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Neuntes Kapitel. Immanuel Kant

1. Leben. Philosophische Entwicklung bis 1781

Das äußere Leben von Deutschlands größtem Philosophen entbehrt aller hervorstechenden Ereignisse. Als einfacher Sattlerssohn am 22. April 1724 zu Königsberg geboren, besucht er vom neunten bis siebzehnten Lebensjahr das fromme »Friedrichskolleg«, vom siebzehnten bis zum dreiundzwanzigsten die Universität seiner Vaterstadt, studiert hauptsächlich Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft, wird dann sieben bis acht Jahre lang Hauslehrer in zwei oder drei verschiedenen Gegenden Ostpreußens und läßt sich im Herbst 1755 als Privatdozent der Philosophie an der heimischen Hochschule nieder, um sie nicht wieder zu verlassen. Erst mit 46 Jahren erhält er die ordentliche Professur für »Logik und Metaphysik«, das heißt theoretische Philosophie: erst im 57. Jahr (1781) veröffentlicht er, nach zwölfjähriger Arbeit daran, sein Hauptwerk »Kritik der reinen Vernunft«, erst gegen Ende der achtziger Jahre wird er, zunächst durch seine ethischen Schriften, ein berühmter Mann. 1794 wird ihm von der rückschrittlichen Regierung Friedrich Wilhelms II. das Schreiben über religionsphilosophische Gegenstände verboten, 1796 stellt er seine Vorlesungen, 1798 seine schriftstellerische Tätigkeit ein. In seinen letzten Jahren siecht er langsam an Altersschwäche dahin, von der ihn am 12. Februar 1804 ein sanfter Tod erlöst.

Aber hinter dieser Dürftigkeit äußerer Lebensereignisse steht eine reiche geistige Entwicklung, von der ich hier nur einzelnes andeuten kann, indem ich bezüglich des übrigen auf meine ausführliche Darstellung an verschiedenen anderen Orten verweise. Zur Einführung sei empfohlen: I. Kant und sein Einfluß auf das deutsche Denken. Bielefeld 1921. Kants Leben. Leipzig 1911, 2. Auflage 1921. Kants Weltanschauung aus seinen Werken. Darmstadt 1919. Für eindringenderes Studium meine größere »Geschichte der Philosophie« (6. Auflage 1921), Band 2, Kapitel 9 bis 13, wo man auch weitere Literatur verzeichnet findet. Für die einzelnen Schriften vergleiche die Einleitungen meiner Kant-Ausgabe in der »Philosophischen Bibliothek«.

Gleich seine erste größere Schrift, die infolge eines ärgerlichen Zufalls (Bankrott des Verlegers) zu ihrer Zeit kaum bekannt gewordene »Naturgeschichte und Theorie des Himmels« (1755), behandelt ein hochinteressantes Thema: die Entstehung unseres Weltalls. Als den Urzustand der Welt denkt sich der Philosoph, ähnlich dem alten Anaximander (S. 13), einen noch vollkommen unbestimmten einfachen Urstoff, begabt nur mit den zwei Urkräften Newtons: der Anziehungs- und der »Zurückstoßungs«kraft. Daraus folgt dann von selbst die gesamte weitere Entwicklung. Durch die Anziehungskraft bildeten sich an den Stellen, wo die Elemente zufällig etwas dichter lagen, »Klumpen«, das heißt Zentralkörper, die sich rasch vergrößerten. Durch die Abstoßungskraft jedoch wurden die diesen Mittelpunkten zustrebenden Teilchen von ihrer Bahn abgelenkt, es entstanden Wirbelbewegungen und inmitten dieser gewaltig kreisenden Nebelmasse eine durch die beständige Reibung der Atome in ungeheure Hitze versetzte feurige Kugel: die Sonne. Von dem sie umkreisenden Nebelring splitterten sich dann weitere kleinere Weltkörper ab: die Erde und die übrigen Planeten oder Wandelsterne mit den sie begleitenden Monden oder Trabanten. In einer ganzen Reihe von Jahrmillionen hat sich die Welt zu ihrem heutigen Zustand entwickelt: in wiederum »ganzen Gebirgen von Millionen Jahrhunderten« werden sich immer neue Welten, ja Weltsysteme bilden. Ja, es harren vielleicht noch unendliche uns unbekannte Welträume ihrer Entwicklung. Einst jedoch wird die Umlaufsbewegung der Planeten ermatten; sie werden, die nächsten (darunter unsere Erde) zuerst, in die Sonnenmasse niederstürzen und so einen Weltenbrand herbeiführen, in dem unser ganzes Sonnensystem sich selbst verzehrt: bis einst aus seinen Trümmern, einem Phönix gleich, eine neue Welt entsteht. Noch heute ist Kants Weltentstehungstheorie, die vier Jahrzehnte später, ganz unabhängig von ihm, von dem Franzosen Laplace erneuert wurde, in ihren wesentlichen Stücken Gemeingut der Wissenschaft. Auch zu einer Naturgeschichte der Erde hatte Magister Kant, wie neuerdings sein Nachlaß gezeigt hat, umfangreiche Vorstudien gemacht. Und wenn er auch zu deren Ausarbeitung nicht gekommen ist, so blieb doch sein im Sommer 1756 zum ersten Male von ihm gehaltenes Kolleg über physische Erdkunde eine seiner Lieblingsvorlesungen, die er bis ans Ende seiner Lehrtätigkeit fast allsommerlich gelesen hat.

In philosophischer Beziehung schien er sich zunächst nicht allzu weit von der herrschenden Leibniz-Wolffschen Richtung zu entfernen. Nur daß er von Anfang an bei seinen Zuhörern auf Selbstdenken und auf eigenen Füßen Stehen drang, auch seinen Vortrag mit Geist und Laune würzte. Zu Anfang der sechziger Jahre erfaßte der freiere Zug aus dem Westen auch in Deutschland die aufgeklärteren Köpfe. So haben auch auf Kant, gewiß an sich einen der selbständigsten Denker, die je gelebt haben, die zwei eigenartigsten Philosophen, die wir im vorigen Kapitel kennenlernten, einen bedeutsamen Einfluß geübt: der Franzose Rousseau und der Schotte Hume.

Von Rousseau bekennt eine berühmte Stelle seines Nachlasses geradezu: »Rousseau hat mich zurechtgebracht.« Vorher habe er nur den Erkenntnisdrang, aber auch das Selbstgefühl des Gelehrten gekannt »und den Pöbel verachtet, der von nichts weiß«. Durch Rousseau habe er gelernt, »die Menschen zu ehren« und würde sich »viel unnützer finden als die gemeinen Arbeiter«, wenn nicht eben dieser Gedanke ihn auf die rechte Spur gebracht hätte. Rousseaus Bild war das einzige, das die sonst kahlen Wände seiner Gelehrtenwohnung schmückte: die Lektüre von dessen »Emil« hielt ihn mehrere Tage lang ganz gegen seine Regel von dem gewohnten Nachmittagsspaziergang zurück. Auch auf seine politische Gesinnung sollte der »Contrat social« von Einfluß werden. Überhaupt wendet er sich jetzt, wie einst die griechische Philosophie zu Sokrates' Zeit, von der Naturbetrachtung dem Menschen zu. Seine Schriften seit 1762 bekämpfen »die Spitzfindigkeit der logischen Figuren«, das dogmatische »Geschwätz der hohen Schulen«, die metaphysischen »Luftschlösser«, die spiritistischen »Träume eines Geistersehers – erläutert durch Träume der Metaphysik« (1766). Er schreibt die anmutig plaudernden, auch für Damen lesbaren »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, er wird im Verkehr mit gebildeten Kaufleuten, höheren Offizieren und Damen der Königsberger Gesellschaft der »galante Magister«: leider, ohne für sich selbst eine Frau zu finden. Vor allem aber brachte ihn Rousseau auf die Bahn der Erziehungsreform oder vielmehr, wie er selbst sagt, einer völligen »Revolution« oder »Umschaffung« der bisherigen Pädagogik. Er wirbt um 1777 in Zeitungsartikeln und persönlich für eine der neuen Erziehungsanstalten, das Dessauer »Philanthropin« (Schule für Menschenfreunde). Er empfiehlt auch in seinen pädagogischen Vorlesungen eine natürliche Erziehung, die das freie Menschentum der Vernunft möglichst früh in ihren Zöglingen walten läßt, alles künstlich von außen, zum Beispiel von der Kirche, in sie Hineingetragene solange wie möglich von ihnen fernhält, sie an Freimütigkeit und Fröhlichkeit, Aufrichtigkeit und Selbständigkeit gewöhnt, sie frei sein und doch arbeiten lehrt, sie zum Menschen und Staatsbürger erzieht: alles Aufgaben auch noch für die heutige Zeit!

