Edgar Wallace
Gangster in London
Edgar Wallace

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8

Inzwischen war man dem Vorleben des Landstreichers nachgegangen. Er hatte in einem billigen Quartier gewohnt, war aber in den beiden letzten Nächten vor dem Mord nicht in seinem Zimmer gewesen. Er wurde als zurückhaltender, stiller Mann bezeichnet, der nie mit anderen über seine Verhältnisse gesprochen hatte.

Während der Nacht hatte der Polizeipräsident nach Chikago telegrafiert und erreicht, daß Jiggs Allerman zeitweise dem Beamtenstab von Scotland Yard zugeteilt wurde. Jiggs hatte dann den nächsten Vormittag in Decadons Haus mit Untersuchungen zugebracht. Als er nach Scotland Yard zurückkehrte, fand er Terry bei der Lektüre einer Zeitung.

»Nun, haben Sie etwas entdeckt?«

Jiggs nickte. »Der Alte hatte eine kleine Küche für Tanner einrichten lassen, und dort fand ich einen Gasofen . . .« Er zog einen Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn behutsam und nahm einen dünnen Draht von ungefähr fünfzehn Zentimeter Länge heraus. »Der war um einen der Brenner gewickelt. Und draußen, auf dem Podest der Feuertreppe, ist erst vor kurzem ein Haken in die Wand geschlagen worden.«

»Was schließen Sie daraus?«

Jiggs rieb sich nachdenklich das Kinn. »Eine ganze Menge. Welche Windrichtung hatten wir gestern nacht?«

Terry nahm die Zeitung auf und suchte nach dem Wetterbericht. »Mäßigen Nordwestwind.«

»Großartig! Am meisten war ich nämlich über das Verschwinden der Pistole erstaunt, mit der der Tramp erschossen wurde . . .« Der Amerikaner lehnte sich über den Tisch und sprach nachdrücklich weiter: »Es gab nur einen Weg, die Pistole wegzubringen. Ich ahnte sofort, wie es die Leute angestellt hatten, als ich von einem Dienstmädchen des Nachbarhauses erfuhr, daß jemand ihr Fenster eingestoßen habe, und zwar ein paar Minuten nachdem der Mord passiert war. Ich meine: die Erschießung des Landstreichers.« Er nahm einen Bleistift aus der Tasche und zeichnete einen rohen Plan. »Also: Hier ist der Hof! An einer Seite grenzt er an das nächste Grundstück. Das betreffende Dienstmädchen schläft im vierten Stock. Sie war früh zu Bett gegangen, weil sie am Morgen zeitig hatte aufstehen müssen. Als sie gerade im Begriff war einzuschlafen, wurde ihr Fenster von draußen eingeschlagen. Das ist natürlich nur ihre Auffassung. Ich bin der Ansicht, daß es von einem Gegenstand getroffen wurde. Das vierte Geschoß des Nachbargebäudes liegt etwa ein Stockwerk höher als das Dach von Decadons Haus. Als ich von diesem Vorfall hörte und als ich den Draht um den Gashahn und den Haken in der Mauer fand, ließ ich in allen Geschäften in London nachfragen, die Gasballone führen. Ich wollte herausfinden, wer in der letzten Zeit einen ziemlich großen Spielballon verkauft hatte, der in gefülltem Zustand ein paar Pfund tragen konnte.«

Terry starrte ihn verwundert an. »Ich hab' allerdings gehört, daß so etwas früher schon einmal gemacht wurde . . .«

»Nun hören Sie's zum zweitenmal! Der Ballon wurde in der kleinen Küche gefüllt; das Ende wurde um den Gasbrenner gebunden – der Gasdruck ist in jener Gegend ziemlich stark. Kurz vor dem Mord wurde der Ballon abgebunden und mit einer Schlinge an dem neu eingeschlagenen Haken befestigt. Nachdem Board hinterrücks erschossen worden war, band der Täter die Pistole an den Ballon und ließ ihn steigen. Der Wind muß ziemlich stark gewesen sein. Als der Ballon in die Höhe stieg, wurde er schnell abgetrieben, und die Pistole schlug gegen die Fensterscheibe der Mädchenkammer. Also – nun hab' ich Ihnen etwas von meinen Methoden gezeigt!« schloß Jiggs ironisch.

