Edgar Wallace
Gangster in London
Edgar Wallace

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1

Eine hübsche junge Dame stieg die Stufen zur Haustür von Berkeley Square Nr. 147 hinauf und klingelte energisch. Ihre ungewöhnliche Größe fiel nicht auf, weil ihre Figur durchaus gut proportioniert war. Ihr Gesicht war hübsch, wenn auch nicht im gewöhnlichen Sinne. Alles an ihr verriet eine Persönlichkeit, die weit über dem Durchschnitt stand.

Die Haustür öffnete sich, und ein Diener sah die Dame fragend an.

»Kommen Sie wegen der Stellung . . .?«

»Ist der Posten bereits vergeben?«

»O nein! Wollen Sie nicht nähertreten?«

Er führte sie in ein großes, kühles Zimmer, das sie an den Warteraum eines Arztes erinnerte. Nach fünf Minuten erschien er wieder. »Kommen Sie bitte mit.«

Diesmal brachte er sie in die Bibliothek. An den Wänden standen Schränke und Regale, und auf dem Tisch lag eine Menge neuer Bücher.

An dem großen Schreibpult saß ein hagerer Herr, der das junge Mädchen über seine Brille hinweg betrachtete.

»Nehmen Sie Platz! Wie heißen Sie?«

»Leslie Ranger.«

»Sie sind wohl die Tochter eines pensionierten Offiziers oder sonst eines vornehmen Herrn?«

»Nein. Mein Vater war kaufmännischer Angestellter und arbeitete sich zu Tode, um seine Familie anständig durchzubringen«, erwiderte sie und bemerkte, daß seine Augen aufleuchteten.

»Haben Sie Ihre letzte Stellung aufgegeben, weil Ihnen die Arbeitszeit zu lang war?« fragte er barsch.

»Ich habe sie aufgegeben, weil der Chef zudringlich wurde . . .«

»Großartig!« erwiderte er ironisch. »Wie ich aus Ihren Zeugnissen sehe, stenographieren Sie unglaublich schnell; und die Handelskammer bestätigt hier, daß Sie vorzüglich maschineschreiben können. Dort steht eine!« Er deutete mit seinem dürren Finger darauf. »Setzen Sie sich und schreiben Sie nach meinem Diktat! Papier liegt auf dem Tisch, Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten – und nervös brauchen Sie auch nicht zu sein!«

Sie spannte ein Blatt in die Maschine und wartete. Gleich darauf begann er außergewöhnlich rasch zu diktieren. Die Tasten klapperten unter ihren flinken Fingern.

»Sie sprechen zu schnell für mich«, sagte sie schließlich.

»Das weiß ich. Kommen Sie wieder hierher!« Er zeigte auf den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand. »Welches Gehalt beanspruchen Sie?«

»Fünf Pfund die Woche.«

»Ich habe bisher nie mehr als drei gezahlt. Ich werde Ihnen vier geben.«

Sie erhob sich und griff nach ihrer Handtasche. »Es tut mir leid.«

»Also gut: fünf Pfund! Welche fremden Sprachen beherrschen Sie?«

»Ich spreche fließend Französisch, und ich kann Deutsch lesen.«

Er schob die Unterlippe vor, was sein Gesicht noch abstoßender machte. »Fünf Pfund sind eine Menge Geld . . .«

»Französisch und Deutsch sind eine Menge Sprachen!« entgegnete Leslie.

»Wollen Sie sonst noch etwas wissen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nichts über Ihre Pflichten und über die Arbeitszeit?«

»Nein. Ich nehme als selbstverständlich an, daß ich nicht hier im Haus wohne.«

»Sie wollen also nicht einmal wissen, wie lange Sie zu tun haben? Sie enttäuschen mich nicht. Hätten Sie nämlich danach gefragt, so hätte ich Sie sofort zum Teufel gejagt. Also: Sie sind engagiert! Hier ist Ihr Arbeitszimmer!«

Mr. Elijah Decadon erhob sich, ging zu einer Nische des großen Raums und öffnete eine zurückliegende Tür, die in ein kleines Büro führte. Es war vorzüglich ausgestattet. Ein großer Schreibtisch stand darin, eine Schreibmaschine und in einer Ecke ein großer Safe.

»Morgen früh um zehn treten Sie Ihre Stellung bei mir an! Vor allem haben Sie die Aufgabe, niemand, wer es auch sein möge, telefonisch mit mir zu verbinden. Sie müssen die Leute selbst abfertigen. Ich will nicht durch unnötige Fragen gestört werden. Ferner haben Sie meine Briefe zur Post zu befördern. Und dann noch eins: Sie dürfen meinem Neffen nichts von meinen Geschäften erzählen!« Mit einer Handbewegung zur Tür entließ er sie.

