Edgar Wallace
Das Gesicht im Dunkel
Edgar Wallace

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11

Dick Shannon klopfte heftig an die Glasscheibe seiner Autodroschke, riß das Fenster auf und beugte sich vor.

»Wenden Sie und fahren Sie an der anderen Seite entlang«, sagte er. »Ich möchte mit der Dame dort sprechen.«

Wenige Augenblicke später stand er Audrey gegenüber und zog lachend den Hut.

»Miß Bedford! Das ist aber eine großartige Überraschung!«

Und es war wirklich eine Überraschung, und zwar in mehr als einer Beziehung. Audrey war keine Bettelprinzessin mehr, sie war tadellos gekleidet und sah so jung und schön aus, daß sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Ich habe Sie schon wie eine Stecknadel gesucht! Als Sie Holloway verließen, kam ich drei Minuten zu spät, und nachher bildete ich mir unbegreiflicherweise ein, daß Sie sich bei der Polizei melden müßten.«

»Nein, das blieb mir erspart. Aber ich sah Sie ein paarmal in Holloway, als Sie dort zu tun hatten.«

Sie wußte nicht, daß er nur um ihretwillen hingekommen war, und daß sie ihm die Versetzung aus der Waschküche in die Bibliothek verdankte.

»Ich werde jetzt einmal ganz offen und ehrlich mit Ihnen sprechen«, sagte er, als sie zum Hannover Square kamen. »Dora Elton ist doch Ihre Schwester?«

»Eigentlich nicht – wenn ich es auch annahm. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun. Ein Mädchen mit meiner Vergangenheit ist kein Umgang für Dora. So, nun aber genug von diesem Thema!«

»Was machen Sie denn jetzt?«

»Ich kopiere Briefe für einen garstig aussehenden alten Herrn und werde ungebührlich gut dafür bezahlt«, erwiderte sie etwas verlegen.

»Wir wollen ein wenig in den Park fahren«, meinte er und winkte einen Chauffeur heran. »Dort können wir uns ungestört unterhalten.«

In dem menschenleeren Park fanden sie zwei abseits stehende Stühle und ließen sich nieder.

»Nun erzählen Sie mir einmal etwas Näheres über diesen garstig aussehenden alten Herrn«, begann Dick.

Sie berichtete ihm über ihre Erfahrungen mit Mr. Malpas.

»Sie werden es gewiß verächtlich von mir finden, daß ich das Geld überhaupt angenommen habe. Aber wenn man sehr hungrig ist und friert, hat man keine Zeit, über moralische Grundsätze nachzudenken. Als ich mich aber gemütlich im Palace-Hotel eingerichtet hatte, stiegen doch Bedenken in mir auf, und ich wollte gerade in ablehnendem Sinn an Mr. Malpas schreiben, als er mir etwa zehn bis zwölf flüchtig mit Bleistift gekritzelte Briefe sandte und mich ersuchte, sie abzuschreiben und wieder an ihn zurückzuschicken.«

»Was für Briefe waren es denn?« fragte er neugierig.

»Meistens Ablehnungen von allerlei Einladungen. Er machte zur Bedingung, daß ich sie auf dem Briefpapier des Hotels und nicht mit Maschine schreiben müßte.«

»Die Sache gefällt mir nicht«, meinte Dick nachdenklich.

»Kennen Sie den Mann?«

»Ich weiß allerhand von ihm. Wieviel Gehalt beziehen Sie?«

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Er gab mir eine runde Summe und ersuchte mich, nach acht Tagen wiederzukommen. Seitdem habe ich alle Tage abgeschrieben, was mir mit der Morgenpost zuging. Es war ein Briefwechsel zwischen dem Gouverneur von Bermuda und dem Britischen Kolonialamt dabei, der gedruckt und wohl aus einem Blaubuch herausgerissen war. Was soll ich nun tun, Mr. Shannon?«

