarg war leer.

»Marshalts Leiche befindet sich noch im Haus«, erklärte Dick mit Bestimmtheit, als sie wieder nach oben zurückkehrten. »Ob es wohl eine Verbindung zwischen den beiden Häusern gibt?«

»Nein«, erwiderte Steel. »Die Wände sind massiv. Ich habe sie in allen Stockwerken geprüft.«

Ein Polizeiinspektor hatte sich am Schreibtisch niedergelassen und überreichte Dick jetzt einen halben Briefbogen, bei dessen Anblick Dick ein kalter Schauer über den Rücken lief. Das Blatt trug den Briefkopf des Palace-Hotels und war offenbar von Audreys Hand beschrieben.

»Wollen Sie mich heute abend um acht besuchen? Mr. M. wird Sie einlassen, wenn Sie klopfen.

A.«

Audrey! Aber er faßte sich gleich wieder, denn die Sache war ihm klar. Er nahm Steel beiseite und zeigte ihm den Brief.

»Dies ist einer von den Briefen, die Miß Bedford für den alten Herrn abzuschreiben pflegte«, sagte er. »Ich werde jetzt hinübergehen und Tonger benachrichtigen.«

Draußen hatten sich trotz der späten Stunde viele Neugierige angesammelt. Auch im Marshaltschen Haus brannte noch Licht, als Dick klingelte. Aber es meldete sich niemand.

Steel rief nach Shannon, und dieser kehrte zurück, um zu sehen, was sein Assistent wollte. Sein Fuß berührte schon den Gehsteig, als in dem Haus hinter ihm ein Schuß knallte, dem rasch zwei weitere folgten. Gleichzeitig ertönte unten im Keller gellendes Geschrei, und die Tür des Kellereingangs wurde aufgerissen.

»Mord!« kreischte eine Frauenstimme.

Sofort stürzte Dick hinunter, schob eine ohnmächtig umsinkende Frau beiseite und lief in die Halle hinauf, wo er drei vor Angst halb wahnsinnige Dienstmädchen und eine etwas gefaßtere Köchin vorfand.

»Oben, oben!« riefen sie. »Mr. Marshalts Arbeitszimmer!«

Shannon eilte in langen Sätzen die Treppe hinauf und bemerkte rechts eine offenstehende Tür. Quer über die Schwelle ausgestreckt lag Tonger.

Er war tot – aus nächster Nähe erschossen.

Nachdem die Leiche fortgeschafft worden war, fragte Dick die Mädchen, wer die Kellertür geöffnet hätte, aber sie wußten es nicht. Er kehrte dann nach Nr. 551 zurück, wo man inzwischen alle Zimmer bis auf eins im obersten Stock durchsucht hatte. Dieses eine ließ sich nicht öffnen.

»Holen Sie Brecheisen!« befahl Dick. »Ich gehe nicht aus dem Haus, bevor wir nicht jeden Winkel genau durchforscht haben.«

Gleich darauf stand er allein in dem schwarz drapierten Zimmer, als ein Mann hereinkam, in dem er zu seiner Verwunderung den lahmen »Mr. Brown« erkannte.

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte er. »Steht denn kein Polizist vor der Tür?«

»Wenn einer da war, habe ich ihn nicht gesehen«, erwiderte Brown gelassen. »Ich bin doch nicht etwa überflüssig hier?«

»Ich fürchte, ja«, entgegnete Dick kurz. »Aber ich werde Sie nicht wieder gehen lassen, bis ich weiß, wie Sie hereingekommen sind.«

Er begleitete ihn nach unten. Der Beamte an der Tür hatte ihn nicht hineingehen sehen.

»Was bedeutet das?« fragte Dick jetzt in offiziellem, amtlichem Ton.

»Der Polizist hat offenbar vergessen, daß er auf den Gehsteig hinunterging, um die Menge zurückzudrängen«, bemerkte Brown lächelnd.

Der Beamte gab das zu.

»Wo wohnen Sie?« fragte Dick unmutig.

»Immer noch im Ritz-Carlton.«

Da Dick festgestellt hatte, daß er tatsächlich in dem eleganten Hotel logierte, ließ er ihn gehen, obwohl ihm die Sache nicht gefiel. Er begab sich wieder nach oben, wo zwei Schutzleute die verschlossene Tür bewachten, an der weder ein Griff noch ein Schloß zu entdecken war.

»Sie muß von innen verschlossen sein«, meinte der eine Polizist. »Es ist jemand drinnen. Es klingt, als ob ein Tisch über den Fußboden gezogen würde.«

Dick lauschte und hörte nach einer Weile ein kaum vernehmliches Geräusch.

»Wir haben es mit einer Axt versucht, hatten aber nicht genügend Spielraum«, sagte Steel. »Jetzt kommen sie mit einer Brechstange.«

»Hören Sie?« sagte einer der Leute plötzlich.

Man hätte taub sein müssen, wenn man es nicht gehört hätte: erst klang es, als ob ein Stuhl umfiele, dann folgte ein dumpfer Ton.

Endlich begannen die Leute, mit der Brechstange zu arbeiten, und nach zwei Minuten gab die Tür nach.

Das Zimmer war bis auf einen Tisch und einen am Boden liegenden Stuhl völlig leer. Dick sprang rasch auf den Tisch und rüttelte an dem Oberlichtfenster, aber es war geschlossen. Er richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe nach oben und erblickte durch das schmutzige Fenster die Umrisse eines herabstarrenden Gesichts – aber nur eine Sekunde lang. Dann verschwand es.

Ein langes, spitzes Kinn, eine hohe, stark vorspringende Stirne, eine scheußliche, große Nase . . .

»Die Brechstange – schnell!« rief Dick und stieß mit der Faust gegen den schweren Fensterrahmen. Nach wenigen Minuten schwang er sich auf das flache, bleigedeckte Dach und ging vorsichtig um einen Schornstein herum, als eine Stimme »Hände hoch!« rief, und Dick sich daran erinnerte, daß Willitt einen Mann auf dem Dach postiert hatte.

»Gehören Sie zu Willitts Leuten?« fragte er.

»Ja.«

»Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard. Haben Sie hier jemand vorbeigehen sehen?«

»Nein.«

»Bestimmt nicht?« fragte Dick betreten.

»Ganz bestimmt nicht. Einmal klang es, als ob hier jemand ginge, aber das war am anderen Ende des Daches.«

Dick ließ den Schein seiner Lampe spielen und entdeckte schließlich einen mit Knoten versehenen Strick, der an einem Schornstein festgebunden war und über den Dachrand hinabhing.

Mit Steels Hilfe wurden dann nach langem Suchen noch zwei Gegenstände auf dem Dach gefunden: eine Messinghülse aus einer automatischen Pistole und ein kleines, goldenes Zigarettenetui mit drei Zigaretten. Dick bemerkte mit Befriedigung ein Monogramm an einer Ecke des Etuis.

»Ich glaube, jetzt haben wir den Mann«, sagte er ernst.


 << zurück weiter >>