Edgar Wallace
Gangster in London
Edgar Wallace

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30

Die Firma Dorries machte glänzende Geschäfte. Zweiunddreißig neue Konten waren eröffnet worden, und es handelte sich nicht um kleine Summen, sondern um namhafte Depots. Das war das Ergebnis der ersten vierzehn Tage.

Leslie konnte sich indes in den verschiedenen Abteilungen der Firma nicht immer zurechtfinden. Jedesmal war es dann der sonst so schweigsame Kassierer, der ihr Aufschluß gab. Von Dorries und seinem Partner sah und hörte sie nichts.

Eines Tage speiste sie mit einer Dame zu Mittag, die eine wichtige Stellung in einem Bankhaus einnahm. Als sie ins Büro zurückkehrte, ließ sie den Kassierer rufen. »Stimmt es, Mr. Morris, daß einen Monat vor meinem Eintritt die Firma insolvent war und beinahe ihre Zahlungen eingestellt hätte?«

Er nickte. »Ja, die Firma wurde dann saniert. Unser Mr. Dorries nahm einen neuen Partner auf – man kann ja wohl besser sagen: Er verkaufte das Geschäft. Er selber behielt nur noch einen kleinen Anteil.«

Sie schüttelte ratlos den Kopf. »Ich verstehe dann aber nicht, wieso die Firma plötzlich wieder so gut geht. Warum vertrauen uns die Leute plötzlich? Warum werden uns große Frachtaufträge nach Übersee gegeben? Heute morgen sah ich doch ein solches Schriftstück, als ich die Schiffspapiere kontrollierte. Für viertausend Pfund Geschirr! Verkaufen wir denn derartige Waren?«

Er lächelte. »Nein, Miss Ranger! Wir handeln in solchen Fällen nur als Agenten. Sie werden eine Menge von Geschäftsaufträgen finden, die Sie zunächst nicht verstehen. Aber mit der Zeit arbeiten Sie sich schon ein!« –

 

Am Nachmittag vor Tetleys Tod hatte die Regierung den Entschluß gefaßt, Kerky Smith zu verhaften und aus London auszuweisen.

Nur Jiggs Allermans Einspruch war es zu danken, daß diese Maßnahme unterblieb. »Tun Sie das nicht!« riet er. »Behalten Sie ihn hier! Sie müssen seine Zuversicht und sein Selbstvertrauen erschüttern – dann erschüttern Sie seine Organisation.«

Und es zeigte sich auch, daß seine Auffassung die richtige war. –

Kerky Smith las die Morgenzeitung in seinem Hotelzimmer. Der Kellner hatte eben das Frühstück abgeräumt, und Kerky fühlte sich in Frieden mit der ganzen Welt. Nur Eddie Tanner verursachte ihm Mißbehagen: Der hatte kalte Füße bekommen und ging aus dem Geschäft, als gerade das Korn reifte . . .

Der Diener kam aus dem Schlafzimmer.

»Kerky«, sagte er leise. »Die Polizei hat heute morgen eine Razzia bei dem Friseur abgehalten, alle Telefone besetzt und Dinky verhaftet! Man hatte die ganzen Leitungen seit einer Woche überwacht . . .«

Kerky machte ein sonderbares Gesicht, als ob er pfeifen wollte. »Ich dachte, sie wüßten nichts von dem Platz?«

»Die Polizei kann nicht immer taub und blind bleiben. Den Safe haben sie auch gefunden . . .«

»Es war nichts drin!« entgegnete Kerky schnell.

Der Diener schüttelte den Kopf. »Nein – er wurde gestern ausgeräumt. Aber sie wußten, daß etwas drin gewesen war; und sie haben Dinky verhört, wie viele Briefe er in letzter Zeit nach Amerika geschickt hätte.«

»Wer hat ihn denn ausgefragt?«

»Jiggs! Und den kennst du doch?«

»Ja, den kenne ich!« knurrte Kerky grimmig. »Aber ich kenne auch Dinky – der verrät nichts!«

»Das wäre ja möglich.« Geräuschlos ging der Mann wieder ins Schlafzimmer zurück.