Terry dachte ein paar Minuten nach. »Aber wenn Ihre Theorie stimmt, muß der Mörder die Feuerleiter in die Höhe gestiegen sein, nachdem er Board niedergeschossen hatte.«

Jiggs nickte bedächtig. »Da haben Sie recht, mein Junge!«

»Glauben Sie immer noch, daß Tanner der Mörder ist?«

Jiggs lächelte. »Es handelt sich hier nicht mehr um glauben. Ich weiß bestimmt, daß er der Täter ist.«

»Sie nehmen wirklich an, daß er Spuren hinterließ, die ihn verdächtigen?«

»Nun, Sie sehen doch: Er ist auf freiem Fuß! Man hat keinerlei Beweise gegen ihn, auf Grund deren man ihm den Prozeß machen könnte. Die Gummistempel mit seinen Fingerabdrücken sprechen sogar zu seinen Gunsten. Ich glaube nicht, daß es möglich wäre, eine Verurteilung Tanners zu erreichen. Ich habe schon früher gesagt, daß er ein ausgezeichneter Psychologe ist. Nehmen wir mal an, man hätte keine Fingerabdrücke und keine Schußwaffe gefunden. Auf wen wäre der Verdacht gefallen? Doch nur auf Ed! Decadons Testament ist verschwunden, und er darf als einziger Erbe gelten. Er hat sehr schlau gehandelt, indem er den Verdacht auf sich lenkte, da er ihn ja gleich wieder zerstören konnte . . . Wie weit sind wir hier vom Meer entfernt?«

»Ungefähr achtzig Kilometer.«

Jiggs nickte. »Er macht niemals einen Fehler! Der Gasballon, den er benutzt hat, konnte sich mindestens einige Stunden in der Luft halten. Die Pistole werden wir also nicht zu sehen bekommen. Die ist irgendwo ins Meer gestürzt.«

»Wir hatten übrigens keine weiteren Klagen von Leuten, die man erpressen wollte«, bemerkte Terry.

»Die kommen schon noch! Die Bande läßt nur eine gewisse Zeit verstreichen – aus taktischen Gründen.« Der Amerikaner sah nach der Uhr. »Ich gehe jetzt zur Cecilia-Bar. Ich hab' so 'ne Ahnung, als ob man dort interessante Dinge erfahren könnte.«

Die Cecilia-Bar galt als Treffpunkt für Amerikaner, die sich in London aufhielten. Der große, moderne Raum war ziemlich besucht, als Jiggs dort eintraf. Er ließ sich an einem kleinen Tisch nieder und wartete.

Es war beinahe zwölf, als Kerky Smith gemächlich in die Bar schlenderte; er hatte das knochige Kinn vorgereckt und trug das übliche freundliche Lächeln zur Schau. Gelangweilt schaute er sich um, übersah Jiggs allem Anschein nach und ging wieder zur Tür. Jiggs trank seinen Cocktail aus, winkte dem Kellner und steckte die Hand in die Tasche. Er hatte nicht die Absicht zu gehen; er wollte nur den ›Großen‹ herbeilocken.

»Aber Jiggs, warum brechen Sie schon auf?« Kerky Smith kam liebenswürdig auf den Detektiv zu, streckte die mit Brillantringen geschmückte Hand aus und drückte herzlich die Rechte des Beamten. »Sie gehen doch hoffentlich noch nicht? Ich möchte ein wenig mit Ihnen plaudern.« Er setzte sich. »Es ist doch wirklich schlimm, daß der Alte so sterben mußte. Ich wette mit Ihnen, daß Ed die Sache ziemlich an die Nieren gegangen ist. Ich glaube, er trauert um seinen Onkel.«

»Sie reden ja wie ein Buch. Wo haben Sie denn all die Ausdrücke her?«

»Ach, das hab' ich so irgendwo gelesen«, erwiderte Kerky unverschämt. »Hat der Alte ihm nicht sein Vermögen hinterlassen? Nun, er braucht das Geld ja auch dringend. Es fehlte ihm gerade noch eine Million.«

»Es wird Monate dauern, bevor er einen Cent von der Erbschaft anrühren kann.«

»Ach?« Kerky Smith runzelte die Stirn. »Daraufhin kann man sich aber doch Geld borgen? Soviel ich weiß, war Ed heute morgen schon bei verschiedenen Finanzleuten . . .«