Zu seinem philosophischen Auftreten, das heißt seinem Kampf gegen die um 1760 in Deutschland noch auf freilich schon wankendem Thron sitzende Metaphysik hatte übrigens, vielleicht noch stärker als Rousseaus Ruf zur »Natur«, die scharfsinnige Skepsis (S. 172) Humes beigetragen, die ihn nach seinem eigenen Bekenntnis »aus dem dogmatischen Schlummer weckte«. Der alles bezweifelnde Skeptizismus konnte freilich für ihn nur ein Durchgangspunkt sein. Er befreite ihn nur von dem »wurmstichig« gewordenen Dogmatismus, das ist der Anmaßung der Vernunft, alle Erkenntnis aus selbsterdachten Begriffen »ohne vorhergehende Kritik ihres eigenen Vermögens« herleiten zu wollen. Er bildete für ihn nur den Übergang zum Kritizismus, der »von der Untersuchung der Vermögen der menschlichen Vernunft anfängt und nicht ins Blaue hinein vernünftelt«.

Nach zwölfjährigem Gedankenringen erscheint im Frühjahr 1781

2. Die Kritik der reinen Vernunft

A. Die Begründung der Wissenschaft

Nur in den allergröbsten Zügen können wir hier ein Bild nicht von dem Inhalt, sondern nur von der allgemeinsten Grundrichtung dieses vielleicht schwierigsten aller philosophischen Bücher entwerfen, während wir den interessierten Leser auf unsere eigene, mit Einleitung und erklärendem Sachregister ausgestattete Ausgabe (Hendel, Halle) verweisen.

Kant fordert von seinen Lesern gleich zu Anfang eine völlige »Revolution«, also Umstellung der »Denkungsart«, die dem naiven Menschen zunächst ganz und gar widerspricht. Die Blume hier, das Haus dort, alle die scheinbaren »Dinge« oder »Gegenstände« da draußen in der Natur: sie sind im Grunde nichts anderes als ein – Bündel von Vorstellungen, zusammengesetzt aus Sinnenwahrnehmungen und Verstandesdenken. Selbst Raum und Zeit, in die wir, wie in ungeheure Behälter, die sogenannten Dinge hineinzu»verlegen« gewohnt sind, sind in Wahrheit nichts als Formen unserer äußeren (der Raum) oder inneren (die Zeit) Anschauung: Formen, die wir keinen Augenblick fortdenken können, sobald wir etwas mit unseren Sinnen wahrnehmen. Aber mit den Sinnen allein würden wir in der Rose dort bloß einen so oder so gefärbten, riechenden, gestalteten, anzufühlenden Gegenstand erblicken. Es muß erst der Verstand hinzukommen, der die sinnliche Anschauung »unter Begriffe bringt«, sie uns »verständlich« macht, in unserem Falle zum Beispiel die Rose unter die Gattung der Blumen bringt usw. Konnte uns ohne Sinn kein Gegenstand »gegeben«, so kann ohne Verstand keiner gedacht werden. Begriffe ohne Anschauungen sind »leer«, Anschauungen ohne Begriffe sind »blind«.

Darum muß die Philosophie nicht bloß die allgemeinsten Bedingungen und notwendigen Voraussetzungen – Kant gebraucht dafür den Ausdruck a priori, das heißt das »von vornherein« Gegebene – unserer Anschauung, sondern auch unseres Denkens feststellen. Die »Kritik« findet sie in den zwölf Ur- oder Stammbegriffen des reinen, das heißt mit unseren Einzelerfahrungen noch nicht vermochten Verstandes, von ihm mit dem altaristotelischen Ausdruck (S. 47) Kategorien genannt. Er teilt sie in die vier Klassen der Qualität (Beschaffenheit), Quantität (Größe), Relation (des Verhältnisses) und der Modalität (Art und Weise). Für uns genügt es, wenn wir uns die Sache kurz an der bekanntesten von ihnen, der Kausalität, klarmachen. Diese oder der Begriff von Ursache und Wirkung bildet eben die unentbehrliche Grundlage alles wissenschaftlichen Begreifens der gesamten uns umgebenden Welt. Stellen wir uns diesen Gedanken recht lebendig vor Augen, so wird uns auch der Satz Kants nicht mehr lange »widersinnisch« erscheinen: »Der Verstand ist selbst der Quell der Naturgesetze« oder »schreibt der Natur die Gesetze vor«.

Auf diese Weise will nun Kant die ganze wissenschaftliche, sittliche und künstlerische Erfahrung der Menschheit erklären, genauer gesagt, ihre Möglichkeit, ihre obersten Bedingungen feststellen. Mit Erfahrung hebt alle unsere Erkenntnis an. Denn »wodurch sollte«, so lautet der erste Satz der »Kritik«, »das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandesfähigkeit in Bewegung setzen ..., den rohen Stoff zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten«, die eben – »Erfahrung heißt«. Auch die Begriffe des reinen Verstandes »dienen gleichsam nur, Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können«.

Aber als wissenschaftliche Erfahrung. Kant will die Philosophie, nach so vielen neugeschaffenen und immer wieder umgestürzten »Systemen«, aus dem bisherigen »bloßen Herumtappen« endlich einmal, wie namentlich die wichtige Vorrede zur zweiten Auflage (1787) ausführt, in den »sicheren Gang einer Wissenschaft« bringen. Deshalb lautet die Grundfrage der kleineren Schrift, die der Philosoph 1783 zur Erläuterung seines fast überall noch unverstandenen Hauptwerks schrieb, der eben deshalb heute noch als geeignetste Einführung zu empfehlenden »Prolegomena« (gleich Vorwort oder Einleitung): Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?

Wissenschaft aber geht nach dem damaligen Sprachgebrauch, und nach ihrem strengsten Sprachgebrauch auch noch heute, auf die sogenannten »exakten« (genauen) Wissenschaften, das heißt das Gebiet des mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkennens. Daher lauten die beiden weiteren Fragen der Prolegomena: Wie ist reine Mathematik, und wie ist reine oder mathematische Naturwissenschaft möglich? Und die Antwort: Durch die von der Kritik der reinen Vernunft festgestellten reinen Formen der Anschauung und die Stammbegriffe (Kategorien) und Grundsätze des reinen Verstandes. So ist die Vorstellung des Raumes nicht bloß die notwendige Voraussetzung unserer Erfahrung überhaupt, sondern auch im besonderen der Geometrie; desgleichen die Zeit diejenige der Arithmetik und, in Verbindung mit dem Raum, der Mechanik. Von den » Grundsätzen des reinen Verstandes« stellen die beiden ersten oder »mathematischen« alle Gegenstände als »extensive«, d. h. ausgedehnte, oder »intensive«, d. h. einen bestimmten Grad bezeichnende Größen dar. Die drei folgenden oder »dynamischen« begründen: 1. die bei allem Wechsel der Erscheinungen in ihrer Menge beharrende Substanz; 2. das allen Veränderungen zugrunde liegende Gesetz von Ursache und Wirkung; 3. die durchgängige Wechselwirkung aller im Raum zugleich wahrgenommenen Substanzen aufeinander. Die drei letzten endlich, »als Postulate«, also Forderungen unseres Erfahrungsdenkens überhaupt bezeichnet, geben in den drei Begriffen der Möglichkeit (heute Hypothese), Wirklichkeit (Tatsache) und Notwendigkeit (Gesetz) die methodischen Wertbestimmungen alles wissenschaftlichen Denkens wieder.

