Edgar Wallace
Die Bande des Schreckens
Edgar Wallace

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19

Miß Revelstoke hatte nicht übertrieben, als sie behauptete, daß die meisten Gäste abreisen würden. Arnold Long, der von einem kurzen Besuch der Hauptstadt nach Heartsease zurückkehrte, fand nur noch ein halb Dutzend Leute in dem großen Speisesaal.

Auf Cravels dringende Vorstellungen hin waren bereits drei Zimmerleute damit beschäftigt, das Paneel von den Wänden des Zimmers zu reißen, in dem das Verbrechen begangen worden war. Sergeant Rouch beaufsichtigte die Leute.

Der Wetter ging nach oben, um sich von dem Fortschritt der Arbeit zu überzeugen. Die Wände waren schon bis auf das Mauerwerk bloßgelegt, und ein Teil des Fußbodens war aufgerissen. Long brauchte kein Bausachverständiger zu sein, um zu sehen, daß sich niemand in dem Zimmer hatte verbergen können.

Sergeant Rouch war ein untersetzter Mann von mittleren Jahren mit blonden Haaren und blauen Augen, der sich durch großen Optimismus auszeichnete. Er glaubte mit Bestimmtheit daran, daß sich auch die kompliziertesten Fälle von selbst lösen müßten.

Der Wetter nahm ein beschmutztes und verbranntes Papier aus der Tasche, das er in Noras Zimmer aufgelesen hatte.

»Was ist das?« fragte Rouch neugierig.

»Die Überbleibsel eines Crackers – Sie können ein ganzes Paket für einen Schilling kaufen.«

»Was – Feuerwerk?« fragte der Sergeant überrascht.

»Ja. Es wurde durch ein offenes Fenster in Miß Sanders' Zimmer geworfen und hatte natürlich nur den Zweck, mich im geeigneten Augenblick aus Monkfords Zimmer zu entfernen. Ich ließ mich tatsächlich hinters Licht führen, und in meiner Abwesenheit geschah etwas Entscheidendes an dem Tatort.«

»Ja, der Mörder ist entkommen«, meinte Rouch selbstzufrieden.

»Der Mörder brauchte gar nicht zu entkommen, weil er überhaupt nicht zugegen war!«

»Aber wie wurde der Mann denn getötet?« fragte Rouch triumphierend. »Ein Mann wurde in einem vollständig abgeschlossenen Zimmer ermordet. Nur Sie waren in der Nähe –«

»So, haben Sie sich diese Theorie auch schon zu eigen gemacht?« fragte der Wetter lachend. »Setzen Sie sich einmal hin, Rouch. Wer hat Ihnen denn die Geschichte beigebracht, daß nur ich in der Nähe war?«

»Ich –« Sergeant Rouch fühlte sich gerade nicht sehr wohl. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne und zuckte die Schultern. »Ich wollte nur sagen –« begann er.

»Wo haben Sie diesen Unsinn her? Ihnen selbst ist doch niemals ein solcher Gedanke gekommen? Also, wer hat Ihnen das erzählt?«

»Mr. Cravel denkt es. Er sagte, es war doch merkwürdig, daß Sie der einzige in der Nähe waren, als der Schuß fiel.«

»Bringen Sie Mr. Cravel her. Ich muß einmal ein ernstes Wort mit ihm reden.«

Gleich darauf erschien der Sergeant mit dem Hotelbesitzer. Der Mann hatte sich anscheinend schon mit dem unvermeidlichen Verlust abgefunden, der ihm durch die Tragödie entstanden war. Ja, er lächelte sogar, als er sich in dem Zimmer umsah.

»Nun, Mr. Long, haben Sie geheime Falltüren oder Hohlräume entdeckt?«

Der Wetter antwortete darauf nicht.

»Sie entsinnen sich, Mr. Cravel, daß ich an der Tür stand und versuchte, sie zu öffnen, als Sie nach oben kamen?«

»Sie nehmen doch nicht etwa ernst, was ich zu Rouch gesagt habe? Ich machte nur eine Bemerkung, daß Sie, soweit wir wissen, allein in der Nähe waren, als Monkford ermordet wurde. Sie glauben doch nicht, daß ich behaupten wollte –«

»Es kommt gar nicht darauf an, was Sie behaupten wollten. Sie sollen nur meine Fragen klar und deutlich beantworten. Erinnern Sie sich daran, daß ich mich sofort an Sie wandte und Sie nach dem Schlüssel für die Tür fragte?«

Cravel nickte.

»Und Sie besinnen sich auch darauf, daß Sie nach unten gingen und mit dem Paßschlüssel zurückkehrten?«

»Ja.«

»Wer hat Ihnen den gegeben?«

»Der Flurkellner.«

»Holen Sie den Mann«, sagte der Wetter zu Rouch und schwieg, bis der Auftrag ausgeführt war.

»Haben Sie einen Paßschlüssel für diesen Stock?« fragte Long.

Der Mann warf einen schnellen Blick auf Mr. Cravel.

