Edgar Wallace
Das Gesicht im Dunkel
Edgar Wallace

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19

Inzwischen war Shannon zum Portman Square gefahren. Tonger machte ihm auf.

»Marshalt ist nicht zu Hause«, sagte er schroff.

Dick trat ohne weiteres in die Halle ein und machte die Tür zu.

»Ich komme nicht nur seinetwegen«, erklärte er ruhig. »Erinnern Sie sich an die Frau, die vor acht Tagen hierherkam, und die Sie hinauswarfen?«

Tonger nickte und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

»Kommen Sie herein, Captain«, erwiderte er und machte Licht. »Ich bin eben erst von einer Reise im Flugzeug zurückgekehrt, und ich fühle mich infolgedessen etwas angegriffen. Was soll denn mit der Frau sein?«

»Heute nachmittag wurde im Green Park eine Tote aufgefunden, und ich habe Grund zu der Annahme, daß es dieselbe Person ist, die hier den Spektakel machte.«

Tonger starrte ihn mit offenem Mund an.

»Das kann ich mir nicht denken. Im Park? Ich weiß nichts von ihr.«

»Sie sagten doch, es wäre eine Mrs. Sowieso aus Fourteen Streams.«

»Ja, den Namen gab sie an. Wünschen Sie, daß ich sie mir ansehe?«

»Da Sie sich nicht wohlfühlen, hat es ja Zeit bis morgen.«

»In ein Flugzeug kriegt mich Lacy nicht wieder«, bemerkte Tonger, als er Shannon wieder hinausbegleitete. »Übrigens – wie ist sie denn umgekommen?«

»Vermutlich durch Gift. Eine silberne Flasche lag neben ihr.«

Er stand schon auf der Schwelle, und während er noch sprach, schloß sich die Tür bereits leise.

»Unmanierlicher Bursche!« dachte Shannon.

Als er den Gehsteig erreichte, blieb er plötzlich stehen.

»Mrs. Elton?« rief er halblaut.

Sie wandte sich entsetzt um.

»Wer –« begann sie mit zitternder Stimme – »ach, Sie sind es, Captain Shannon! Haben Sie Mr. Marshalt gesehen?«

»Nein.«

»Ich wollte zu ihm, aber das Schloß an der Hintertür muß geändert worden sein . . . o Gott, was soll nur werden!«

»Wieso? Was haben Sie denn?« fragte er erstaunt.

»Martin ist doch nicht da? – Nein? – Ach, wie ich sie hasse, diese Heuchlerin! Sicher ist er wieder mit ihr zusammen – was Martin tut oder weiß, macht mir nichts aus, aber wenn mich Lacy betrügt –« sie schluchzte wild auf.

»Von wem sprechen Sie denn nur?«

»Ich meine Lacy und Audrey –«

Plötzlich eilte sie wie gehetzt davon.

Einen Augenblick starrte er ihr sprachlos nach, dann ging er weiter und traf Audrey an der verabredeten Stelle.

»Kommen Sie bitte nicht mit nach innen«, bat sie, als sie vor Nr. 551 standen.

»Auf keinen Fall lasse ich Sie allein hineingehen!« erklärte er entschieden.

»Lieber ist es mir natürlich, wenn Sie mich begleiten, aber es kommt mir wie ein Unrecht gegen den alten Mann vor.«

Leise klopfte sie an die Tür.

»Wer ist da?« fragte die harte Stimme durch das Gitter.

»Miß Bedford.«

Sofort öffnete sich die Tür, und sie schlüpften hinein. In der Halle brannte ein schwaches Licht.

»Warten Sie hier«, flüsterte Audrey und schloß die Tür.

Er nickte, aber als sie oben stand und die Hand hob, um anzuklopfen, sah sie ihn lautlos die Treppe heraufkommen und schüttelte abwehrend den Kopf. Zweimal klopfte sie an und hob die Hand eben wieder, als im Zimmer in rascher Folge zwei Schüsse fielen.

Im Nu stand Dick neben ihr und stemmte die Schulter gegen die Tür, die sofort aufging. Er starrte in den dunklen Raum.

»Ist jemand da?« rief er laut und vernahm eine schwache Bewegung.

»Wer ist da?« rief er wieder.

Im gleichen Augenblick flammten zwei Lichter auf: die Schreibtischlampe und eine verhängte Birne über dem kleinen Tisch und Stuhl zu seiner Linken.

Und mitten im Zimmer, mit dem Gesicht nach unten, lag ein Mann.

Shannon stürzte hin. Mit Hilfe seiner Taschenlampe war es ihm möglich, die Drahthindernisse zu umgehen. In der nächsten Sekunde kniete er neben der reglosen Gestalt und drehte sie um.

Es war Lacy Marshalt. Über seinem Herzen war das Hemd von den Gasen einer aus nächster Nähe abgefeuerten Waffe geschwärzt.