Die Methode, das ist das Verfahren nach Grundsätzen, bildet überhaupt Kern und Stern des Kantischen Philosophierens. Nennt er doch seine »Kritik der reinen Vernunft« in der Vorrede zur zweiten Auflage ausdrücklich einen »Traktat von der Methode« und den zweiten Teil des Werkes: »Methodenlehre« der reinen Vernunft. Wiederholte er doch in seinen Vorlesungen immer wieder: er wolle seine Zuhörer keine fertige Philoso phie, sondern philoso phieren lehren. Wer ein bestimmtes philosophisches Lehrgebäude »gelernt« habe, sei nur ein »Gipsabdruck von einem lebenden Menschen«, habe seine Gedanken bloß anderen »nachgebildet«, anstatt, wie echte Wissenschaft es tut, sie frei »erzeugt«. Man könnte deshalb Kants Philosophie, zum Unterschied von anderen, als wissenschaftlichen oder methodischen Idealismus bezeichnen. Er selbst bezeichnet sie meist als kritischen Idealismus, weshalb sie denn auch von den Zeitgenossen in der Regel mit dem Namen Kritizismus belegt wurde. Die kritische Methode unterscheidet sich sowohl von der formal-logischen, die sich bloß mit den äußeren Formen unseres Denkens beschäftigt, als von der entwicklungsgeschichtlichen, die in Geschichte, Biologie und Psychologie die erste Rolle spielt. Sie fragt nicht danach, wie Erkenntnis entsteht, sondern, ob und warum sie notwendig ist.

B. Die Lehre von den Ideen

Indes die menschliche Vernunft findet sich durch die Begriffe und Grundsätze des reinen Verstandes nicht völlig befriedigt: selbst nicht durch den »höchsten Punkt« des gesamten Erfahrungsdenkens: die ursprüngliche, alles andere Geistige aus sich erzeugende Einheit des Selbstbewußtseins (von Kant die ursprüngliche »synthetische«, das heißt zusammenfassende Einheit der Apperzeption genannt). Sie strebt rastlos von dem Bedingten weiter zu seiner letzten Voraussetzung, dem Unbedingten, hin und findet es in dem Vernunftbegriff oder, wie Kant, die alte platonische Benennung wieder zu Ehren bringend, sagt: der Idee! Die Idee bedeutet, im Gegensatz zu den »konstitutiven« Grundsätzen der Erfahrung, ein bloß »regulatives« Prinzip derselben, einen bloßen Gesichts- oder Zielpunkt unseres Denkens. Durch sie wird uns kein fertiger Begriff gegeben, sondern ein Problem aufgegeben. Machen wir uns das an ihrer Anwendung klar.

Die Lehrbücher der alten Metaphysik, die auch unser Philosoph, den bestehenden Vorschriften gemäß, seinen Vorlesungen noch zugrunde legen mußte, behandelten nacheinander die Lehre vom Seienden überhaupt (Ontologie), von der Seele (Psychologie), von der Welt (Kosmologie) und von Gott (Theologie). Kant zerstört nun im zweiten Teil seines Werkes mit unbarmherziger Dialektik diese Scheinwissenschaften. Er weist zunächst nach, daß die Seele kein für sich bestehendes, womöglich noch dazu stoffliches Wesen ist, sondern nur den »an Inhalt gänzlich leeren« Begriff des »Ich«, als bloßen Trägers unserer Vorstellungen, enthält, im übrigen als Idee uns höchstens das Problem der Einheit aller seelischen Tätigkeiten aufgibt. Ihre Unsterblichkeit ist schon deshalb unbeweisbar, weil der dazu notwendige Begriff der Beharrlichkeit der Erfahrung entstammt, mit der doch unser Tod ein Ende macht.

Auch die Lehre vom Weltganzen führt, ohne vorausgehende Kritik unseres Denkvermögens, zu lauter »Antinomien« (Widersprüchen). Man kann durch »gleich einleuchtende, klare und unwiderstehliche Beweise« ebensogut dartun, daß Raum und Zeit unendlich als daß sie endlich, daß alles in der Welt einfach als daß es teilbar, daß es zufällig wie daß es notwendig sei. Beides läßt sich gerade so gut beweisen als widerlegen, wird aber begreiflich vom Standpunkt der Idee. Nehmen wir als Beispiel die uralte Frage, über die sich noch heute so viele Leute den Kopf zerbrechen: Gibt es Freiheit in der Welt oder allein das eherne Gesetz der Naturnotwendigkeit? Ohne Zweifel sind vom Standpunkt der Naturwissenschaft alle menschlichen Handlungen dem keine Ausnahme duldenden Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen, so daß man, die genaueste Kenntnis von eines Menschen Charakter oder inneren Beweggründen vorausgesetzt, alle seine künftigen Handlungen so unumstößlich vorherberechnen könnte wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis. Wie kommt es, daß wir trotzdem Handlungen, die nach dem unvermeidlichen Laufe der Natur doch geschehen mußten, dem einzelnen als Schuld anrechnen, sie als Verbrechen bestrafen? Nun, weil wir eben in diesem Fall einen anderen Maßstab als den des bloßen Zeitverhältnisses anlegen, nämlich den der Idee: des Verhältnisses jener Handlungen zu »objektiven Vernunftgründen«. Vom Standpunkt des »intelligiblen« oder Vernunftcharakters behaupten wir, daß ein Teil dieser notwendig geschehenen Handlungen nicht hätten geschehen sollen, und erklären umgekehrt Handlungen für moralisch »notwendig«, die nicht geschehen sind und vielleicht auch nie geschehen werden. Damit stehen wir indessen schon an der Eingangspforte der kritischen Ethik (S. 211 ff.).

Nicht anders wie mit der Seelen- und der Welt-, steht es schließlich mit der Gottesidee. Die menschliche Vernunft hat den natürlichen Trieb, ihre Frage nach dem Warum? der Dinge immer höher hinauf bis zu einem »obersten Inbegriff aller Möglichkeit« auszudehnen. Allein anstatt bei einem solchen Inbegriff als einer bloßen Idee oder Richtlinie stehenzubleiben, setzt man ihn zu einem dinglichen Wesen herab, das man verstandesmäßig zu »beweisen« sucht. Kants Kritik legt nun ausführlich die Haltlosigkeit der viele Jahrhunderte lang, von vielen Menschen jetzt noch für unwiderleglich gehaltenen vermeintlichen »Beweise« für das Dasein Gottes dar: sowohl des sogenannten »ontologischen«, der aus dem bloßen Begriff eines höchsten Wesens seine Wirklichkeit folgern will, als des »kosmologischen«, der aus dem Dasein der Welt oder des Endlichen auf ein Unbedingtes, Unendliches ohne weiteres schließen zu können meint; oder des verbreitetsten und einleuchtendsten Beweises: aus der zweckmäßigen Einrichtung der Natur, der übrigens im besten Fall nur einen Weltbaumeister, keinen Weltschöpfer beweisen würde. Ebensowenig freilich, wie sein Dasein, vermag die Wissenschaft auch Gottes Nichtwirklichkeit nachzuweisen. Die wahre Begründung des Gottesglaubens, falls überhaupt eine solche möglich ist, liegt nach Kant auf dem Gebiet der Ethik.

