Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schluß

Wir haben in den letzten Kapiteln nur die großen Grundrichtungen zu skizzieren gesucht, die uns im philosophischen Leben der Gegenwart die hervorragendste Rolle zu spielen scheinen; dies Leben selbst ist damit natürlich nicht erschöpft.

So würde, um gleich mit dem letzten von uns behandelten Thema anzufangen, zu einer Philosophie des Sozialismus im weitesten Sinne des Wortes auch dessen Widerpart, der mit Proudhon verwandte »freiheitliche Kommunismus«, richtiger kommunistische Anarchismus gehören, wie ihn die, ihrer Volksart nach dazu besonders neigenden, Russen Bakunin (1814 bis 1876), Marxens bekannter Gegner in der Ersten Internationale, dann der erst vor kurzem gestorbene Fürst Peter Krapotkin vertraten. Er will sein Ziel vollster wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit aller, wobei »vollständige Entfaltung der Individualität« mit »höchster Entfaltung der Assoziation« vereinigt sein soll, durch freie, unpolitische Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte erreichen. Alle Gewalt soll in der staatlosen Zukunftsgesellschaft (Anarchie gleich Herrschaftslosigkeit) aufgehoben sein; sie ist nur gegenüber der Zwangsgewalt des heute bestehenden Staates und zu dessen Niederringung gestattet. In Deutschland stand diesem »Anarchosozialismus« von philosophisch Gebildeten der während der Münchener Wirren ermordete Gustav Landauer (vergl. seinen »Aufruf zum Sozialismus«, 1919) nahe; in Frankreich, Italien und Spanien die theoretischen Vertreter des sogenannten »Syndikalismus«, der gleichfalls das sozialistische Endziel nicht durch politischen Kampf, sondern auf dem Wege »direkter Aktion« der Arbeitervereinigungen (»Syndikate«) zu erreichen strebt. Besondere Philosophen der Bourgeoisie oder des Kapitalismus sind unseres Wissens in der Gegenwart nicht hervorgetreten.

Wie auf politischem und sozialem, so stehen sich auch so ziemlich auf allen anderen Gebieten in unserer gärenden Zeit die philosophischen Ansichten und Überzeugungen, oft mit großer Schroffheit, gegenüber. Leider machen sich, entgegen den vorgeschrittenen Tendenzen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, vielfach rückläufige Bestrebungen bemerkbar. So hat auf dem Felde der Naturphilosophie gegenüber dem Standpunkt eines Helmholtz, der es für das Endziel der Naturwissenschaft erklärt hatte, »sich selbst in Mechanik aufzulösen«, und der kritischen Skepsis eines Du Bois-Reymond (S. 270) auf der einen Seite der monistische Materialismus Haeckels (S. 269 f.), auf der anderen ein neu aufgetauchter Vitalismus das Haupt erhoben, der mindestens zur Erklärung der organischen Natur eine besondere »Lebenskraft« für notwendig hält und in einzelnen seiner Vertreter eine religiöse Färbung annimmt. Ihm arbeiten jedoch andere Naturforscher entgegen, wie W. Ostwald mit seiner Lehre von der »Energie«, das heißt »Arbeit und alles, was aus Arbeit entsteht und in sie verwandelt werden kann«, oder W. Roux (Halle) mit seiner »Entwicklungsmechanik«.

Schlimmer ist, daß gegenüber der Vorherrschaft des Denkens, der Vernunft und des zielklaren Wollens, wie sie unsere klassischen Dichter und Denker und später die Wiederbelebung des Kritizismus vor sechzig Jahren von neuem in die Philosophie gebracht, wieder Gefühle aller Art, ja so dunkle Triebkräfte wie die Rasse und das Blut als oberste philosophische Maßstäbe in Anspruch genommen werden. Sei es, daß das Bedürfnis der persönlichen Erfahrung, wie vom englischamerikanischen Pragmatismus, als maßgebend anerkannt, oder, wie von dem Franzosen Bergson – eine keineswegs neue, sondern uns von der romantischen Philosophie her bekannte Weisheit –, an die Stelle der wissenschaftlichen die Methode der »Intuition« (Anschauung) gesetzt, oder daß anstatt der zum »Untergang« reifen Kultur des Abendlandes die morgenländische Weisheit der Russen und noch mehr der Inder und Chinesen als das »Licht aus dem Osten« uns angepriesen wird. Oder daß man gar, aus Verzweiflung über das gegenwärtige geistige Chaos, in längst überwunden geglaubte Theosophie und Mystik aller Art zurückfällt. Wir haben in unserer geschichtlichen Darstellung gezeigt, daß wir für das Berechtigte auch der Romantik, ja sogar der religiösen Mystik, wenn sie so tief aus dem Innern quillt wie die eines Eckhart, volles Verständnis besitzen. Nur darf sie sich nicht als philosophisches Prinzip aufspielen wollen. In diesem Falle halten wir es mit dem scharfen Urteil Goethes über das Klassische als das den Menschen »stark, frisch, froh und gesund«, das Romantische als das ihn »schwach und kränklich« Machende.