»Ja, wenn ich das wüßte! Eins dürfen Sie jedenfalls nicht tun: nächsten Sonnabend wieder allein in dieses sonderbare Haus gehen. Ich werde Sie auf dem Portman Square erwarten und mit Ihnen hineinschlüpfen.« Er sah, daß sie erschrak, und lächelte. »Sie brauchen keine Bedenken wegen etwaiger hinterlistiger Polizeiabsichten meinerseits zu haben. Wir haben nichts weiter gegen Mr. Malpas, als daß er ›geheimnisvoll‹ ist. Ich bleibe nur unten in der Halle in Rufweite. Waren übrigens auch Briefe an Mr. Lacy Marshalt unter den Papieren?«

»Nein. Das ist doch der afrikanische Millionär, der neben Malpas wohnt?« Sie erzählte ihm von dem kleinen Zwischenfall, der sich vor Marshalts Haus abgespielt hatte.

»Hm! Das ist vielleicht eine kleine nachbarliche Bosheit des Alten. Ich muß einmal mit Marshalt sprechen und ihn fragen, was es eigentlich mit dieser Feindschaft auf sich hat. Aber hier ist es kalt. Kommen Sie mit, wir wollen eine Tasse Kaffee trinken.«

*

Tonger schien anfangs nicht geneigt, Shannon zu melden, als er dem Beamten öffnete.

»Sie können Mr. Marshalt nur auf Verabredung hin sehen, wenigstens solange ich in der Nähe bin. Hat er Sie für diese Zeit bestellt?«

Shannon hatte den Eindruck, daß Tonger hier im Haus noch eine andere Stellung als die eines Kammerdieners einnahm.

»Vielleicht bringen Sie ihm meine Karte?« fragte er lächelnd.

»Vielleicht – aber wahrscheinlich nicht. Alle möglichen sonderbaren Menschen kommen hierher und wollen Mr. Lacy Marshalt sprechen, weil er freigebig und großzügig ist.« Er griff nach Dicks Karte und las sie. »Ach, Sie sind ein Detektiv? Na, dann kommen Sie herein, Captain. Wollen Sie denn jemand verhaften?«

»Wo denken Sie hin! In diesem wunderschön geordneten Haushalt, wo selbst die Bedienten so höflich sind, daß man sie kaum belästigen mag!«

Tonger kicherte.

»Ich bin kein Bedienter.«

»Der Sohn des Hauses?« scherzte Dick. »Oder gar am Ende Mr. Marshalt selbst?«

»Gott behüte! Ich möchte sein Geld und seine Verantwortung nicht haben. Bitte, diesen Weg!«

Er führte Dick zu einem Salon und folgte ihm.

»Es ist doch nichts Ernsthaftes?« fragte er besorgt.

»Nicht daß ich wüßte. Dies ist ein freundschaftlicher Besuch.«

»Nun gut, ich werde Mr. Marshalt Bescheid sagen.«

Er verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit Lacy Marshalt zurück. Als er Miene machte, zu bleiben, deutete der Millionär stumm auf die Tür.

»Hoffentlich hat sich Tonger keine Freiheiten herausgenommen«, sagte er, als er mit Dick allein war. »Er ist mit mir zusammen aufgewachsen und stellt meine Geduld manchmal auf harte Proben. Sie kommen von Scotland Yard, Captain Shannon? Was kann ich für Sie tun?«

»Vor allem möchte ich wissen, ob Sie Ihren Nachbar, Mr. Malpas, kennen?«

»Nein. Ich habe mich nur über das ewige Geklopfe nebenan beschwert –«

»Das habe ich gehört. Die Sache ist wohl durch die Distriktspolizei erledigt worden. Sie kennen ihn also nicht?«

»Ich habe ihn noch nie gesehen und kann Ihnen deshalb auch nichts Näheres über ihn sagen.«

»Wissen Sie auch nicht vom Hörensagen, wie er aussieht, so daß Sie ihn vielleicht als einen Bekannten aus Südafrika identifizieren könnten?«

»Nein, ich habe ihn auch nie beschreiben hören. Feinde hat man ja natürlich immer, wenn man es in der Welt zu etwas bringt.«

»Ja, man könnte den Eindruck haben, daß Malpas Sie schikanieren will. Und zwar benützt er dazu immer andere Leute. Ich möchte zum Beispiel glauben, daß die betrunkene Frau, die neulich herkam –«

»Eine betrunkene Frau?« Marshalts Stirne verdüsterte sich. Er stand auf und klingelte, worauf Tonger eilfertig erschien.