Sie folgte der Aufforderung und hatte die Türklinke schon halb heruntergedrückt, als er sie zurückrief:

»Haben Sie einen Freund, einen Verlobten oder so etwas Ähnliches?«

Sie schüttelte den Kopf. »Halten Sie das für notwendig?«

»Nein – im Gegenteil!« erwiderte er nachdrücklich.

 

Am nächsten Morgen traf sie Mr. Edwin Tanner, den Neffen ihres Chefs, vor dem dieser sie gewarnt hatte. Er machte einen ruhigen, sympathischen Eindruck und hatte angenehme Umgangsformen. Sein Gesicht war glattrasiert; er lächelte gern und trug eine Goldbrille. Leslie schätzte ihn auf fünfunddreißig Jahre.

Kurz nach ihrer Ankunft trat er in ihr Privatbüro und strahlte sie freundlich an. »Ich möchte mich Ihnen vorstellen, Miss Ranger. Ich bin Edwin Tanner, Mr. Decadons Neffe.«

Sie war etwas verwundert über den amerikanischen Akzent, mit dem er sprach. Er schien ihr Erstaunen als selbstverständlich vorauszusetzen: »Ja, ich bin Amerikaner. Meine Mutter war Elijah Decadons Schwester. Ich vermute, daß er Ihnen verboten hat, mit mir über seine Geschäfte zu sprechen. Das tut er gewöhnlich. Aber da es hier nichts gibt, was nicht alle Leute wüßten, brauchen Sie diese Bemerkung nicht sehr ernst zu nehmen! Ich glaube nicht, daß Sie mich brauchen. Aber falls es doch einmal nötig werden sollte: Ich bewohne das kleine Appartement im oberen Geschoß, und es gehört zu Ihren Pflichten, an jedem Sonnabendmorgen für meinen Onkel die Miete bei mir einzukassieren. Ich wohne sehr nett, aber ich muß feststellen, daß Mr. Decadon durchaus kein Menschenfreund ist. Auf der anderen Seite hat er allerdings auch viele angenehme Charakterzüge.«

Auch Leslie konnte das in den nächsten Monaten feststellen. Seinen Neffen erwähnte Decadon äußerst selten, und nur einmal hatte sie die beiden zusammen gesehen. Sie wunderte sich, warum Tanner überhaupt im Hause seines Onkels wohnte. Allem Anschein nach hatte er ein eigenes großes Privateinkommen und hätte sich eine Reihe von Zimmern in einem guten Londoner Hotel leisten können.

Decadon drückte auch selbst einmal seine Verwunderung darüber aus, aber er war sparsam, um nicht zu sagen geizig, und deshalb kündigte er dem Neffen nicht, obwohl er keinerlei Zuneigung für ihn zu fühlen schien. Er war argwöhnisch Edwin Tanner gegenüber, der offenbar jedes Jahr zweimal England besuchte und dann bei ihm wohnte.

»Er ist der einzige Verwandte, den ich habe«, brummte der Alte eines Tages. »Wenn er ein bißchen Verstand hätte, würde er sich von mir fernhalten.«

»Er scheint doch einen sehr verträglichen Charakter zu haben?« entgegnete Leslie.

»Wie können Sie das sagen, wenn er mich die ganze Zeit ärgert?« fuhr er sie an.

Elijah Decadon hatte seine Sekretärin vom ersten Augenblick an gern gehabt. Edwin Tanner verhielt sich ihr gegenüber objektiv. Er blieb stets gleichmäßig freundlich und zuvorkommend. Trotzdem hatte sie den Eindruck, daß ihr eine Seite seines Wesens vollkommen verhüllt blieb. Der alte Decadon bezeichnete ihn einmal als einen leichtsinnigen Spieler und Spekulanten, ließ sich aber nicht näher darüber aus. Es war merkwürdig, daß er das sagte; denn er selbst hatte sein großes Vermögen durch Spekulationen erworben, die alle mehr oder weniger gewagt, ja leichtsinnig gewesen waren.

Der ganze Haushalt hatte etwas Ungewöhnliches, und Leslie war dankbar, daß sie behaglich in einer eigenen Wohnung leben konnte. Decadon hatte unerwartet ihr an und für sich schon hohes Gehalt nach einer Woche verdoppelt.

Sie machte einige seltsame Erfahrungen. Decadon war etwas unachtsam und verlegte oder verlor häufig Gegenstände. Manchmal waren es kostbare Bücher, manchmal Wertpapiere oder Verträge. In solchen Fällen benachrichtigte er sofort die Polizei. Und stets fanden sich die Gegenstände wieder, bevor die Beamten erschienen.