Verteufelte Situation! dachte Kerky. Dinky war einer der drei Kassierer der Bande, Zahlmeister und hervorragender Buchhalter. Das kleine Wettbüro im ersten Stock hatte sehr glückliche Kunden: Dinky schickte mit jeder Post Pakete von französischen und amerikanischen Banknoten nach den Vereinigten Staaten. Leute, die hereinkamen, um sich rasieren oder das Haar schneiden zu lassen, gingen reicher hinaus, als sie gekommen waren . . .

»Die verdammte Schießerei ist dran schuld«, brummte Kerky erbost.

Kurze Zeit nachher kam unerwartet Cora zurück, die man wegen eines Formfehlers in ihrem Paß nicht hatte abfahren lassen.

Wenn sie nicht mal Cora aus dem Land ließen, welche Möglichkeit hatte er dann, auf normale und gesetzmäßige Weise fortzukommen? Aber sie konnten ihn nicht zurückhalten, wenn er reisen wollte. In zwei Stunden war er notfalls mit dem Flugzeug in Paris, und das Flugzeug wartete Tag und Nacht. Immerhin war die Lage äußerst bedrohlich. Hinter allem steckte natürlich Jiggs. Mit diesem Kerl mußte endlich Schluß gemacht werden! –

Aber am nächsten Morgen wurde während Kerkys Abwesenheit sein Kammerdiener Jack verhaftet, und er erkannte, daß seine Lage allmählich verzweifelt wurde. Die beiden besten Führer seiner Organisation waren ihm genommen, und in einer halben Stunde mußten die Posten neu besetzt sein . . . Noch andere Dinge hatten sich geändert: Über London lag ein lähmender Bann, als die Gangsterschießereien begannen, aber jetzt brach die allgemeine Wut los. Die Atmosphäre war geladen. Kerky fühlte es.

Er nahm das Mittagessen auf seinem Zimmer ein und schickte eine Nachricht zu seinem geheimen Flugplatz. Dann ging er nach unten, um mit dem Geschäftsführer zu sprechen. »Am nächsten Mittwoch gebe ich ein Diner. Fünfzig Gedecke. Stellen Sie das beste Menü zusammen! Es soll ein fürstliches Mahl werden.«

Der Geschäftsführer war hochzufrieden.

Kerky fuhr ganz offen in die Bond Street und kaufte ein. Die Detektive, die ihn beobachteten, berichteten Captain Allerman darüber.

»Großartig!« sagte der Amerikaner und gab einen Befehl.

Als Kerky ins Hotel zurückkam, fand er Cora nicht und klingelte. »Wo ist Mrs. Smith?« erkundigte er sich, als der Flurkellner erschien.

»Sie ist nicht mehr da. Zwei Herren kamen und nahmen sie mit . . . Ich glaube, sie waren von der Polizei. Captain Allerman war der eine.«

Der beste und tüchtigste Rechtsanwalt Londons rief in Scotland Yard an und bat um Aufklärung; sie wurde ihm jedoch höflich verweigert. Kerky ließ durch seine Vertrauten alle Polizeistationen absuchen, aber nirgends fand sich Cora; nirgends auch Jack.

Am Nachmittag wurde in der Downing Street ein rotgedruckter Brief abgegeben. Es wurde jedoch kein Geld verlangt, sondern nur Straflosigkeit für alle, die an den letzten Unruhen teilgenommen hatten. Man sollte ihnen die Abreise gestatten und eine Frist von sieben Tagen gewähren, um England zu verlassen.

»Kerky wird der Boden zu heiß – er will sich aus dem Staub machen«, meinte Jiggs, als Terry ihn den Brief hätte lesen lassen. »Was macht übrigens zur Zeit der Ministerpräsident? Hat er öffentliche Verpflichtungen?«

»Er eröffnet eine neue Schule am Themseufer.«

»Innerhalb der City?«

»Ja.«

»Aha – nun durchschaue ich die Sache!«

»Wembury meint, der Ministerpräsident solle die Feierlichkeit absagen.«

»Nichts wird abgesagt!« erklärte Jiggs. »Er soll die Feier ruhig abhalten. Es wird ihm nichts passieren. Glauben Sie mir!«

Terry lächelte wehmütig. »Ich wünschte nur, wir könnten unsrer Sache tatsächlich so sicher sein!« –

Ganz London wußte von dem Drohbrief, den der Ministerpräsident erhalten hatte. Und ganz London strömte an dem betreffenden Tag am Themseufer zusammen.