Verdienstlich und fruchtbar ist, im Gegensatz zu solchen Abwegen von der Bahn gesunden Denkens, ein anderer, bisher von uns nur flüchtig berührter Zug der Gegenwartsphilosophie: die eifrige Arbeit an den Einzelfächern, Wir verweisen für das Folgende die näher Interessierten wiederum auf unsere zweibändige Geschichte der Philosophie, wo in II, § 78 alle bedeutenderen Forscher mit ihren wichtigsten Werken genannt sind. die seit den letzten fünfzig Jahren, entsprechend der fortschreitenden Arbeitsteilung auf allen Gebieten, auch in der Philosophie in steigendem Maße eingesetzt hat.

So haben unsere Logiker, abgesehen von gewissen fossilen Überresten in einem Teil der katholischen »Philosophie«, längst mit dem alten scholastischen Betrieb aufgeräumt und sich nicht bloß mit den Problemen der formalen Logik, sondern auch mit denen der Erkenntnistheorie und Methodenlehre, der Philosophie überhaupt wie der Einzelwissenschaften beschäftigt; desgleichen ihre Untersuchungen auf die logischen Grundlagen der Mathematik und Physik ausgedehnt, wie andererseits eine Reihe hervorragender Mathematiker und Physiker, darunter auch Engländer und Franzosen, bestrebt gewesen sind, ihre Sonderwissenschaft philosophisch zu begründen.

Besonders häufig ist in den letzten Jahrzehnten auch die Ethik mit ihren Anwendungen auf Rechts-, Staats-, Gesellschafts- und Erziehungswissenschaft behandelt worden, natürlich auch sie von den verschiedensten Standpunkten aus: zum Beispiel dem erkenntniskritischen der Neukantianer oder dem psychologisch-entwicklungsgeschichtlichen, der die Entstehung und Fortbildung der sittlichen Begriffe beim einzelnen wie bei ganzen Völkern untersucht; dem der Wert- oder der Güterlehre usw. In der mit der Soziologie verwandten Geschichtsphilosophie bestreiten sich die kollektivistische und die individualistische, die alte ideengeschichtliche und die neue realistische Auffassung. Und ähnlich verhält es sich in und mit der Ästhetik, der Religions-, der Sprachphilosophie. Von der Naturphilosophie haben wir schon gesprochen.

Vielleicht die hervorragendste Stelle unter den philosophischen Einzelwissenschaften aber hat sich in neuerer Zeit die von uns bisher noch nicht genannte Psychologie errungen, die von vielen ihrer Vertreter sogar als die philosophische Haupt- und Grundwissenschaft betrachtet wird. Seitdem der erst vor kurzer Zeit in hohem Alter gestorbene Wilhelm Wundt in Leipzig gegen Ende der sechziger Jahre, zuerst in Deutschland, ein psychologisches Laboratorium und damit die experimentelle Psychologie ins Leben rief, hat dieser neue Zweig der Naturwissenschaft, der nach Wundt »über die Wechselbeziehungen der subjektiven und objektiven Faktoren der unmittelbaren Erfahrung und über die Entstehung der einzelnen Inhalte der letzteren und ihres Zusammenhangs Rechenschaft gibt«, in unaufhaltsamem Siegeslauf sich ausgebreitet. Heute bestehen nahezu an allen Hochschulen Deutschlands und vielen des Auslandes psychologische Institute; eine Reihe von Zeitschriften widmet sich der Erweiterung und Vertiefung der neuen Wissenschaft, und nationale wie internationale Psychologen-Kongresse haben schon seit 1889 stattgefunden. Was man dabei für eine metaphysische Auffassung von der »Seele« hat, ist nebensächlich. Dieser Name ist dem wissenschaftlichen Psychologen nur ein zusammenfassender Ausdruck für die gesamte in beständigem Flusse befindliche innere Erfahrung; die Wissenschaft von ihr (die Psychologie) untersucht die nämlichen Lebensvorgänge im Menschen (und erweitert auch im Tiere), welche die Physiologie unserer Mediziner von außen, von der körperlichen Seite her betrachtet.

Werden die philosophischen Einzelwissenschaften sach- und fachgemäß betrieben, so können sie nicht bloß ein heilsames Gegengewicht gegen allerlei philosophisch sein sollende Schönrednerei, Gefühlsromantik oder scholastische Abstraktion bilden, sondern auch die unentbehrliche Grundlage bieten, auf der eine haltbare Gesamtanschauung sich erhebt (vergl. S. 3). Nur darf der Philosophierende eben nicht bei ihnen stehen bleiben; sonst liegt die Gefahr des »Alexandrinismus« (weil in dem alten Alexandrien entstanden, vergl. S. 73) nahe, der schon die antike Philosophie mit der Auflösung in eine Anzahl ohne inneren Zusammenhang miteinander stehender gelehrter Fachwissenschaften bedrohte. Das beste Gegenbeispiel hat Wilhelm Wundt selbst geliefert, der, anfangs Physiologe, dann Psychologe, nicht bei seiner Hauptwissenschaft stehenblieb, sondern schließlich ein ganzes System der Philosophie mit einer seiner Meinung nach »die Forderungen des Verstandes und die Bedürfnisse des Gemüts befriedigenden Welt- und Lebensanschauung« schuf. Überspannt man dagegen den fachwissenschaftlichen Einzelbetrieb, so ist ein spekulativer Rückschlag, wie er auch heute wieder sich regt, die notwendige Folge.