Als Leslie das zum erstenmal miterlebte, erschrak sie sehr. Ein seltenes unheimlich wertvolles Manuskript war verschwunden. Während sie eifrig in allen Schubladen suchte, telefonierte Decadon schon mit Scotland Yard. Kurz darauf kam der noch sehr junge, hübsche Chefinspektor Terry Weston. Wie gewöhnlich, hatte sich das verlorene Manuskript inzwischen in dem großen Safe in Leslies Büro gefunden.

»Mr. Decadon«, bemerkte Terry freundlich. »Diese Marotte von Ihnen kostet den Staat eine Menge Geld!«

»Wozu haben wir denn überhaupt eine Polizei?« fragte der alte Mann brummig.

»Jedenfalls nicht dazu, um vergeßlichen Leuten verlorene Dinge suchen zu helfen.«

Decadon räusperte sich ärgerlich und ging in sein Wohnzimmer, wo er den Rest des Tages in einer recht unfreundlichen Stimmung zubrachte.

»Ihnen kommt das alles sicher komisch vor, Miss?«

»Ja, Mister –«

»Chefinspektor Weston – Terry Weston. Ich wage nicht vorzuschlagen, daß Sie mich ›Terry‹ nennen.«

Sie lächelte, sein ungezwungen heiteres Wesen wirkte ansteckend. Niemals hätte sie sich einen Polizeibeamten so menschlich und freundlich vorgestellt.

Auch er interessierte sich von Anfang an lebhaft für sie und traf sie natürlich wieder. Sie nahm ihr Mittagessen gewöhnlich in einem kleinen Restaurant in der Bond Street ein. Eines Tages erschien er in diesem Lokal und nahm ihr gegenüber Platz. Die Begegnung war nicht zufällig, wenigstens nicht von seiner Seite aus. Im Gegenteil, er hatte alles sehr genau ausgekundschaftet.

Ein andermal sah er sie, als sie auf dem Heimweg war. Aber er war klug genug, sie niemals ins Theater einzuladen oder ihr zu zeigen, wie sehr er sich für sie interessierte. Er wußte, daß sie sich dann sofort zurückziehen würde.

»Warum arbeiten Sie eigentlich für den alten Griesgram?« fragte er einmal.

»Er ist doch kein Griesgram!« verteidigte sie Mr. Decadon, aber ihre Worte klangen nicht besonders überzeugt, besonders, da sie sich an diesem Tag mehr als einmal über ihren Chef geärgert hatte.

»Ist Edwin Tanner ein netter Kerl?«

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Warum stellen Sie dieses Verhör an?«

»Ach, habe ich das getan? Das tut mir leid. Mein Beruf bringt das mit sich. Ich interessiere mich nicht besonders für Mr. Tanner.«

Leslie hatte im allgemeinen eigentlich wenig zu tun: es waren nur ein paar Briefe zu schreiben, ein paar Bücher zu lesen und über den Inhalt zu berichten. Der alte Decadon war ein großer Bücherfreund und verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek.

Der zweite ungewöhnliche Vorfall, den Leslie in ihrer neuen Stellung erlebte, ereignete sich, nachdem sie ungefähr vier Monate für Decadon tätig war. Sie hatte einige Briefe auf der Post einschreiben lassen und wollte eben wieder zur Haustür hineingehen, als ein Mann sie ansprach. Er war klein und trug einen großen, steifen Filzhut; den Rockkragen hatte er hochgeschlagen, es regnete.

»Wollen Sie Ed diesen Brief geben?« fragte er mit amerikanischem Akzent und zog ein Kuvert aus der Tasche.

»Meinen Sie Mr. Tanner?«

»Ja: Ed Tanner.« Er nickte. »Sagen Sie ihm, er komme vom ›Großen‹!«

Sie mußte über seine Worte lächeln. Als sie aber im Lift zum obersten Stock hinauffuhr, wo Edwin Tanner wohnte, zeigte sich dieser nicht im mindesten überrascht.

»Vom ›Großen‹?« wiederholte er nachdenklich. »Wer hat Ihnen denn den Brief gegeben? War es ein kleiner Mann etwa so groß?«

Er legte anscheinend Wert auf eine genaue Beschreibung des Boten. Sie erzählte ihm alles, worauf sie sich besinnen konnte, und erwähnte auch den merkwürdigen steifen Hut.

»Ach, seh'n Sie mal an!« entgegnete Tanner. »Ich danke Ihnen vielmals, Miss Ranger!«


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