So sind wir bereits von zwei Punkten aus an die Ethik herangeführt worden, müssen vorher jedoch noch auf eine andere Bedeutung der Idee zurückkommen, die auf naturwissenschaftlichem Gebiet liegt und mit dem soeben gestreiften Begriff des Zweckmäßigen in Zusammenhang steht. Ohne das Prinzip der Zweckmäßigkeit läßt sich die Natur, mindestens die lebende Natur, nicht begreifen. Das Organische, die Lebens- und Entwicklungserscheinungen des Individuums gehen in bloßer Mechanik der Atome nicht restlos auf. Selbst ein Newton, meint sein Bewunderer Kant einmal, vermöchte die Erzeugung auch nur eines Grashalms aus rein mechanischen Gesetzen nicht zu erklären. So bedeutet denn auch der biologische Grundbegriff des Organismus: »ein Naturprodukt, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist«. Auch die Unterscheidung von Gattungen und Arten, die Prinzipien der Gleichartigkeit, Mannigfaltigkeit und Stetigkeit, die uns überhaupt erst die Natur als ein geordnetes Ganzes erfassen lassen, gehören hierher. Sie alle sind jedoch nur »regulative Ideen«, Gesichtspunkte der Beurteilung, Weshalb das ganze Thema denn auch in der dritten von Kants Kritiken, der Kritik der Urteilskraft (1790), und zwar deren zweitem Teil: der Kritik der teleologischen (den Zweck betrachtenden) Urteilskraft, abgehandelt wird. nicht der mechanisch-physikalischen Erklärung. Diese letztere soll denn auch durch die Zweckbetrachtung keineswegs verdrängt oder ersetzt werden. Die »mechanische« Erklärungsart, die streng nach der Ursache der Wirkung fragt, muß vielmehr immer die Grundlage bleiben. Die Teleologie ist bloß ein nützlicher Gesichtspunkt für die Fragestellung und Beobachtung des Naturforschers.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Verwandtschaft der Kantischen Anschauung mit den großen Grundgedanken des Darwinismus. Schon in seiner (allerdings anonymen) Besprechung einer Schrift des Italieners Moscati (1771) hatte der Philosoph es auszusprechen gewagt, daß der Mensch einst auf allen vieren gegangen sei und erst später die Gewohnheit angenommen habe, aufrecht zu gehen und »sein Haupt stolz über seine Kameraden zu erheben«. Aber er hat, mehr als das, in § 80 seiner »Kritik der Urteilskraft«, bereits eine »gemeinschaftliche Urmutter« alles Lebendigen und eine allmähliche Entwicklung desselben durch stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur anderen, von der ersten »rohen« Materie über die Moose und Flechten zum Polyp, und von diesem bis zum Menschen als wahrscheinlich angenommen. Die Entstehung der organischen Wesen allerdings leitet er aus Zeugung anderer ab; wie der Urstamm selbst entstanden sei zu erklären, liege über die Grenzen der dem Menschen möglichen Wissenschaft hinaus.

Innerhalb der Naturwissenschaft aber, daran hat Kant stets festgehalten, muß alles »natürlich« erklärt werden. Den Namen Gottes soll man nicht »verschwenden«; »zum Behuf der Naturerklärung brauchen wir ihn nicht«. Gott in die Naturwissenschaft hineinzuziehen, ist vielmehr gleichbedeutend mit dem Geständnis, daß es bei uns mit der letzteren zu Ende sei. Kant ist daher von seiner ersten großen »Naturgeschichte des Himmels« an bis zuletzt stets für reinliche Scheidung zwischen Wissenschaft und Glauben, Naturforschung und Theologie eingetreten; wenn er auch, ebenso wie die freiesten Geister des damaligen Deutschlands: die Lessing, Herder, Schiller und Goethe, von der Weisheit, Fürsorge, Sparsamkeit, Absicht, Wohltätigkeit nicht bloß der »Natur«, sondern bisweilen auch der »Vorsehung« redet. Aber die Wissenschaft von der Natur muß ihren Weg verfolgen, ungehindert von religiösen und auch moralischen Gesichtspunkten. Wiewohl sich die Natur als ein »System von Zwecken« betrachten läßt, so gibt es doch in ihr keinen Endzweck. Ein solcher existiert allein in der Ethik.

3. Die neue Ethik und Religionslehre

A. Die neue Ethik

Wie einst Sokrates, so erstrebt auch Kant eine Neubegründung nicht bloß des Wissens, sondern auch der Sittlichkeit. Nicht »als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrtum gewesen wäre«, wie in unseren Zeiten zuweilen neu auftretende »Umwerter aller Werte« prahlerisch verkündet haben. Vielmehr ertönt nach unserem Philosophen »die Stimme der Vernunft in bezug auf den Willen so deutlich, so unüberschreibar, selbst für den gemeinsten Menschen so vernehmlich«, daß nur die »kopfverwirrenden Spekulationen« der Philosophenschulen »dreist genug sind, sich gegen jene himmlische Stimme taub zu machen«. Aber auf die philosophische Begründung kommt es an. Die neue Ideenlehre mußte erst geschrieben sein, ehe die neue Ethik entstehen konnte. Denn die Idee allein läßt uns »Aufgaben«, läßt uns ein »Unbedingtes«, den Gedanken eines »Sollens« entgegen allem »Sein« erfassen, versetzt uns in eine ganz andere »Ordnung« der Dinge als die der Zeit, in eine ganz neue Gesetzmäßigkeit, die eine andere ist als die mathematische des »Zirkels«. Ein Mensch »mag künsteln, soviel als er will« und sein gesetzwidriges Handeln mit dem »Strom der Naturnotwendigkeit« entschuldigen: er wird gleichwohl in seinem Innern das Bewußtsein einer sittlichen Schuld, den »inneren Gerichtshof« des eigenen Gewissens verspüren und legt darum auch an andere den Maßstab der moralischen Zurechnung an, nimmt sich das Recht zu ihrer Bestrafung. Ein solcher Standpunkt, wie ihn schon Kants Antinomienlehre (siehe oben S. 208) entwickelt hatte, läßt sich allerdings nicht mehr weiter »erklären«, das heißt auf ein Naturgesetz zurückführen, sondern nur noch »verteidigen«.

Um jedoch die Sittlichkeit in ihrer Eigenart und Reinheit zu erkennen, müssen wir aus den Bestimmungsgründen unseres Handelns alles ausschalten, was durch irgendeinen außerhalb ihrer, gelegenen – wie Kant sagt »materialen« – Maßstab beeinflußt ist. So vor allem das Lust- oder Glückseligkeitsgefühl. Mag letzteres noch so geistig aufgefaßt werden, mag es in noch so edlen Wallungen oder erhabenen Schwärmereien seinen Ausdruck finden, mag es sich selbst auf den Willen Gottes berufen: in allen diesen Fällen nimmt es den letzten Maßstab unseres Wollens und Handelns aus etwas anderem als der reinen Sittlichkeit her und taugt deshalb nicht zum obersten Grundsatz einer Ethik. Denn nicht auf Gefühle, das Wandelbarste, was es gibt, läßt sich eine solche bauen, sondern nur auf feste Grundsätze. So kann denn das Grundgesetz des reinen Willens oder das Sittengesetz nur »formal« sein, seinen obersten Maßstab bloß in seiner Eignung zu einer allgemeinen Gesetzgebung suchen. Es lautet daher bei Kant: »Handle so, daß die Maxime (der Grundsatz) deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« So Kants ethisches Hauptwerk, die »Kritik der praktischen (handelnden) Vernunft« (1788). Und in der als leichter verständlich zur ersten Einführung empfehlenswerten »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) heißt es: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter Wille

Dieses anscheinend »formale« oberste Sittengesetz aber birgt den reichsten und tiefsten Inhalt in sich. Der bloße Gedanke einer »allgemeinen Gesetzgebung« soll unser Wollen bestimmen! aller Sonderinhalt von bestimmten Gütern, Tugenden oder Pflichten, wie ihn »die Sittenlehren der bisherigen Philosophen ausmalten, bleibt vorderhand ausgeschlossen. Es soll gelten »jederzeit«, das heißt von Ewigkeit her und in alle Zukunft, solange vernünftige Wesen existieren. »Allgemein« heißt die Gesetzgebung, weil sie alle Vernunftwesen umfaßt und zu einem durch gemeinschaftliche Gesetze verbundenen »Reich der Sitten« vereinigt. »Deines« Willens; denn wir haben uns das Gesetz, dem wir gehorchen sollen, selber gegeben, sind nicht bloß »Untertanen«, sondern gesetzgebende Mitglieder dieses Reiches. Die Idee der uns alle umfassenden Menschheit aber, die der Mensch als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt, wird damit zum Gedanken der Menschheit in mir, das ist der Persönlichkeit.