Alle Polizeibeamten, die irgendwie abkömmlich waren, wurden hingeschickt, nicht nur, um die Menschenmenge zu kontrollieren, sondern vor allem, um die Person des Ministerpräsidenten zu schützen. Downing Street und ein Teil von Whitehall wurden abgeriegelt.

Jiggs sah sich vom Präsidium aus den Menschenauflauf an. Die Westminsterbrücke war schwarz von Leuten. Um zehn Uhr mußte der Verkehr über eine andere Brücke gesperrt werden, ebenso die Zugänge zum Trafalgar Square. Leslie Ranger brauchte anderthalb Stunden, um zum Büro zu kommen. Als sie es schließlich erreichte, fand sie den alten Prokuristen verzweifelt und sehr erregt.

»Alle neuen Konten sind wieder geschlossen worden – alle zweiunddreißig! Und alle ziehen ihr Geld aus der Firma zurück – in Dollars!«

Sie starrte ihn ungläubig an. »Was hat denn das zu bedeuten?«

Mr. Morris, der gewandte Kassierer, schien durchaus nicht beunruhigt. »Das ist doch nichts Außergewöhnliches!« meinte er. »Diese Konten wurden von einer Anzahl von Leuten angelegt, die zusammen ein Syndikat bilden. Sie haben einen Beschluß gefaßt, das ganze Kapital in die Gesellschaft zu stecken – das heißt: auf eine Stelle zu konzentrieren. Sie haben uns nur gebeten, ihre Depotbilanz auszuzahlen. Das kommt doch auch sonst vor!« Er lächelte. »Wenn wir das Geld nicht hätten, Miss Ranger, wäre es eine böse Sache. Aber wir sind doch gedeckt! Ich werde zur Bank gehen und die nötigen Anordnungen treffen.«

Kurz vorm Mittagessen brachte er ihr das Geld in einer großen Ledertasche. Sie schloß sie in dem Safe ein, der in ihrem Büro stand. »Heißt das nun, daß die Firma Dorries wieder insolvent geworden ist?« fragte sie traurig.

»Nein – die Firma ist solvent! Auf der Bank sind noch fünfzigtausend Pfund. Wir haben nur ein paar Kunden verloren – in Wirklichkeit nur einen Kunden. Es sind auch gewisse Aufträge von außerhalb zu annullieren; aber Sie brauchen sich deshalb keine Sorge zu machen!« Er sah ihr offen in die Augen. »Um genau zu sein: Wir haben neunundvierzigtausend Pfund auf der Bank. Die Miete für das Büro ist im voraus auf lange Zeit bezahlt, und es ist auch noch genügend Geld vorhanden, um die Gehälter auf ein Jahr zu decken. – Wollen Sie sich übrigens nicht auch das große Schauspiel ansehen, wenn der Ministerpräsident die neue Schule eröffnet?«

Sie schüttelte den Kopf. Fünf Minuten vor zwei saß sie in ihrem Büro und schrieb einen Brief. Das Büro des Kassierers lag neben dem ihren, und die beiden Räume waren durch eine Tür verbunden. Als sie eine Pause machte, hörte sie plötzlich ein scharfes Krachen nebenan. Sie öffnete die Tür. »Ist etwas passiert?« fragte sie und blieb dann, starr vor Schrecken, stehen.

Der Kassierer war über den Schreibtisch gesunken. Neben ihm stand Kerky Smith. Die weiße Schreibunterlage hatte sich rot gefärbt . . . Noch ein andrer Mann war im Zimmer.

»Schreien Sie nicht, Miss Ranger«, flüsterte Kerky und gab dem andern ein Zeichen, hinauszugehen. Geräuschlos zog sich der Mann zurück. Leslie ging rückwärts in ihr Büro. Er folgte ihr und schloß die Tür. »Sie haben eine Ledertasche in Ihrem Safe . . . Wollen Sie mir die aushändigen? Machen Sie keine Schwierigkeiten! Eddie hat sein ganzes Geld bei Ihnen deponiert. Er hat es auf diese Weise recht schlau versteckt.«

»Mr. Tanner hat nichts mit der Firma Dorries zu tun«, brachte sie ängstlich hervor. Kerky grinste.