Aber auf die ärgerliche Frage seines Herrn hatte er nur eine gleichmütige Antwort.

»Ja, die war ordentlich eingeseift! Fiel ins Haus und auch gleich wieder hinaus. Sie sagte, sie wäre Mrs. Lidderley von Fourteen Streams –«

Dick Shannon sah den Hausherrn an, während der Diener sprach und bemerkte, daß Marshalts Gesicht leichenblaß wurde.

»Mrs. Lidderley?« wiederholte der Millionär langsam. »Wie sah sie denn aus?«

»Ach, ein kleines Ding – aber Kräfte hatte sie!«

»Klein? Dann hat sie geschwindelt!« Marshalts Stimme klang merklich erleichtert. »Vielleicht kennt sie die Lidderleys. Vor kurzem hörte ich aus Südafrika, daß Mrs. Lidderley schwer krank läge. Hast du sie nach ihrer Adresse gefragt?«

»Ich sollte nach der Adresse eines betrunkenen Frauenzimmers fragen? Aber, Lacy –«

»Zum Teufel, ich bin Mr. Marshalt für dich!« schrie ihn der Hausherr an. »Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Ach, es fuhr mir eben so heraus!«

»Mach, daß du hinauskommst!« Marshalt schlug die Tür hinter seinem respektlosen Diener zu.

»Der Mensch macht mich manchmal wirklich nervös«, entschuldigte er sich dann bei Dick. »Als Jungens haben wir uns natürlich Lacy und Jim genannt, und es wird mir jetzt schwer, auf einer passenderen Anrede zu bestehen, aber man muß die äußere Form doch wenigstens bis zu einem gewissen Grade wahren. – Verzeihen Sie die Störung. Um auf Malpas zurückzukommen, so weiß ich tatsächlich nichts über ihn. Es mag allerdings jemand sein, dem ich vor Zeiten einmal auf den Fuß getreten habe . . . wissen Sie eigentlich, wie er aussieht?«

»Alt und furchtbar häßlich, wie ich gehört habe. Außerdem hat er eine Kabarettsängerin beauftragt, Sie zu belästigen, was ja an sich nicht viel auf sich gehabt hätte. Aber Sie haben zufällig eine Abneigung gegen solche Damen.«

»Könnten Sie nicht einmal den Mann besuchen?« fragte Marshalt nach einer kurzen Überlegung. »Das klingt natürlich wie eine Zumutung. Aber mir liegt wirklich daran, die Persönlichkeit von Malpas festzustellen.«

Dick hatte ohnehin schon beschlossen, sich den geheimnisvollen Mann anzusehen, so daß dieser Vorschlag überflüssig war. Als Tonger die Haustür hinter Shannon geschlossen hatte, schlenderte der Detektiv zu dem Nachbargebäude und blickte zu den öden Fenstern hinauf. Er war schon oft hier gewesen, aber um eine Unterredung hatte er Mr. Malpas noch nicht gebeten. Er suchte nach einer Klingel, fand keine und klopfte schließlich an die Tür. Als alles still blieb, pochte er kräftiger, schrak aber gleich darauf zusammen.

»Wer ist da?« fragte eine Stimme, scheinbar dicht an seinem Ohr.

Bestürzt sah er sich um, entdeckte aber sofort die Lösung des Rätsels, als er in dem steinernen Türpfeiler ein kleines Gitter bemerkte. Dahinter befand sich ein lautsprechendes Telephon.

»Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard und möchte Mr. Malpas sprechen«, sagte er.

»Sie können Mr. Malpas nicht sprechen«, knurrte die Stimme, und Dick vernahm ein leises Knacken. Obwohl er noch mehrmals klopfte, erhielt er keine Antwort mehr.


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