Edgar Wallace
Die Bande des Schreckens
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21

Der Tod Mr. Monkfords deprimierte Nora Sanders stark. Sie konnte sich des düsteren Eindrucks nicht erwehren, daß die Bande des Schreckens ihre Hand im Spiel hatte. Das wurde ihr mehr und mehr zur Gewißheit, obwohl sie mit Long nicht mehr über die Verbrecherorganisation gesprochen hatte. Sie versuchte aber vergeblich, Miß Revelstoke auch davon zu überzeugen.

»Das ist der größte Unsinn«, entgegnete die alte Dame energisch. »Ich weiß nicht, was Sie immer mit der Bande des Schreckens wollen. In Scotland Yard scheint man ja vollkommen die Nerven verloren zu haben, wenn derartige Dummheiten geglaubt werden.«

Sie sah gerade zum Fenster hinaus, als ein Mietauto vor der Haustür hielt.

»Ach, da kommt ja Ihr Ihnen so ergebener Mr. Henry. Er scheint es sehr eilig zu haben.«

Erst nachdem sich der Rechtsanwalt zwanzig Minuten lang allein mit Miß Revelstoke unterhalten hatte, ließ sie Nora kommen, und das junge Mädchen war aufs äußerste bestürzt, als sie von der Erbschaft hörte.

»Zwei Millionen soll ich erben?« sagte sie atemlos. »Das kann doch nicht wahr sein!«

Bleich und verstört sank sie in einen Stuhl und sah ratlos von einem zum andern. Mr. Henry strahlte sie wohlwollend an und weidete sich an ihrer Verwirrung.

»Sie haben nun auch die Verantwortung für das ganze Vermögen und den Grundbesitz, Nora. Es wäre gut, wenn Sie meine Hilfe in Anspruch nähmen und mir die Führung Ihrer Geschäfte anvertrauten. Ich würde dann vor allem die Erklärung der Rechtsgültigkeit des Testaments durchsetzen. Die meisten Werte sind flüssig, und nach dem Wortlaut des Testaments können Sie sofort über ein Bankguthaben von einer Million zweihunderttausend Pfund verfügen.«

»Der schlaue alte Fuchs war also doch in Sie verliebt!« sagte Miß Revelstoke und sah Nora mit ihren dunklen Augen durchdringend an.

»Aber – ich verstehe den Zusammenhang wirklich nicht«, erwiderte Nora mit stockender Stimme.

Die alte Dame legte den Arm um die Schulter des jungen Mädchens.

»Gehen Sie in Ihr Zimmer, mein Kind. Ich werde noch wegen der Erbschaft mit Henry sprechen. Man kann auch nicht verlangen, daß sie sich sofort mit ihrem großen Glück abfindet«, wandte sie sich an den Rechtsanwalt.

Willig ließ sich Nora von ihr zur Tür begleiten. Aber ihre Gedanken wirbelten immer noch durcheinander, als sie auf ihrem Zimmer angelangt war.

Es war doch unmöglich! Sie sollte zwei Millionen Pfund besitzen? Natürlich träumte sie. Aber nach und nach kam ihr zum Bewußtsein, daß es Wirklichkeit war. Sie sah sich im Zimmer um und betrachtete jedes Möbelstück, dann trat sie an das offene Fenster und schaute hinaus. Drüben, auf der anderen Seite der Straße, stand ein Mann. Ihr Herz schlug plötzlich wild, als er sie grüßte.

Es war Wetter Long. Er legte den Finger auf die Lippen, dann winkte er ihr zur Straße herunter und hob drei Finger in die Höhe. Also um drei! Sie sah nach der Uhr auf dem Kamin, die halb eins zeigte. Dann nickte sie ihm zu. Aber wo sollte sie ihn nur treffen? Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, entfaltete er eine Zeitung und deutete auf eine Annonce, die in sämtlichen Morgenzeitungen an derselben Stelle stand. Das Warenhaus Cloche kündigte darin den Beginn einer billigen Woche an. Sie erkannte das charakteristische Reklamebild und nickte wieder.

Aufs neue hob er den Finger und legte ihn auf die Lippen. Miß Revelstoke sollte also nichts davon erfahren. Sie gab ihr Einverständnis zu erkennen. Er winkte ihr noch einmal zu und ging dann fort. Warum hatte er nicht telephoniert? Es waren doch zwei Apparate im Hause, einer in der Diele im Erdgeschoß und einer in Miß Revelstokes Arbeitszimmer. Ohne Wissen der alten Dame hätte sie allerdings kein Gespräch führen können.