Jiggs zeigte höfliches Interesse. »Sagen Sie mal: Was für ein Geschäft betrieb er eigentlich, als er noch in Chikago war?«

Kerky schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich kenne den Mann kaum, und ich weiß nicht, warum Sie immer von ›Geschäften‹ reden.« Er sprach vollkommen ruhig und blickte den Detektiv offen an. »Es sieht so aus, als ob einige Gangster hier Fuß fassen wollen«, fuhr er fort, »Hat schon jemand Ed aufgefordert, eine Summe zu zahlen? Er ist ja jetzt ein schwerreicher Junge geworden.«

»Sagen Sie mir lieber, was er in Chikago getrieben hat!« wiederholte Jiggs. Er hoffte allerdings nicht auf eine befriedigende Antwort, denn ein Gangster spricht nicht einmal über die Geschäfte seiner schlimmsten Feinde.

»Er verkehrte in Spielerkreisen. Meiner Meinung nach hat er da sein Geld gemacht.«

Jiggs lehnte sich über den Tisch und sprach leise: »Kerky, Sie erinnern sich doch noch daran, daß Sam Polini erschossen wurde? Man lauerte ihm auf, als er eines Morgens aus der Messe kam. Der war doch ein Freund von Ihnen?«

Ein harter Ausdruck zeigte sich in Kerkys Blick, aber das Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht. »Ich kannte den Mann . . .«

»Er gehörte zu Ihren Leuten. Wer hat ihn denn niedergeknallt?«

»Wenn ich das wüßte, hätt' ich's doch der Polizei gemeldet. Polini war ein feiner Kerl. Schade, daß der dran glauben mußte!«

»Hatte Ed etwas mit der Sache zu tun?«

Kerky schüttelte gelangweilt den Kopf. »Ach, welchen Zweck hat es denn, so alberne Fragen zu stellen, Jiggs? Ich hab' Ihnen bereits erklärt, daß ich nichts über ihn weiß. Er scheint ein ganz netter Kerl zu sein, und ich möchte kein Wort gegen ihn sagen – besonders jetzt nicht, da er in Trauer ist.«

Jiggs bemerkte den schnellen Seitenblick, mit dem ihn der andere betrachtete, und deutete ihn auf seine Weise.

»An einem der nächsten Tage fahr' ich nach Paris«, fuhr Kerky fort. »Wenn man amerikanische Gangstermethoden in London einführt, möcht' ich lieber nicht hier sein. London ist ja wohl auch der letzte Ort, an dem man so blöde Schießereien erwarten sollte. Stimmt es übrigens, daß Sie jetzt bei Scotland Yard angestellt sind?«

»Wer hat Ihnen denn das erzählt?«

»Ach, man spricht darüber, daß Sie für einige Zeit ausgeliehen worden seien.« Kerky legte eine Hand auf die Schulter des Detektivs. »Ich mag Sie im Grund sehr gern. Sie sind ein tüchtiger Mann, und an Ihrer Stelle würde ich mich nicht hier herumtreiben. Wissen Sie: Sie könnten tatsächlich Besseres anfangen und ordentlich Geld verdienen! Einer meiner Freunde hat dringend einen Detektiv nötig und zahlt hunderttausend Dollar, wenn ich ihm einen brauchbaren nachweise. Zu tun hätte der nicht weiter viel: braucht nur ruhig dazusitzen und nichts zu merken, wenn was passiert . . . Wahrscheinlich könnten Sie meinem Freund sehr viel nützen.«

»Will sich Ihr Freund scheiden lassen? Oder will er sich nur vorm Galgen retten?« fragte Jiggs geradezu. »Sagen Sie bitte Ihren Bekannten, mit mir wäre in dieser Hinsicht nichts anzufangen! Teilen Sie ihnen aber auch mit, daß ich mit zwei Pistolen schießen kann, falls sie versuchen sollten, mich auf andere Weise taub und stumm zu machen. Sie müssen verdammt schnell sein, wenn sie mir zuvorkommen wollen!«

Kerky seufzte. »Sie reden wie ein Filmstar aus Hollywood.« Er winkte dem Kellner, zahlte, nickte Jiggs freundlich zu und schlenderte dann zur Bar.

