Edgar Wallace
Die Bande des Schreckens
Edgar Wallace

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33

Er mißtraute Alice Cravel diesmal. Wahrscheinlich sollte er nur Nora aus dem Krankenhaus holen, damit man sie dann um so leichter entführen konnte. Aber eine innere Stimme sagte ihm trotzdem, daß Alice es ehrlich meinte.

Er rief das Krankenhaus an, aber die Nachtschwester beruhigte ihn.

»Ja, Ihre Beamten sind hier. Es ist nichts geschehen, und Miß Sanders schläft.«

Langsam ging er ins Badezimmer zurück, zögerte einen Augenblick, ließ dann aber das Wasser ab, ohne es benützt zu haben, und kleidete sich wieder an. Er war plötzlich vollkommen wach geworden.

Erst als er im Begriff war, fortzugehen, sah er das Nutzlose seines Handelns ein. Er konnte doch im Krankenhaus auch nicht mehr tun als seine Beamten. Aber trotzdem machte er sich zu Fuß auf den Weg nach Dorset Square.

Es war ein schöner Abend. Die Theater waren eben geschlossen worden, und es herrschte reger Autoverkehr auf den Straßen. Sein Weg führte ihn über Berkeley Street und Berkeley Square, und plötzlich kam ihm der Gedanke, trotz der späten Stunde noch seinen Vater aufzusuchen. Als er auf das Haus zuging, sah er, daß die Diele erleuchtet war. Er klingelte und wurde gleich darauf von dem Kammerdiener seines Vaters eingelassen.

Der Mann machte einen verstörten Eindruck, und Long erschrak.

»Wo ist mein Vater?«

»Ich weiß es nicht, Mr. Arnold. Er ist ungefähr vor einer Stunde fortgegangen, um noch einen Brief in den Kasten zu werfen. Das macht er gewöhnlich abends noch, aber er ist dann meistens nach fünf Minuten zurück.«

Arnold ging in die Bibliothek. Die Lichter brannten noch – sein Vater hatte also die Absicht, sofort wieder zurückzukehren.

»Hatte er seinen Hut auf, als er ging?«

»Ja. Er hatte Hut und Spazierstock.«

Eine Schublade von Sir Godleys Schreibtisch stand halb offen, und der Wetter schaute hinein. Als er sie leer sah, wuchs seine Bestürzung, denn sein Vater verwahrte seine Browningpistole darin.

Er rief den alten Diener herein, der die Gewohnheiten seines Herrn genau kannte.

»Nimmt Sir Godley gewöhnlich die Pistole mit, wenn er zum Briefkasten geht?«

»Ja, in letzter Zeit immer.«

Der Wetter trat auf den Platz hinaus und ging zum nächsten Briefkasten. Dort traf er einen Polizisten, der ihm Auskunft geben konnte. Aber der Bericht des Mannes klang sehr beunruhigend.

»Ich muß schon sagen, daß sich Ihr Vater etwas merkwürdig benahm. Während ich mich mit ihm unterhielt, fuhr ein Wagen vorbei. Er muß den Herrn, der darin saß, wohl erkannt haben. Es war ein alter Mann mit langen, weißen Haaren, einer schwarzen Künstlerkrawatte und einer Hornbrille –«

Long atmete schwer. Das mußte der Professor sein!

»Was machte mein Vater denn?«

»Nun kommt das Sonderbare. Er lief über die Straße und sprang in eine Autodroschke. Ich sah noch, wie er sich aus dem Fenster lehnte und dem Chauffeur Anweisungen gab. Ich hatte den Eindruck, daß er das erste Auto überholen wollte.«

Arnold ging zu dem Hause zurück. Er war sehr betroffen, aber er beruhigte den Diener mit einigen Worten. Dann setzte er seinen Weg nach Dorset Square fort. Seine Gedanken beschäftigten sich noch mit dem merkwürdigen Verhalten seines Vaters.

Was wußte Sir Godley von dem Professor? Und warum sprang er unter Vernachlässigung jeder Vorsicht in einen Wagen und fuhr dem alten Mann nach? Je länger der Wetter darüber nachdachte, desto sonderbarer erschien ihm die Sache. Der Professor gehörte doch allem Anschein nach zur Bande des Schreckens, ja vielleicht war er überhaupt der Leiter der ganzen Organisation!

Eine Turmuhr in der Nähe schlug. Es war halb zwölf. Er wollte sich nur davon überzeugen, daß in Dorset Square alles in Ordnung war, und dann in Berkeley Square die Rückkehr seines Vaters erwarten.

Vor der Tür des Krankenhauses begrüßte ihn der Beamte.

»Es hat sich nichts ereignet«, berichtete er. »Nur die hysterische Frau ist fortgeschafft worden. Sie hat einen unheimlichen Spektakel gemacht.«

»Ja, ich weiß schon, wen Sie meinen.«

Der Detektiv, der unten in der Halle Wache hielt, öffnete sofort auf sein Klopfen. Auch er konnte weiter nichts melden. Die Nachtschwester kam gerade die Treppe herunter und erzählte ihm, daß Miß Sanders ruhig schliefe.

Der Wetter folgte einem plötzlichen Impuls.

»Dann kann ich sie vielleicht einmal sehen?« fragte er.

Die Nachtschwester war zwar nicht entrüstet über dieses Ansinnen, aber sie zögerte.

»Ich weiß nicht, ob die Oberin das gestatten würde. Ich will Sie hineinlassen, aber Sie dürfen nur einen Blick auf sie werfen, auf keinen Fall mit ihr sprechen.«

Er begleitete sie nach oben.

In dem Zimmer brannte eine schwache Lampe unter einem grünen Schirm, und es war gerade so hell, daß man eine Gestalt im Bett erkennen konnte. Das Mädchen hatte der Tür den Rücken zugekehrt, und man sah nur eine Locke auf dem Kissen.

Der Wetter runzelte die Stirne, als er das schwarze Haar bemerkte.

Mit zwei langen Schritten war er bei dem Bett, ohne sich um den Protest der Schwester zu kümmern.

»Was hat das zu bedeuten?« rief er erregt.

Er legte die Hand auf die schmale Schulter des Mädchens und schüttelte sie. Sie schlief nicht und schaute den Detektiv erschrocken an.

»Aber Mr. Long, was machen Sie denn?« rief die Krankenschwester, aber dann entdeckte sie auch das fremde Gesicht.

»Das ist ja gar nicht Miß Sanders«, sagte sie verstört.


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