Dreierlei muß unserer Meinung nach die Philosophie festhalten, wenn anders sie auch in Zukunft Führerin der Menschheit in geistigen Dingen bleiben oder vielmehr es wieder werden will. Sie muß zu allererst Erkenntniskritik sein, das heißt, ehe sie ein systematisches Lehrgebäude zu errichten unternimmt, zunächst einmal den Grund und Boden, mit anderen Worten Möglichkeit, Grenzen und Geltungswert menschlichen Erkennens prüfen. Mit solcher nüchternen Prüfung hat Sokrates im Altertum, Descartes zu Beginn der Neuzeit und Kant zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Philosophie neu begründet. Und sie muß, wie alle echte Philosophie von Plato über Galilei, Leibniz und Kant bis heute es getan, in engster Beziehung zu den positiven Wissenschaften bleiben, deren oberste Bedingungen und Voraussetzungen sie feststellen soll, damit auch sie selbst endlich, um mit Kant zu reden, aus dem »bloßen Herumtappen« in den »sicheren Gang einer Wissenschaft« gebracht wird. Sie darf keine andere Autorität als das Denken und die Vernunft anerkennen, »des Menschen allerhöchste Kraft«, von der losgelöst man unweigerlich dem Mephisto verfällt.

Sie muß zweitens dem Entwicklungsgedanken auf allen Gebieten Raum geben, wo er seine Fruchtbarkeit beweisen kann: in Natur- wie in Geschichtsphilosophie. Sie folgt damit nur den Spuren, die führende Geister wie der alte Heraklit und Aristoteles, Leibniz und Hegel, Spencer und Marx ihr gewiesen haben.

Aber die Entwicklung muß, wenn anders das ganze Welten- und Menschendasein nicht völlig sinnlos bleiben soll, Entwicklung zu Etwas sein; sie muß von den handelnden Menschen selbst, soweit es an ihnen ist, einem bestimmten Ziel zugelenkt werden. Und dies Ziel kann ihr – das ist das Dritte – nur die Ethik liefern; nicht im alten Sinne der Moralpredigt, sondern als oberste Zielsetzung menschlichen Wollens und Handelns, wie sie der einfachste Mann aus dem Volke versteht. Dies Endziel aber kann kein individuelles, sondern muß ein soziales, die ganze Menschheit umfassendes sein. Es kann nur in einer Gemeinschaft frei wollender Menschen bestehen, die keinen Menschen mehr bloß als Mittel, sondern den elendesten Taglöhner, das ärmste Proletarierkind zugleich als Selbstzweck behandelt, die allen ohne Ausnahme freieste Entfaltung ihres Menschenwesens verbürgt, somit echten Sozialismus mit wahrem Individualismus vereint. Dies Ziel hat uns schon unsere klassische Philosophie in Kant und Fichte verkündet, und die großen Sozialisten des neunzehnten Jahrhunderts haben der Arbeiterschaft den Weg dazu in ihrer Selbstbefreiung und Selbsterhebung gezeigt.

Die Philosophie muß heute aus den Zunftstuben heraus und, wenigstens in ihrem Wesenskern und ihren Grundzielen, zur Sache des ganzen Volkes, das Wort des jungen Marx vom Bündnis der Denkenden und der Leidenden muß endlich zur Wahrheit werden. Der praktische Philosoph, sagt Kant, ist der eigentliche Philosoph, und die Philosophie darf sich nicht mit ihrer theoretischen Aufgabe begnügen, die Welt bloß zu »interpretieren«; es kommt auch darauf an, sie zu verändern (Marx). Mehr als jemals gilt es gerade heute, nach dem Zusammensturz des morsch gewordenen Alten, neues Leben aus den Ruinen erstehen zu lassen. Das kann aber nur dadurch geschehen, daß wir unser klar erkanntes Wollen in die Wirklichkeit zu übersetzen, die Philosophie und das Leben, des einzelnen wie der Gesamtheit, in Einklang miteinander zu bringen trachten. Und in diesem Sinne gilt noch heute, nach mehr als zwei Jahrtausenden, das von uns S. 44 zitierte Wort des größten griechischen Denkers: daß nicht eher die Staaten, ja das ganze Menschengeschlecht Erlösung von seinen Leiden finden werde, als bis entweder die Philosophen in den Staaten zur Regierung gelangt sind, oder die jetzigen sogenannten Machthaber und Könige – oder setzen wir statt dessen mit Kant ein: » königliche, sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende Völker« – wahrhaft und gründlich zu philosophieren gelernt haben.


 << zurück