Jiggs machte sich auf den Weg zu seinem Hotel, paßte aber unterwegs genau auf. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit. Er wußte, daß es noch vor Ende der Woche allerhand Aufregung in London geben würde . . .

Im Speisesaal seines Hotels traf er mehrere Bekannte, die über Decadons Ermordung sprachen. Keiner schien jedoch die Tragweite der Ereignisse zu begreifen. Keiner erkannte, wie sehr sie in ihrer eigenen Sicherheit bedroht waren.

Während des Essens wurde Jiggs ans Telefon gerufen.

Terry meldete sich. »Ich komme zu Ihnen ins Hotel! Die Dinge entwickeln sich . . . Können wir in Ihrem Zimmer miteinander sprechen?«

»Gewiß!«

Jiggs erwartete den Chefinspektor in der Halle und fuhr dann im Lift mit ihm nach oben.

»Hier haben wir einen weiteren Brief!« Terry nahm ein zusammengefaltetes Blatt aus der Brieftasche. Es hatte genau dieselbe Größe wie das an Decadon gerichtete Schreiben, war aber in grüner Farbe gedruckt und hatte einen anderen Wortlaut:

Sehr verehrter Freund! Es ist unser Bestreben, Ihnen Sicherheit und Wohlergehen zu garantieren. Wir sind eine Vereinigung entschlossener Männer, die Sie gegen Ihre Feinde und selbst gegen Ihre Freunde schützen will. Sie brauchen sich nicht mehr um Diebe oder andere Verbrecher zu kümmern, wenn Sie uns Ihr Vertrauen schenken. Sind Sie gewillt, unsere Hilfe in Anspruch zu nehmen, so stellen Sie heute abend zwischen acht und halb neun eine Kerze in das Fenster Ihres Speisezimmers! Wir bieten Ihnen unsere Hilfe für tausend Pfund an, die Sie innerhalb der nächsten drei Tage zu zahlen haben. Falls Sie unsere Dienste ablehnen, so laufen Sie Gefahr für Leib und Leben. Sollten Sie diese Mitteilung der Polizei übergeben, so sind Sie ein Mann des Todes. Stecken Sie tausend Pfund in einen Briefumschlag! Wenn Sie uns durch die Kerze Ihr Einverständnis mitgeteilt haben, erhalten Sie sofort telefonisch Anweisung, wie Sie uns die Zahlung zukommen lassen sollen.

Das Schreiben war unterzeichnet: »Gesellschaft für Schutz und Sicherheit.«

»Die drucken ihre Zirkulare also mit grüner Farbe«, meinte Jiggs. »Die beiden Banden sind nun an der Arbeit: die Grünen wie die Blauen. Wer hat diese Nachricht bekommen?«

»Mr. Salaman, ein sehr reicher junger Mann. Er wohnt in der Brook Street und erhielt den Brief heute mit der ersten Post. Wir haben nicht erfahren, ob noch anderen derartige Aufforderungen zugeschickt wurden. Salaman jedenfalls hat uns das Schreiben sofort übersandt, und wir haben daraufhin sein Haus unter Bewachung gestellt.«

»Ist er persönlich nach Scotland Yard gekommen?«

»Nein, das haben wir vermieden. Er setzte sich telefonisch mit uns in Verbindung und schickte den Brief dann durch einen Boten.«

Jiggs lächelte ironisch. »Die werden trotzdem schon alles wissen . . . Welchen Rat haben Sie ihm gegeben?«

»Ein Licht ins Fenster zu stellen. Wir werden heute abend einen Beamten in seine Wohnung schicken, der die Telefonnachricht entgegennehmen soll.«

Das machte wenig Eindruck auf Jiggs. »Ich sage Ihnen: Die Bande weiß längst, daß sich Salaman mit der Polizei in Verbindung gesetzt hat! Was für ein Bursche ist er denn?«

Terry verzog das Gesicht. »Hat Geld wie Heu und einen etwas merkwürdigen Geschmack. Er ist Junggeselle . . . Ich glaube, er führt ein ziemlich ausschweifendes Leben.«

Jiggs nickte. »Er wird von Glück sagen können, wenn er nicht in Bälde eine blaue Bohne zwischen die Rippen bekommt.«


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