»Ja.«

»Zeigen Sie ihn.«

Widerwillig zog der Kellner den Schlüssel aus der Tasche und reichte ihn dem Detektiv, der ihn in das Schloß steckte und umzudrehen versuchte.

»Das ist nicht der Paßschlüssel zu diesem Stockwerk.«

Der Mann antwortete nichts, sondern sah wieder verstohlen zu seinem Chef hinüber. Long bemerkte es.

»Wer hat den richtigen Paßschlüssel?«

Der Kellner bewegte sich unruhig.

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich das Zimmermädchen.«

»Rufen Sie sie«, wandte sich der Wetter wieder an Rouch und entließ den Kellner mit einem Kopfnicken.

»Worauf wollen Sie denn hinaus?« fragte Cravel, als die beiden allein waren.

»Ich will es Ihnen im Vertrauen mitteilen«, entgegnete Long ruhig. »Als Monkford in sein Zimmer ging, nachdem er mich vorher aufgefordert hatte, ihm zu folgen, hat er sich doch selbstverständlich nicht eingeschlossen. Warum hätte er das denn tun sollen? Außerdem konnte er es ja auch nicht, da er keinen Schlüssel hatte. Es ist also eine logische Schlußfolgerung, daß jemand anders von draußen oder drinnen abgeschlossen haben muß. Ich hörte selbst, daß Mr. Monkford die Telephonzentrale anrief, und ich bin davon überzeugt, daß er sich erkundigen wollte, wer ihn eingeschlossen hätte. Ich hörte deutlich die Worte: ›Wer hat‹, dann fiel der Schuß. Er wollte natürlich sagen: ›Wer hat meine Tür verschlossen?‹«

Cravel war kreidebleich geworden.

»Ich bin der Ansicht, daß Sie die Tür zugeschlossen haben, und daß Sie den Paßschlüssel dieses Stockwerks in der Tasche hatten. Sie sind nur nach unten geeilt, um diese Tatsache vor mir zu verbergen.«

In diesem Augenblick kam Rouch zurück und meldete, daß das Zimmermädchen, das an dem Mordtage im zweiten Stock Dienst tat, auf Urlaub sei.

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte der Wetter langsam.

»Zum Teufel, worauf wollen Sie denn hinaus?« Mr. Cravel war wütend, aber er fürchtete sich auch. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß ich in Ihrer Anwesenheit die Tür aufgeschlossen und Monkford erschossen habe?«

»Nein, ich bin der Ansicht, daß Sie die Tür verschlossen haben, bevor er tot war. Sie wußten nämlich, was passieren würde. Was haben Sie dazu zu sagen, Cravel?«

»Das ist eine verdammte Lüge«, brauste der Direktor auf. »Ich bin überhaupt nicht in die Nähe der Tür gekommen. Warum sollte ich sie denn verschließen? Sie können den Fall nicht lösen, Long, und deshalb erfinden Sie die unglaublichsten Theorien, um Ihre Niederlage zu bemänteln.«

Der Wetter trat ganz dicht an ihn heran.

»Ich weiß genug, um Sie an den Galgen zu bringen, Cravel! Auf jeden Fall könnte ich Sie sofort wegen des Mordes an Monkford verhaften. Aber ich lasse Ihnen noch eine Galgenfrist. Früher oder später werden Sie sich selbst bloßstellen. Wenn Sie nicht selbst Joshua Monkford erschossen haben, so gehören Sie doch zu den Leuten, die seinen Tod planten und vorbereiteten. Wenn sich alle meine Vermutungen bewahrheiten, kommen Sie ebenso an den Galgen wie Shelton.«

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Cravels Augen blitzten in tödlichem Haß auf, und er konnte vor Erregung kaum sprechen.

»Eine unerhörte Frechheit!« stieß er wild hervor.

Der Wetter sprang zur Seite und entging dem Faustschlag, den der Mann gegen ihn richtete. Blitzschnell packte er dann Cravel am Genick und riß ihm den Kopf zurück. Der Direktor verlor das Gleichgewicht und fiel dröhnend zu Boden.

»Habe ich Sie endlich?« sagte der Wetter und lachte triumphierend. »Das ist wohl der wunde Punkt, den man nicht berühren darf? Ihr Wutanfall hat mich ein ganzes Stück weitergebracht!«

Cravel erhob sich langsam. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Augen schienen tiefer in den Höhlen zu liegen, aber er hatte sich wieder in der Gewalt.

»Es tut mir leid, daß ich Sie angegriffen habe. Sie haben mich aber auch zu sehr gereizt. Kein Mensch kann vertragen, daß man ihn einen Mörder nennt. Ich werde die Sache Scotland Yard melden.«

»Schön, gehen Sie nur zu meinem Vorgesetzten. Er wird sich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wie alt sind Sie eigentlich, Cravel?«

Der Direktor antwortete nicht, drehte sich um und verließ das Zimmer.

»Donnerwetter«, sagte Rouch und sah seinen Chef mit unverhohlener Bewunderung an. »Das wird aber einen bösen Spektakel geben, wenn der die Sache meldet.«

»Der meldet nichts – wetten, daß?«


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