Edgar Wallace
Die Bande des Schreckens
Edgar Wallace

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22

Das Warenhaus Cloche ist groß, und da es Wetter Long nicht möglich war, Nora einen bestimmten Treffpunkt anzugeben, hielt sie sich einige Zeit am Haupteingang auf. Als sie ihn aber nicht entdecken konnte, betrat sie schließlich das Geschäft. Im Erdgeschoß wimmelte es von Menschen. Sie schaute nach rechts und nach links, aber sie sah ihn nicht. Hatte sie ihn doch falsch verstanden? Oder war er am Ende verhindert?

Plötzlich trat ein Aufsichtsbeamter mit langem, blondem Schnurrbart auf sie zu und begrüßte sie mit einem Kopfnicken.

»Wir haben Ihre Handtasche gefunden, sie liegt im Fundbüro. Wollen Sie, bitte, mitkommen?«

Bevor sie erwidern konnte, daß sie nichts verloren hätte, drehte er sich um und ging ihr voran. Vergeblich versuchte sie, ihn zu überholen und ihm klar zu machen, daß er sich täuschen müßte. Er ging in ein kleines Büro und hier wandte er sich erst wieder nach ihr um.

»Sie müssen sich unbedingt irren, ich habe keine Tasche verloren –« begann sie.

Er öffnete eine andere Tür, die zu einem kleinen Salon führte.

»Würden Sie einen Augenblick Platz nehmen?« fragte er freundlich.

»Ich sage Ihnen aber doch, daß ich nichts verloren habe«, wiederholte sie, etwas erregt über seine Unzugänglichkeit.

Er schob sie in das kleine Zimmer und schloß die Tür hinter ihr.

»Entschuldigen Sie, daß ich wie ein Detektiv im Theater erscheine«, sagte der Wetter und nahm den Schnurrbart ab. »Sie verstehen jetzt wohl, warum Sie Ihre Handtasche verloren haben müssen.«

Sie starrte ihn erstaunt an.

»Mir sind derartige Dinge auch zuwider«, fuhr er fort, »aber der alte Cloche ist ein großer Freund von Scotland Yard, und ich hatte keinen anderen Weg, um mich Ihnen zu nähern, ohne die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, der Ihnen dauernd folgt.«

»Der mir dauernd folgt?« fragte sie ungläubig. »Da irren Sie sich aber.«

»Durchaus nicht. Ich kenne den Mann, seinen Namen, seine Adresse. Sogar über seine früheren Gefängnisstrafen bin ich orientiert«, erklärte der Wetter mit breitem Lächeln. »Haben Sie schon von Ihrem großen Glück erfahren?«

Sie nickte.

»Ist es denn wirklich wahr? Ich kann es noch nicht glauben.«

»Es ist schon wahr. Das Testament ist über jeden Zweifel erhaben – wenigstens unter diesen Umständen. Monkford soll es an dem Nachmittag vor seinem Tod unterzeichnet haben. Das war der erste August – kommt Ihnen das Datum nicht bekannt vor?«

Sie erinnerte sich und wurde bleich.

»Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Welche Schriftstücke sollen Sie denn für Mr. Henry unterzeichnen?«

Sie setzte sich plötzlich.

»Woher wissen Sie denn davon etwas?« fragte sie verblüfft.

»Haben Sie Ihre Unterschrift schon gegeben?« fragte er schnell.

»Noch nicht.«

»Sie haben Sie also tatsächlich gebeten, etwas zu unterzeichnen? Um was handelt es sich denn?«

»Das verstehe ich noch nicht ganz. Aber anscheinend ist alles in Ordnung. Mr. Henry zeigte mir zwei Papiere: eine Vollmacht, die ich ihm ausstellen sollte, und eine Bestätigung, daß ich das Testament annehme –«

»Sie werden keins der beiden Schriftstücke unterzeichnen.«

»Aber Mr. Henry ist doch ein Rechtsanwalt, und er handelt in meinem Interesse.«

»Nein, das tut er eben nicht. Sie unterzeichnen nichts – haben Sie mich verstanden?« fragte er etwas unhöflich. Dann nahm er ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche, glättete es und legte es auf den Tisch. »Ich bin im Begriff, Ihr Vertrauen auf eine harte Probe zu stellen«, sagte er sehr ernst. »Dieses Schriftstück ist eine Vollmacht für Wilkins, Harding & Bayne, die Rechtsanwälte meines Vaters, und ich bitte Sie, es zu unterzeichnen. Ich werde dafür sorgen, daß es noch heute nachmittag in die Hände der betreffenden Herren kommt.«

»Was besagt es denn?« fragte sie und schaute zu ihm auf.