»Tot!« sagte Dick atemlos.

»Was ist denn geschehen?« flüsterte Audrey, die von einer entsetzlichen Angst gepackt worden war.

»Bleiben Sie dort stehen!« befahl Dick leise. »Verlassen Sie das Zimmer nicht!«

Er ging um den Schreibtisch herum und entdeckte dahinter das kleine Schaltbrett für die Türen. Nacheinander legte er die Hebel um und kam dann zu Audrey zurück.

»Ich denke, daß sie jetzt offen sein werden«, sagte er, nahm ihren Arm und eilte mit ihr nach unten.

»Sagen Sie doch, was geschehen ist«, fragte sie wieder. »Wer war der – der Mann?«

»Später sage ich Ihnen alles.«

Die Haustür stand weit offen, und er lief auf die Straße hinaus. In der Ferne glühten die Lichter einer Autodroschke, die auf den schrillen Ton seiner Pfeife hin rasch herankam und vor dem Haus anhielt.

»Fahren Sie ins Hotel zurück«, sagte er, »und erwarten Sie mich dort.«

»Sie dürfen aber nicht wieder hineingehen!« bat sie entsetzt und packte seinen Arm mit beiden Händen. »Es stößt Ihnen etwas zu – ich fühle es!«

Er löste sich behutsam aus ihrem Griff.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, beruhigte er sie. »Ich habe in den nächsten Sekunden eine Schar von Polizisten bei mir, und –«

Krach!

Er drehte sich um – die Haustür war zugeschlagen.

»Es ist noch jemand im Haus!« flüsterte sie. »Gehen Sie um Himmelswillen nicht wieder hinein! Captain Shannon – Dick, hören Sie auf mich!«

Er rannte die Stufen hinauf und warf sich gegen die Tür, aber sie gab nicht nach.

»Es sieht beinahe so aus, als ob man es mir unmöglich gemacht hätte«, entgegnete er resigniert. »Aber fahren Sie jetzt bitte nach Hause.«

Das Auto hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als er schon wieder mit beiden Fäusten gegen das Holz hämmerte.

Eine Antwort erwartete er nicht, und es überlief ihn eiskalt, als plötzlich dicht an seinem Ohr irrsinniges Gelächter ertönte.

»Ich hab ihn – hab ihn – hab ihn!« kreischte eine Stimme. Dann trat Totenstille ein.

»Machen Sie auf!« schrie Shannon heiser. »Öffnen Sie! Ich muß Sie sprechen!«

Keine Antwort.

Jetzt kam ein Polizist herbei, gleich darauf ein anderer Mann, in dem Dick sofort den Privatdetektiv Willitt erkannte.

»Stimmt etwas nicht, Captain?« fragte er.

»Was machen Sie denn hier?« entgegnete Dick.

»Ich beobachte das Haus im Auftrag von Mr. Marshalt.«

Shannon horchte auf.

»So? Haben Sie auch jemand hinter dem Haus?«

»Ja, und ein dritter Mann ist oben auf dem Dach des Marshaltschen Hauses placiert.«

»Dann gehen Sie nach hinten zu Ihrem Kollegen. Sind Sie bewaffnet?«

Der Detektiv zögerte mit der Antwort.

»Ach so, Sie haben eine Pistole und keinen Erlaubnisschein! Nun, lassen wir das! Gehen Sie nach hinten und bedenken Sie, daß wir es mit einem Mörder zu tun haben, der nicht davor zurückscheuen wird, Sie niederzuschießen, wie er Marshalt erschossen hat!«

»Marshalt!« stammelte Willitt. »Erschossen?«

»Er ist tot«, erwiderte Dick kurz.

Dann schickte er den Polizisten weg, um mehr Leute und einen Krankenwagen herbeizurufen, und ging in die Hinterstraße, wo die beiden Detektive Wache hielten. Dort war nichts zu sehen als eine hohe Mauer mit einer verschlossenen Tür. Mit Willitts Hilfe kletterte er hinauf und erblickte im Schein seiner Taschenlampe einen kleinen Hof und eine Tür, die sicher ebenso fest verwahrt war wie die vordere.

Als er nach dem Portman Square zurückkehrte, fand er eine Reihe von Beamten dort und sah auch Steel darunter. Einer trug eine schwere Feuerwehraxt und begann, die Tür damit zu bearbeiten.

»Sie ist mit Stahl verkleidet, wir müssen sie sprengen«, sagte Dick, nachdem der Mann den ersten Schlag geführt hatte.

Aber im selben Augenblick knackte es leise, und die Tür öffnete sich von selbst.

»Einen Keil dazwischen!« rief Dick und stürmte nach oben.

Das Zimmer war jezt hell erleuchtet, aber Dick blieb wie gebannt auf der Schwelle stehen und sah sich verwirrt um. Marshalts Leiche war verschwunden!


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