Endlich verbindet sich diese neue Ethik auch mit dem uns schon bekannten Zweckgedanken. Der erkennende Mensch fragt nach dem Warum?, der wollende oder handelnde nach dem Wozu? der Dinge, mit anderen Worten: er setzt sich Zwecke. Jedes »Wozu?« oder jeder Zweck aber weist wieder auf einen übergeordneten hin, bis wir zuletzt zu einem obersten End- oder Selbstzweck kommen. Nun kann man sich alles andere in der Welt auch als bloßes Mittel zu irgendeinem Zwecke denken; »Zweck an sich selbst« ist bloß der Mensch. Nicht der Mensch schlechtweg – vielleicht ist es gar nicht nötig, daß Menschen existieren –, aber, solange sie existieren, der Mensch als vernünftiges Wesen. So erhält das Sittengesetz jetzt die weitere, noch unmittelbarer zu uns sprechende und die ganze sittliche Begründung des Sozialismus in sich bergende Formulierung: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst

Gegenüber dem Menschen, wie er nun einmal ist, mit allen seinen zum Teil widerstrebenden Gefühlen, kleidet sich das Sittengesetz in die Form des Gebots und, weil es unbedingt (»kategorisch«) befiehlt, in die des kategorischen Imperativs. Da es ferner zur Triebfeder unseres Handelns werden soll, entsteht in unserem Innern das Bewußtsein der Pflicht, die unseren Neigungen oft genug entgegensteht. »Es ist sehr schön,« sagt Kant einmal, »aus Liebe zu Menschen und teilnehmendem Wohlwollen ihnen Gutes zu tun,« indes die erste moralische Maxime (Grundsatz) für unser Verhalten ist nur die Pflicht. Diese Strenge hat dem Philosophen häufig, selbst in den Augen Wohlgesinnter, den Vorwurf des Rigorismus (starrer Härte) zugezogen. Allein sie war gerechtfertigt, wenn und weil er seine Ethik auch in ihrer Anwendung reinhalten mußte vor aller Vermengung mit dem Glückseligkeitsprinzip. Das hat auch Schiller, den man gewöhnlich wegen eines bekannten Epigramms als Kronzeugen wider ihn ins Feld führt, ausdrücklich anerkannt. (Näheres siehe im zweiten Kapitel meines Buches: »Kant, Schiller, Goethe«.)

Kant legt daher auch den größten Wert auf die Einheit des Charakters, worin ihm die Vollkommenheit des Menschen besteht; ja, es ist, scheint ihm, »eher zu ertragen, daß jemand böse in Grundsätzen ist als im Guten inkonsequent«! Tugend bedeutet: moralische Gesinnung im Kampfe. Überhaupt ist seine ganze Sittenlehre von starker Männlichkeit erfüllt. »Werdet nicht der Menschen Knechte!« so ruft noch der dreiundsiebzigjährige Greis in der Tugendlehre, dem ersten Teil seiner »Metaphysik der Sitten« (1797) aus, und: »Laßt euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten!«, denn »wer sich zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, wenn er mit Füßen getreten wird«. Reue und Buße sind ohne Wert; ja selbst »mit Hoffnungen sich zu füttern ist kindisch«. Dagegen ist Arbeit »die beste Art, sein Leben zu genießen«. Und wider die Hypochondrie oder »Grillenkrankheit« hilft die »Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein«, wie er in einer besonderen Abhandlung unter diesem Titel ausgeführt hat, die er 1798 seiner letzten Schrift, dem »Streit der Fakultäten«, einverleibte. Der Wert des Lebens liegt im Tun, nicht im Genießen. Als die größte Pflichtverletzung des Menschen gegen sich selbst, als der »faule Fleck unserer Gattung« erscheint ihm die Lüge. Vollkommene Offenherzigkeit – das heißt die ganze Wahrheit, die man weiß, auch offen vor allen auszusprechen – ist leider in dieser Welt nicht immer möglich; aber Aufrichtigkeit: daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei, verlangt der Philosoph von jedem Menschen und hat auch für seine Person danach gehandelt.

Wir beschließen unsere notgedrungen nur kurze Übersicht über die Kernzüge von Kants Ethik mit dem Gedanken, mit dem er selber sein ethisches Hauptwerk schließt, und dessen Kernworte man denn auch, als die seine Persönlichkeit am besten kennzeichnenden, auf seinen Grabstein gesetzt hat. Zwei Dinge seien es, sagt er zum »Beschluß« seiner »Kritik der praktischen Vernunft«, die das menschliche Gemüt immer aufs neue mit stets zunehmender Ehrfurcht und Bewunderung erfüllen, je mehr wir darüber nachdenken: der bestirnte Himmel über mir, der mir meine Geringfügigkeit als eines sehr vergänglichen Geschöpfs auf einem kleinen Punkt des unermeßlichen Weltalls zum Bewußtsein bringt, und das moralische Gesetz in mir, das mir die trotzdem ins Unendliche gehende Bestimmung meines »unsichtbaren Selbst«, das heißt meiner Persönlichkeit offenbart.

Eigentlich nur einen Anhang zu Kants Ethik bildet seine

B. Religionslehre

Gerade der allzu pietistische Geist des Friedrichskollegs, die Übersättigung mit dem, was als das Zarteste und Feinste in der Seele eines heranwachsenden Knaben und Jünglings gepflegt werden sollte, verbunden vielleicht mit einer angeborenen Verstandeskühle, hat den jungen Kant schon früh von aller Gefühlsreligion entfernt und zum Vertreter einer rein moralischen Religionsauffassung gemacht: »Religion ist das Gesetz in uns, insofern es durch einen Gesetzgeber und Richter über uns Nachdruck erhält.« Alles, was der Mensch außer einem guten Lebenswandel noch »tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden«, ist ein bloßer »Religions wahn und Afterdienst Gottes«, ja ein »Götzen-und Fetischdienst«. So hat denn auch Kant selbst in seinen reiferen Jahren die kirchlichen Gebräuche nicht mehr mitgemacht. Selbst wenn der feierliche Zug der Professoren nach der Wahl des neuen Universitätsrektors, die jedes Semester stattfand, in den Dom ging, pflegte er vorher abzuschwenken; nur als er selber 1786 bezw. 1788 Rektor wurde, konnte er sich der Sitte nicht entziehen. Auf sittliches Handeln, nicht auf das »Glauben und Nachsagen unbegreiflicher Dinge« oder gar auf das Wortemachen kommt es an. Der heutige »statutarische«, das heißt an bestimmte Satzungen sich bindende, bloß historische oder Kirchenglaube muß allmählich in einen reinen Vernunft- oder Religionsglauben übergehen.

Im Grunde kann es nur eine Religion geben, von der die bestehenden Religionsbekenntnisse nur höchst unvollkommene Ausdrücke sind. Von diesem Standpunkt aus sucht seine 1793 erschienene »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« die Hauptlehren der evangelischen Kirche, der er äußerlich angehörte, moralisch auszulegen. So bedeutet ihm »an Christus glauben« nicht: die Erzählungen der Evangelisten über sein Leben als wahr annehmen, sondern das Ideal des »Sohnes Gottes«, »das ist des Gott wohlgefälligen Menschen, durch einen guten Lebenswandel zu verwirklichen suchen. Die »Erlösung« vom Bösen – denn einen uns angeborenen Hang zum Bösen nimmt auch Kant, im Gegensatz zu der »Aufklärung« und auch unseren klassischen Dichtern, an – muß jeder einzelne in sich selbst vollbringen, indem er durch eine »Revolution der Denkungsart«, eine »einzige unwandelbare Entschließung« eine völlige »Wiedergeburt« seines besseren Menschen erlebt. Allerdings nähert er sich darin der kirchlichen Auffassung, daß er meint: Falls der Mensch nach besten Kräften bemüht sei, ein besserer Mensch zu werden, so dürfe er hoffen, »was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden«. Aber Goethes Faust schließt doch auch mit dem Gedanken: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« Im übrigen sind in Kants Augen »Himmel« und »Hölle« bloße Bilder für das Sittlich-Gute und Sittlich-Böse; Taufe, Kirchgang und Abendmahl bloße Sinnbilder der sittlichen Gemeinschaft, die uns mit unseren Nächsten verbindet. Der Wunder- wie überhaupt aller bloß historische Glaube besitzt nicht den mindesten sittlich-religiösen Wert, desgleichen besteht das wahre Beten nicht im Aussprechen von allerlei Wünschen, durch das man auf Gott wirken will, sondern im »Geist des Gebets«, das heißt der sittlichen Gesinnung, die »ohne Unterlaß« unser ganzes Leben begleiten soll.