»Tanner selbst ist doch Dorries! Aber nun öffnen Sie gefälligst den Safe – oder geben Sie mir den Schlüssel. Wenn Sie Lärm schlagen, schieße ich Sie nieder! Eddie wird sein Geld nicht mitnehmen können . . .«

Die Tür zum äußeren Büro wurde plötzlich geöffnet und wieder geschlossen. Eddie Tanner stand im Eingang. In seiner Hand blitzte ein Revolver.

Blitzschnell sprang Kerky hinter Leslie Ranger und hielt sie fest. Im gleichen Augenblick feuerte er zweimal. Eddie Tanner sank in die Knie; die Waffe fiel aus seiner Hand . . . Kerky schleuderte Leslie von sich und zog die Schublade auf. Ein paar Sekunden später hatte er den Safe geöffnet und hielt die Ledertasche in der Hand. Da knallten kurz hintereinander drei Schüsse.

»Ich verhafte Sie, Kerky!« Jiggs stand in der andern Tür.

Die Revolver der beiden krachten zu gleicher Zeit. Aus dem Büro des Kassierers eilten drei Männer herein. Leslie kauerte in einer Ecke und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen den Kampf. Jiggs feuerte mit beiden Händen, und zwei der Angreifer wälzten sich auf dem Boden. Kerky stand noch. Sein Revolver hatte Ladehemmung; gedankenschnell zog er einen anderen. Im nächsten Moment schoß er, aber gleichzeitig hatte auch Jiggs abgedrückt. Kerky Smith taumelte und sank langsam auf die Knie . . .

Drei Ärzte waren bis spät in die Nacht damit beschäftigt, Captain Allerman zu verbinden. Er war schwer verwundet, aber am dritten Tag saß er wieder aufrecht und vergnügt im Bett.

»Ich sterbe so bald nicht – glauben Sie mir das nur! Kerky Smith kann einen Polizeibeamten aus Chikago nicht um die Ecke bringen! Ich wußte, daß die Firma Dorries nur eine Fassade war. Eddie kaufte sie, weil er eine Bank für sein Geld brauchte, und übertrug Leslie Ranger die Leitung, weil er ihr vertraute. Der Kassierer war sein Buchhalter für das Erpressergeschäft, außerdem ein glänzender Pistolenschütze. Ich habe die Firma beobachtet, seit Miss Ranger dort war. Und ich ahnte, daß Kerky eines Tages hinter dem Geld her sein würde. Der Brief an den Ministerpräsidenten war allerdings eine geniale Idee; Kerky konzentrierte dadurch alle Polizeibeamten auf eine ganz andere Stelle und konnte frei schalten und walten. Sicher wäre er auch unbehelligt entkommen, wenn nicht Tanner auf der Bildfläche erschienen wäre. Der arme Eddie – der hat nun auch sein Teil! Haben Sie sein Testament gesehen, Terry? Ich glaube, es wird Sie interessieren, wem er sein Vermögen vermacht hat . . .« Er begegnete Leslies Blick und zwinkerte mit den Augen. »Wirklich – alles in allem ein feiner Kerl! Er hat sich an dieser Sache nicht deshalb beteiligt, weil er Geld machen wollte, sondern weil er ein geborener Feind von Gesetz, Ordnung und ruhigem Leben war. Ob er seinen Onkel erschossen hat? Aber natürlich!«

»Warum wollte er denn plötzlich nichts mehr mit der Geschichte zu tun haben?« fragte Terry. »Hat er sich gefürchtet?«

Jiggs schüttelte den Kopf. »Nein – Eddie konnte man keine Angst einjagen!« Diesmal vermied er Leslies Blick. »Ich glaube, er hatte sich verliebt . . . Das kann auch andern Leuten passieren . . .«

Eine ängstliche Krankenschwester neigte sich über ihn. »Sie dürfen nicht so viel sprechen, Captain!«

Er sah sie ärgerlich an. »Was – ich soll nicht sprechen?« brummte er. »Warum denn nicht? Glauben Sie vielleicht, ich wäre tot?«

 

Ende

 


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