Als der Gong zum Mittagessen rief, ging sie wieder nach unten und traf die beiden im Wohnzimmer.

»Ich habe mit Mr. Henry über Ihr außerordentliches Glück gesprochen«, sagte Miß Revelstoke, »und ich halte es auch für das beste, daß Sie vernünftig sind und ihn zu Ihrem Generalbevollmächtigten ernennen.«

Nora mußte lachen. Welch große Bedeutung hatte sie doch plötzlich erlangt, daß sie sogar einen Bevollmächtigten brauchte.

»Ich bin allerdings in einer Gemütsverfassung, daß ich lieber alle anderen Leute für mich handeln lasse, als selbst etwas unternehme«, gestand sie. »Ich kann immer noch nicht verstehen, warum Mr. Monkford mir das große Vermögen vermacht hat.«

»Er hätte es auch schlechteren Menschen hinterlassen können«, meinte Miß Revelstoke. »Der arme Joshua war wirklich ein merkwürdiger Mann, aber in diesem Fall hat er ganz guten Geschmack bewiesen. Er hat Sie eben geliebt, wirklich, er hat Sie verehrt«, sagte sie eindringlich, als Nora den Kopf schüttelte.

Auf dem Tisch lagen zwei Schriftstücke.

»Sie müssen hier an dieser Stelle unterzeichnen«, erklärte, ihr Mr. Henry liebenswürdig. »Durch das erste Dokument bestätigen Sie die Annahme der Erbschaft, und das zweite ist eine Vollmacht, die Sie mir ausstellen. All Ihre Sorgen in Vermögensangelegenheiten wälzen Sie dadurch auf meine Schultern ab.«

Nora setzte sich und griff zu dem Federhalter. Aber plötzlich zögerte sie. Man verlangte von ihr, daß sie einen bestimmten Schritt unternehmen sollte, und durch ihre Unterschrift beanspruchte sie den Besitz eines Vermögens, das ihr eigentlich nicht zustand.

»Muß ich denn jetzt schon unterzeichnen? Ich bin wirklich noch kaum in der Lage, die Situation richtig zu beurteilen. Hat es nicht Zeit bis zum Abend? Bis ich die erste Aufregung überwunden habe?« Sie sah den Rechtsanwalt an.

Miß Revelstoke stand hinter ihr und gab Mr. Henry ein warnendes Zeichen.

»Aber gewiß«, beruhigte er sie. »Heute kann ich doch sowieso nichts mehr unternehmen. Es ist besser, Miß Revelstoke erklärt Ihnen erst alles genau, bevor Sie Ihre Unterschrift geben. Wenn ich die Papiere nur morgen früh mit der ersten Post bekomme, dann haben wir keine Zeit verloren.«

Die ältere Dame nahm die beiden Schriftstücke und legte sie beiseite.

»So, nun wollen wir aber zum Essen gehen«, sagte sie dann in vergnügter Stimmung.

Henry verließ das Haus um halb drei, und Nora ging gleich darauf in das Arbeitszimmer, in das sich Miß Revelstoke begeben hatte.

»Ich möchte eine Stunde ausgehen«, sagte sie. »Ich hoffe, daß mir die Luft gut tut, damit ich wieder klar denken kann.«

»Kein schlechter Gedanke. Ich möchte Ihnen nur raten, mit keinem Menschen über das Testament zu sprechen, bis Henry die nötigen gesetzlichen Schritte ergriffen hat. Der letzte, mit dem Sie sich darüber unterhalten dürften, wäre Mr. Long. Es ist ja möglich, daß ich ein Vorurteil gegen diesen Herrn habe, aber ich kann seinen Vater durchaus nicht leiden. Wohin wollen Sie denn gehen?«

»Ich möchte etwas im Park spazieren gehen und mich dann vielleicht einmal bei Cloche umsehen. Es ist eine billige Woche dort.«

Miß Revelstoke lächelte nachsichtig.

»Aber mein Liebling, Sie brauchen doch jetzt wirklich nicht mehr zu einer billigen Woche ins Warenhaus zu laufen. Aber Sie haben vielleicht ganz recht. Es ist eine Ablenkung. Kommen Sie, bitte, bis fünf Uhr wieder zurück.«


 << zurück weiter >>