Den Gottesbegriff hatte schon die »Kritik der reinen Vernunft« (vergl. S. 209) in das Reich der Ideen verwiesen und es höchstens als ein »moralisches Bedürfnis« für uns gelten lassen, uns das Dasein eines Wesens vorzustellen, »unter welchem unsere Sittlichkeit mehr Stärke ... gewinnt«. Die »Kritik der praktischen Vernunft« verstärkt, nicht gerade sehr beweiskräftig, diesen Gedanken dahin, daß sie ihn zusammen mit der Seelenunsterblichkeit und »der Willensfreiheit – übrigens ganz im Geiste der Zeit – als »Postulate« hinstellt, das heißt Sätze, die zwar »theoretisch nicht unerweislich sind, jedoch dem Sittengesetz »unzertrennlich anhängen« sollen. Die Unsterblichkeit wird überdies in demselben Werk einmal nur als »tröstende Hoffnung«, nicht Gewißheit bezeichnet. Und in dem unvollendet gebliebenen Werke seiner letzten Lebensjahre heißt es auch von dem Sein Gottes wieder folgerechter im Sinne des kritischen Idealismus: »Gott ist nicht ein Wesen außer mir, sondern bloß ein Gedanke in mir.«

4. Kants Kunstlehre. Seine Rechts-, Staats- und Geschichtsphilosophie

Als Schiller und Goethe ihre unsterblichen Werke schufen, war Kant zunächst durch die gewaltige Arbeit seiner Neubegründung der Philosophie, später durch sein hohes Alter gehindert, sie voll zu würdigen; er hat in Sachen der Dichtkunst den altväterischen Geschmack seiner Jugend- und Manneszeit beibehalten. Und ebenso stand ihm nur eine höchst mangelhafte Anschauung von Werken der bildenden Kunst und Erzeugnissen der Tonkunst zu Gebote. Trotzdem hat er kraft seines Genies die tiefsten Blicke in das Wesen der Kunst getan. Vor allem hat er ihr eine eigene Provinz des menschlichen Gemüts erobert: das Gefühl. Die Ästhetik oder Philosophie des »Geschmacks« hat es nach ihm mit einem unmittelbaren Wohlgefallen zu tun, das, ohne alles persönliche Interesse und ohne Verstandesbegriffe, aus dem freien Spiel der Phantasie erwächst und gleichwohl Allgemeingültigkeit beansprucht. Die ästhetische Zweckmäßigkeit ist weder auf das Nützliche noch auf das Gute gerichtet, sondern – ein nur scheinbarer Selbstwiderspruch – eine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«. Die ästhetische Idee ist eine Darstellung des Unendlichen, die von keinem Verstandesbegriff, ja von keiner Sprache erreicht werden kann. Sie ist eine Schöpfung des Genies, aus dessen Taten alle echte Kunst ihre Regeln ableitet. Der angeblich so nüchterne Kant preist die Phantasie in seinem Nachlaß einmal als unseren »guten Genius oder Dämon«, als die »Quelle aller unserer entzückendsten Freuden, ingleichen unserer Leiden«.

Das Wesentliche aller Kunst besteht nach ihm nicht in Reiz und Rührung, die, aufs Genießen angelegt, das Gemüt launisch und unzufrieden machen, sondern in der Form, die den Geist zu Ideen stimmt. Das Schöne, von dem ihm das Natur- über das Kunstschöne geht, erhält den Beschauer in ruhiger Betrachtung; das Erhabene dagegen, ob es nun der äußeren Natur oder der menschlichen Seele entspringt, erregt mehr Bewunderung oder gar heiligen Schauer als Lust. Es hat daher mehr Zusammenhang mit moralischen Gefühlen. »Ohne Enthusiasmus ist niemals in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden.« Von den einzelnen Künsten stellt der Philosoph die Dichtkunst am höchsten, weil sie die Phantasie befreie, das Gemüt stärke und erweitere und mit einer Gedankenfülle versehe, die dem wissenschaftlichen Begriff versagt ist. Die Kunst der Töne freilich bewegt, obschon sie durch lauter »Empfindungen ohne Begriffe« zu uns spricht, unsere Seele noch mannigfaltiger und inniger: während die bildenden Künste einen dauernderen Eindruck auf das Gemüt machen. Ewige Muster der schönen Kunst bleiben in seinen Augen die alten Griechen. Zum echten Künstler muß man geboren sein; aber auch die wahre Erziehung zu Kunst besteht einzig in der »vereinigten Kultur aller Gemütskräfte«, das heißt der Humanität (echtem Menschentum).

*

Kant war schon seiner ganzen lauteren und mannhaften Persönlichkeit nach von starkem Rechtsgefühl beseelt. 1771 dichtet er zu Ehren eines gestorbenen juristischen Amtsgenossen den Denkvers:

»Umsonst schwillt das Gehirn von Sprüchen und Gesetzen,
Lernt nicht der Jüngling früh das Recht der Menschen schätzen.«

Und zu Anfang der achtziger Jahre schreibt er: »Rechtskunde ist vor alle Menschen. ... Man soll keine Rechte erfinden, sondern nur dasjenige, was sich jeder denkt, deutlich und bestimmt ausdrücken.« Und zwar ist seine Rechtsauffassung ebenso ideal wie streng. Er verdeutscht den alten Ausspruch: Fiat justitia pereat mundus dahin: »Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zugrunde gehen,« und nennt ihn »einen wackeren, alle durch Arglist oder Gewalt vorgezeichneten krummen Wege abschneidenden Rechtsgrundsatz«. Das Recht muß aller Rücksicht auf Wohlbefinden vorangehen, ist auch im öffentlichen Leben wichtiger als Ordnung und Ruhe. Diese können mit allgemeiner Unterdrückung verbunden sein, während »Unruhen, welche aus der Rechtsbegierde entspringen, vorübergehen«. Auch die Rechts strafe darf ihm zufolge nie als bloßes Mittel zum Zweck, etwa der Besserung oder der Abschreckung, sondern nur als Sühne für das Verbrechen verhängt werden. Darum ist er auch ein Anhänger der Todesstrafe für den Mörder.

Von der Verwaltungsjuristerei und -bureaukratie, die schließlich zur Unterjochung der Vernunft und zum Verzicht auf alles eigene Urteil führt, dagegen in allen Sätteln gerecht ist, hält der Philosoph sehr wenig. Diese Leute tun groß mit ihrer Menschenkenntnis, weil sie mit vielen zu tun haben, »ohne doch den Menschen und was aus ihm gemacht werden kann, zu kennen«.

Aber Recht geht nach Kant nicht bloß über Gütigkeit und Wohltätigkeit, sondern auch vor Gewalt. »Wenn einmal nicht von Recht, sondern nur von der Gewalt die Rede ist, so dürfte auch das Volk die seinige versuchen und alle gesetzliche Verfassung unsicher machen.« Damit kommen wir von Kants »Rechtslehre«, der er 1796 eine besondere Schrift als ersten Teil seiner »Metaphysik der Sitten« gewidmet hat, zu seinen Anschauungen vom

Staat

Am stärksten von seinen politischen Ansichten tritt seine Freiheitsliebe hervor: »Es kann kein Abscheu natürlicher sein, als den ein Mensch gegen die Knechtschaft hat.« »Der Mensch, der abhängt, ... ist nichts als das Zubehör eines anderen Menschen.« Dem üblichen Einwand, die Menschen seien zur Freiheit (der politischen, wirtschaftlichen oder religiösen) »nicht reif«, hält er, nicht mehr ein schwärmender Jüngling, sondern ein welterfahrener und bedächtiger Greis, in seiner »Religion« (1793) den Gedanken entgegen: Zur Freiheit »reifen« könne nur der, welcher zuvor in Freiheit gesetzt worden sei. Darum bekämpft er in seiner »Rechtslehre« alle Standesprivilegien und Herrenrechte. Darum begeisterte er sich für den Freiheitskampf der Nordamerikaner gegen ihre englischen Unterdrücker. Vor allem aber für die große Revolution, die sich seit 1789 in Frankreich vollzog. Und zwar redete er ihr auch dann noch »an den vornehmsten Tafeln das Wort«, als Klopstock und Wieland, Herder und – leider! – auch Schiller, durch den gewaltsamen Gang der Dinge erschreckt, von ihrem anfänglichen Enthusiasmus für die neue Ordnung der Dinge zurückgekommen waren: unbekümmert darum, ob er dadurch in den Geruch eines »Jakobiners« geriet. Wohl zog er an sich den friedlichen Weg der Reformen und der allmählichen Entwicklung gewaltsamem Beginnen vor; aber echte Staatsweisheit werde einmal ausgebrochene Revolutionen »nicht zur Beschönigung einer noch größeren Unterdrückung«, sondern als »Ruf der Natur« benutzen, endlich eine auf Freiheitsgrundsätzen begründete Verfassung, als die einzige Dauer versprechende, zustande zu bringen.