»Es hat vermutlich denselben Inhalt wie das Schriftstück, das Sie für Mr. Henry unterzeichnen sollten. Es ist eine Art Generalvollmacht, und Sie legen dadurch die Verwaltung Ihrer Angelegenheiten in die Hände einer Rechtsanwaltsfirma, die über jeden Zweifel erhaben ist.«

»Wollen Sie denn sagen, daß Mr. Henry –«

»Mr. Henry ist nicht über jeden Zweifel erhaben, und zwar aus vielen Gründen, die ich Ihnen jetzt im Moment nicht erklären kann. Ich bitte Sie, Nora, schenken Sie mir Vertrauen und unterzeichnen Sie das Schriftstück.«

Sie nahm die Feder, die auf dem Schreibtisch lag, und unterschrieb, ohne den Inhalt durchzulesen.

»Es wird allerdings eine böse Auseinandersetzung geben, wenn ich Miß Revelstoke erzähle, was ich getan habe.«

»Sie brauchen es ihr erst morgen früh mitzuteilen. Wann sollten Sie denn die Schriftstücke für Mr. Henry unterzeichnen – etwa schon heute abend? Zweifellos arbeitet die Gegenseite sehr schnell. Glauben Sie, daß Sie imstande sind, Miß Revelstoke ein wenig zu belügen?«

Sie lächelte.

»Ich möchte es nicht gerne tun, aber wenn Sie es wollen –«

»Gut. Dann sagen Sie, daß Sie sich entschlossen haben, die Vertretung Ihrer Angelegenheiten den Rechtsanwälten Ihres verstorbenen Vaters zu übergeben, die sich mit Mr. Henry in Verbindung setzen würden. Um Ihre Handlungsweise zu rechtfertigen, können Sie auch noch angeben, daß Mr. Henry das Testament als Zeuge unterschrieben hat, und daß Sie es für das beste halten, einen Unbeteiligten mit der Wahrung Ihrer Interessen zu betrauen.«

Er nahm eine kleine Handtasche vom Tisch auf und überreichte sie ihr lächelnd.

»Sie haben also Ihr verlorenes Eigentum wiedererhalten. Der Herr, der draußen auf Sie wartet, ist sicher schon ungeduldig geworden.«

»Wann kann ich Sie wieder treffen, Mr. Long? Diese ganze Geschichte beunruhigt mich wirklich sehr.«

»In fünf Minuten sehe ich Sie wieder, und wahrscheinlich bin ich die ganze nächste Woche in Ihrer unmittelbaren Nähe.« Bei diesen Worten nahm er ihre Hand in die seine. »Es wird Ihnen in nächster Zeit nicht sehr gut gehen, aber Sie haben einen festen Charakter, und Sie werden über alle Schwierigkeiten hinwegkommen. Und wenn es Sie irgendwie tröstet, möchte ich Ihnen sagen, daß achtzehntausend Polizisten in London alles für Ihre Sicherheit tun, und daß ich in den nächsten Tagen graue Haare Ihretwegen bekomme. Aber lassen Sie den Mut nicht sinken.«

Gleich darauf trat sie aus dem kleinen Salon auf die Straße. Unterwegs sah sie sich mehrmals verstohlen um und bemerkte tatsächlich einen Mann, der sie beobachtete. Aber obwohl darin eine Gefahr für sie liegen mußte, und obwohl Long sie gewarnt hatte, fühlte sie sich im Augenblick stark und mutig.

Sie wartete nicht erst, bis die alte Dame sie an die Unterzeichnung der Schriftstücke erinnerte, sondern ging nach ihrer Rückkehr sofort zu ihr. Sie fand sie im Wohnzimmer, mit einer feinen Handarbeit beschäftigt.


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