Theoretisch ist also Kant Demokrat, wie er denn auch einmal, ganz wie Rousseau, den »Willen aller« als den »Urquell alles Rechts« bezeichnet. Praktisch begnügte er sich freilich mit der Forderung der parlamentarischen Verfassung. Für einen Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts wahrhaftig schon viel, besonders wenn wir bedenken, daß vor 1789 die einzige parlamentarische Verfassung in Großbritannien und dort, wie gerade Kant schon tadelt, vielfach nur zum Schein bestand. Und wenn er das Stimmrecht nur den bürgerlich Selbständigen gewähren will, alle Bediensteten dagegen und natürlich auch »alles Frauenzimmer« noch davon ausschließt, so folgte er auch damit nur den Spuren der neuen Republik im Westen: so daß der junge Marx mit Recht Kants Staatslehre als »die deutsche Theorie der Französischen Revolution« bezeichnet hat. Im übrigen paart sich mit dieser aufrichtig freiheitsliebenden doch eine strenge, fast konservative Staatsgesinnung. Wie er schon 1784 in seinem berühmten Aufsatz: Was ist Aufklärung? mit dem aufgeklärten Despotismus Friedrichs II. im wesentlichen zufrieden gewesen war, weil er wenigstens den Gebildeten und Gelehrten die Freiheit des Denkens und der Feder einigermaßen sicherte, so erklärt er auch noch in den neunziger Jahren alle Widersetzlichkeit »gegen die oberste gesetzgebende Gewalt«, alle Aufwiegelung zur Rebellion usw. als »das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen«, weil es »dessen Grundfeste zerstört«. Allerdings bedeutet dieser anscheinende Absolutismus bei ihm im Grunde nur die Allgewalt des Gesetzes, während ihm der patriarchalische Despotismus, der die Staatsbürger als Kinder behandelt, der verhaßteste von allen blieb.

Kants Staatsideal ist der durchgebildete Rechtsstaat, der unter anderem auch grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche fordert und dem ersteren das Recht zuspricht, sich des »angemaßten« irdischen Eigentums der letzteren zu bemächtigen, die natürlich von der Religion als innerer Gesinnung sorgfältig unterschieden werden muß. Den Gedanken des Sozialstaats hat er noch nicht gefaßt, wie er denn auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht, unter dem Einfluß von Adam Smith (S. 174 f.), den Grundsatz des freien Spiels der Kräfte vertritt. Eine noch wenig bekannte Stelle seines Nachlasses lautet: »Das Wesen aller Regierung besteht darin, daß ein jeder seine Glückseligkeit selbst besorge und ein jeder die Freiheit habe, in dieser Absicht mit jedem anderen in Verkehr zu treten. Das Amt der Regierung ist nicht, diese Sorge den Privatpersonen abzunehmen, sondern nur die Harmonie derselben zu bewirken.« Doch muß »jedes Glied zu jeder Stufe eines Staates ... gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können«. Darum sieht er auch sein Staatsideal schon in der »Kritik der reinen Vernunft« (1781) in einer »Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann«.

Zu diesem Ideal führt schließlich auch Kants

Geschichtsphilosophie

hin. Er ist kein Historiker und will auch keiner sein; dafür ist sein Interesse viel zu sehr den erkenntniskritisch-philosophischen Fragen zugewandt. Ihn interessiert eigentlich nur das Woher? und das Wozu?, das heißt die ersten Anfänge und das letzte Ziel der Geschichte, beziehungsweise der Weg, den die Menschheit zu letzterem nimmt. Gibt es überhaupt einen solchen Weg in diesem Menschengeschlecht, dessen Charakter »geschäftige Torheit« ist? Und ist hinter dem oft so widersinnigen, uns als reines Possenspiel anmutenden Gange der Dinge überhaupt irgendwelche Regel, irgendeine zweckvolle »Absicht der Natur« zu erkennen? Kant meint trotz alledem in seiner »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) diese Frage bejahen zu können. Ja, er glaubt, trotz seines scharfen Blickes für die Schäden seiner Zeit, an einen Fortschritt der Menschheit als Gattung, und daß alle Naturanlagen eines Geschöpfes bestimmt seien, »sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln«. Die »Natur« bedient sich zu diesem Zwecke jedoch häufig sehr unethischer Mittel. Weit mehr als Zuneigung und Liebe ist es die Not des Kampfes ums Dasein, sind es die eigennützigen Eigenschaften der Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht gewesen, die den Menschen aus der »Rohigkeit« zur Kultur getrieben haben und noch treiben; denn »aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden«. Und wir sind zwar – ein Nachklang von Rousseau – »in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel.« Als das Endziel aber bezeichnet er auch hier die »Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft«, die durch gesetzlichen Zwang gleichwohl die größte Freiheit aller ihrer Glieder bewirkt. Das will sagen: Im Inneren ein Zustand, in dem man nicht mehr Vorteile genießt, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen; im Äußeren »nach vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte« – man denke an heute! – zuletzt trotz alledem doch ein großer Völkerbund.

Dieses Endziel hat der Philosoph in seinem hohen Alter noch einmal hell beleuchtet und begründet in der kleinen Schrift, die man als sein politisches Testament bezeichnen kann: »Zum ewigen Frieden« (1795). Wir können hier weder auf die Einzelheiten der kleinen Schrift, etwa die sechs Vorfriedens- und die drei Definitiv-, also endgültigen Friedensartikel, noch auf Kants Ansichten über Krieg und Frieden überhaupt während seiner verschiedenen Lebensepochen eingehen: das alles findet man, zusammen mit einer ausführlichen Einleitung über die geschichtliche Entwicklung des Friedensgedankens, in meiner Sonderausgabe der Schrift (2. Auflage 1919). Und ebenso, was der Philosoph über die Idee des Völkerbundes gedacht hat, nebst einem Vergleich mit dem durch die »Real«-Politik seiner Verbündeten völlig überwundenen Wilson, in meiner Schrift »Kant und der Gedanke des Völkerbundes« (Leipzig 1919). Sondern es kommt uns hier nur auf den philosophischen Charakter, auf die allgemeine Tendenz seiner Friedensschrift an. »Zum ewigen Frieden« bedeutet für ihn keineswegs einen eingebildeten, etwa bald zu erreichenden immerwährenden Friedenszustand – solche Phantasien oder Prophezeiungen entsprächen ganz und gar nicht dem nüchternen Wirklichkeitssinn und der besonnenen Welterfahrung unseres Denkers –, sondern nur die Tatsache einer »ewig« als solche vor uns stehende Aufgabe, ein beständig uns vorschwebendes Ziel, dem uns mit der Zeit mehr und mehr anzunähern unsere Pflicht ist. Das philosophisch Wichtigste steht in dem Anhang seiner Schrift, der von dem Verhältnis der Politik zur Moral handelt. Er, der gewiegte Menschenkenner, verhehlte sich wahrlich die ungeheuren Schwierigkeiten nicht, die einer moralischen Politik von jeher entgegengestanden haben und immer entgegenstehen werden. Er verfolgte alle politischen Ereignisse seiner Zeit mit regster Teilnahme und überraschte seine Freunde häufig durch den Scharfsinn, mit dem er kommende Ereignisse voraussah. Wenn er trotzdem seine von den »Real«-Politikern, wie er voraussah, »sachleer« gescholtenen Ideen der Welt zu verkünden nicht ermüdet, so besaß er nicht weniger Weltklugheit als jene; aber – dazu noch ein gutes Stück jenes unüberwindlichen Idealismus, der nach Goethe doch »früher oder später den Widerstand der stumpfen Welt besiegt«. Wie denn das letzte Kennzeichen seiner Philosophie überhaupt ein besonnener, aber tiefliegender Idealismus ist. Vergleiche auch meine Charakterschilderung Kants in »Kant als Deutscher« (O. Reichl, Darmstadt 1919).

5. Nächste Wirkungen. Kant und unsere Klassiker

Die »Kritik der reinen Vernunft« wirkte auf die Zeitgenossen zunächst nur verblüffend; niemand wußte aus dem schwer verständlichen Werke etwas zu machen. Erst die populäreren »Prolegomena« (1783) bewirkten einen Umschwung zum Besseren. Auch die von Professor Schütz zu Jena 1785 gegründete »Allgemeine Literaturzeitung« wirkte eifrig im Sinne der neuen Lehre. Vollständig aber wurde der Umschwung erst durch die warm und allgemeinverständlich geschriebenen »Briefe über die Kantische Philosophie«, die K. L. Reinhold in seines Schwiegervaters Wieland »Teutschem Merkur« 1786/87 veröffentlichte. Nach dem Erscheinen der beiden anderen Kritiken (1788 und 1790) erfolgte dann rasch ihre Ausbreitung auf alle deutsche Hochschulen, selbst die süddeutschen und katholischen nicht ausgeschlossen.

Selbstverständlich fehlte es auch nicht an Gegnern. Namentlich seitens der Gefühls- und Glaubensphilosophie, deren Führer bis 1788 der merkwürdige »Magus des Nordens«, Kants Landsmann J. G.  Hamann (1730 bis 1788) war, der alle methodische Philosophie als »Schulfuchserei und leeren Wortkram« befeindete und ihr gegenüber auf die »lebendige Wirklichkeit« der unmittelbaren Empfindung in Sprache, Offenbarung und Tradition hinweisen zu müssen glaubte; während sein und Goethes Freund F. H.  Jacobi (1743 bis 1819) ähnliche Anschauungen in gemäßigterer Form vertrat, ja sich sogar zum Teil auf Kants Scheidung zwischen Wissen und Glauben berief. Auch Herder, der den vorkritischen Kant als seinen Lehrer verehrt hatte, fühlte sich durch die methodische Strenge des Kritizismus abgestoßen, zumal da eine Besprechung Kants die logischen Schwächen seiner im übrigen geistvollen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« scharf hervorgehoben hatte. Der Leibniz-Wolffsche Eklektizismus dagegen und die seichte Popularphilosophie waren seit dem entscheidenden Sieg der neuen Lehre wie mit einem Schlage tot.

Freilich ein Teil der nun allmählich die philosophischen Lehrstühle der deutschen Universitäten einnehmenden »Kantianer« erwiesen sich als allzu unselbständige Schüler des Meisters, über die Schiller spottete:

»Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung
Setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.«

Aber andere, vor allem Friedrich Schiller selbst, hatten die Kantische Denkweise um so tiefer in sich aufgenommen, wenn sie sie auch in selbständiger Weise weiterbildeten. Mehr als Kants theoretische Philosophie lag dem Dichter-Philosophen die Ethik und Ästhetik am Herzen. Die Strenge und Reinheit der kritischen Ethik hat er übrigens, entgegen dem, was darüber im Anschluß an seinen bekannten Sinnspruch über den Gegensatz von Pflicht und Neigung in den Philosophie- und Literaturgeschichten häufig zu lesen steht, in ihrer methodischen Notwendigkeit durchaus anerkannt. Auch nach ihm würde eine ästhetische oder Gefühlsmoral die Sittlichkeit »in ihren Quellen vergiften«, und entspringt das bloße Glückseligkeitsstreben einem Ideal der – Begierde, das die »Tierheit« in uns hervorbringt. Aber er hat die Kantische Ethik durch seine Ästhetik bereichert und ergänzt. Auch für ihn steht neben den Gebieten des Erkennens und der Sittlichkeit die neue Welt der Kunst, die aus dem »freien Spiel« der beiden anderen im Gemüt entspringt. Zu dem »physischen« Zustand des Menschen, in dem er die Macht der Natur »erleidet«, und dem »moralischen«, in dem er ihr überlegen ist, fügt Schiller als dritten den »ästhetischen«, in dem er sich ihrer »entledigt« dadurch, daß er die Gegensätze Natur–Sittlichkeit, Leiden– Tätigkeit, Stoff–Form in die Harmonie der Kunst auslöst. Darum ist ästhetische Bildung als Erzieherin zu wahrer Vollendung der Sittlichkeit notwendig. Vergleiche Schillers philosophische Abhandlungen (in der Philosophischen Bibliothek in Auswahl herausgegeben von E. Kühnemann) und Gedichte. Näheres über das Verhältnis Schillers und Goethes zu Kant siehe in meinem Buche: Kant, Schiller, Goethe. Leipzig 1907.

Durch seinen 1794 geschlossenen Freundschaftsbund mit Schiller ist auch Goethe, der bis dahin seine philosophische Nahrung hauptsächlich aus Herder und Spinoza gezogen hatte, der Kantischen Philosophie nähergeführt worden. Schon seit 1790 hatte er sich durch den ästhetischen wie dem naturphilosophischen Teil der »Kritik der Urteilskraft« (S. 210 f., 217 f.) lebhaft angeregt, ja sie »seinem bisherigen Schaffen, Tun und Denken ganz analog (entsprechend)« gefunden. Von nun an trat er ihr noch näher; und wenn auch seine »anschauende« Künstlernatur sich dem Trennen und Zergliedern der Philosophie nie völlig in dem Maße wie Schiller hinzugeben vermochte, so hat er doch der kritischen Philosophie, die ihn »auf sich selbst aufmerksam machte«, auf ihren verschiedenen Gebieten bis an sein Ende verehrende Dankbarkeit bezeigt.

Auch Wilhelm v. Humboldt, der berühmte Sprachphilosoph und Staatsmann, dessen politische Erstlingsschrift »Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen« (1792) einen folgerechten Individualismus verkündet, hat unter dem Einfluß Kants gestanden; wie denn überhaupt die Männer der preußischen Reformzeit, die nur allzubald von der reaktionären Welle wieder überflutet wurde, allesamt von dem sittlichen Geist und der hinreißenden Kraft der Kantischen Ethik ergriffen waren: »die Welt ist das, wozu wir sie machen«.

Gerade dieser erhebende sittliche Zug des Königsberger Denkers war es, der die Gemüter packte; übrigens auch in der Rechtswissenschaft und noch mehr in der Theologie der Zeit kräftige Spuren hinterließ. In der evangelischen Kirche ist sogar der von Kant ausgehende Nationalismus, der die Vernunft zum obersten Maßstab auch in Religionssachen erklärt, beinahe ein halbes Jahrhundert lang die vorherrschende Richtung geblieben, während er mit dem Geist der römischen Kirche, in die er anfangs auch eingedrungen war, auf die Dauer als unversöhnbar sich erwies. Hat man doch von jener Seite her noch 1914 in Kants »Subjektivismus« den »intellektuellen Urheber« des Mordes von Serajewo und noch vor kurzem, in den Ausschußverhandlungen der Preußischen Landesversammlung von 1920, des russischen Bolschewismus erblicken wollen! Um so sicherer können sich diejenigen allezeit auf Kant berufen, die, keine irdische Autorität anerkennend, allein in dem eigenen Gewissen die oberste Richtschnur ihres Handelns sehen.

Auch bedeutende Historiker wie Niebuhr und Schlosser, Naturforscher wie der Begründer der modernen Physiologie Johannes Müller und andere haben starke Eindrücke von Kant empfangen. Desgleichen bauten Philosophen wie der freisinnige Jenaer Professor Fries (1773 bis 1843), der 1817 wegen seiner Beteiligung am Wartburgfest der deutschen Burschenschaft für längere Zeit seines Amtes entsetzt wurde, und dessen Philosophie seit 1904 eine Wiederauferstehung in der neuen »Friesschen Schule« in Göttingen erlebt hat, auf seinem Grunde weiter.

Allein gerade auf philosophischem Felde setzte doch bereits zu Kants Lebzeiten, während er altersschwach dem Tode zusiechte, eine Entwicklung ein, die, von seiner behutsamen kritischen Methode nicht befriedigt, neue abweichende Bahnen einschlug. Wie im allgemeinen Geistesleben, in Religion, Literatur und Kunst um die Wende des Jahrhunderts der Klassizismus sein Zepter an die Romantik abtritt, so auch in der Philosophie.


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