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Erster Teil

Die Philosophie des Altertums
und des Mittelalters

A. Die griechische Philosophie

Erstes Kapitel. Die Zeit vor Sokrates

1. Entstehung der griechischen Philosophie

Mancher sich für besonders »modern« haltende Leser wird vielleicht, wenn er die Überschrift dieses ersten Teiles liest, bei sich denken: Was soll uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts eine so ausführliche Beschäftigung mit den alten Griechen, die vor zweiundeinhalb Jahrtausenden gelebt haben, deren Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse, deren Sprache, deren ganze Kultur so völlig andersartig gewesen ist? Freilich für den, der alle Werte dieser Erde am liebsten in Mark und Pfennig umwandeln möchte, haben sie keine Bedeutung. Wohl aber für den, dem geistige Kultur, Kunst, Wissenschaft noch einen unschätzbaren Wert darstellt. Vor allem gerade für die Philosophie hat Altgriechenland eine hervorragende, ja geradezu ausschlaggebende Bedeutung, weil griechisches Denken bereits sämtliche oder doch nahezu sämtliche große, die Menschheit und darum auch noch die Gegenwart bewegende philosophische Probleme in einfachster, für jeden gebildeten Menschen auch heute noch verständlicher Form behandelt, uns sozusagen vorgedacht hat. Alle die philosophischen Richtungen und Einzelwissenschaften, die wir im Verlauf unserer Philosophiegeschichte noch kennenlernen wollen: Idealismus und Materialismus, Dogmatismus und Skeptizismus, Nationalismus und Mystizismus, oder: Naturphilosophie und Ethik, Psychologie und Logik, mechanische und teleologische Naturauffassung, Geschichts- und Religionsphilosophie, haben Ursprung und Pflege auf altgriechischem und später, von dort verpflanzt, auf dem Boden des römischen Weltreichs gefunden.

Mit welchem von diesen Zweigen der Philosophie beginnt nun das erste selbständige Denken der griechischen Wissenschaft? Nun, es geht mit der geistigen Entwicklung der ganzen Menschheit ähnlich zu wie mit der geistigen Entwicklung des Individuums (Einzelmenschen). Wie die Aufmerksamkeit des Kindes oder des Naturmenschen, so richtet sich auch das Nachdenken der Philosophie naturgemäß zunächst auf die Erklärung der uns umgebenden äußeren Natur. Mit anderen Worten: sie ist zuerst Naturphilosophie.

Aber eben Natur philosophie, nicht mehr religiöse oder theologische Naturbetrachtung. Gewiß, das erste Nachsinnen über die Rätsel des äußeren Daseins, über das »Wohin?« und »Wozu?« der Welt führt überall zuerst zu religiösen, und zwar kindlich-naiven Vorstellungen. Man stellte sich beispielsweise Sonne, Mond und Sterne, das Meer, das Erdinnere (die »Unterwelt«) als gelenkt und regiert von besonderen »göttlichen« Wesen vor; man erfand eine förmliche Welt von Gottheiten und Halbgottheiten und eine Sagenwelt (Mythologie), die von ihnen kündete. Höchstens daß man sie dann einer obersten Gottheit unterordnete, wie die Inder ihrem Brahma, die Israeliten, die schon besonders früh einen einzigen Nationalgott verehrten, ihrem Jehova oder Jahve, die Babylonier ihrem Baal, die Ägypter ihrem Sonnengott Ra-Ammon, die Griechen ihrem Zeus. Aber mit der Aufwärtsentwicklung des menschlichen Denkens konnte der Glaube an diese mannigfaltige Götterwelt nicht erhalten bleiben. Mochte damit noch so viele schöne Poesie, noch so viele wunderbar herrliche Gestaltung in Erz und Marmor zugrunde gehen, wie Schiller es in seinen »Göttern Griechenlands« so unnachahmlich schön besungen hat, so mußte doch an die Stelle des Gottes Helios, der »seinen Sonnenwagen in stiller Majestät lenkte«, der »seelenlos sich drehende Feuerball« der nüchternen wissenschaftlichen Wahrheit treten.

Eine Zwischenstufe zwischen beiden bildet in Altgriechenland, zeitlich wie sachlich, das Denken der sogenannten »Orphiker«, so benannt nach ihrem angeblichen Ahnherrn, dem sagenhaften nordgriechischen königlichen Sänger Orpheus, deren geheimnisvolle Weisheit noch bis lange in die Blütezeit von Hellas (Altgriechenland) hinein in phantastischen Geheimdiensten (»Mysterien«) sich fortpflanzte. Ihre Gedanken beschäftigten sich, statt des Volksglaubens an die heitere Welt der angeblich auf dem höchsten Berge Griechenlands, dem Olymp, thronenden Götter und Göttinnen, mit der Herleitung alles Gewordenen aus einem Urgrund, als den sie irgendein Unentwickeltes, die einen die Nacht, die anderen den die Erde umwölbenden Himmel, wieder andere den sie umgebenden Vater Okeanos (Ozean), die meisten ein wirres Durcheinander, das »Chaos« – ähnlich dem »Tohuwabohu« der ersten Verse des ersten Kapitels Mose – betrachteten: aus dem dann der ordnende Zeus und seine Geschwister zuerst ein naturgesetzlich geordnetes Weltall schaffen, nachdem sie die unter dem Sinnbild von überstarken Riesengeschlechtern (Giganten und Titanen) versinnbildlichten ungebändigten Naturkräfte gebändigt haben, ähnlich wie die nordischen »Asen« zunächst die urgewaltigen Eis-und Frostriesen bezwingen müssen.

Mit dieser Richtung altgriechischer Weisheit hat die beginnende Philosophie der Griechen wohl den Gegenstand ihrer Forschung gemein. Auch sie fragt nach dem Uranfang alles Gewordenen. Allein sie fragt danach nicht mehr in der Form religiösen, sondern wissenschaftlichen Denkens. Der Augenblick, wo dies geschieht, ist die Geburtsstunde der griechischen Philosophie.

Ihre Wiege stand nicht in dem unseren Lesern als Stätte höchster hellenischer Kulturblüte bekannten Athen, sondern auf der anderen Seite des griechischen Inselmeers, in Kleinasien. Karl Marx hat zuerst der Ansicht in weiteren Kreisen zum Durchbruch verholfen, daß die wirtschaftliche Entwicklung der Völker von durchschlagendem Einfluß auch auf den geistigen Inhalt von bestimmten Geschichtsperioden ist. Nun hatte sich aber früher als im Mutterland in den Kolonien der alten Griechen, das heißt an den kleinasiatischen, unteritalischen, thrazisch-mazedonischen Küsten des Mittelmeers, ein blühender Handel und in seinem Gefolge eine rege, nicht bloß wirtschaftliche, sondern auch politische, wissenschaftliche und künstlerische Kultur entwickelt, neben der freilich auch manche sittliche Schädigung, wie sie übermächtig werdender Kapitalismus mit sich zu bringen pflegt, einherging. Namentlich unter dem geistig besonders regsamen jonischen Stamm, der sich an der Westküste Kleinasiens und den ihr benachbarten Inseln angesiedelt hatte. Hier sind Homers Gesänge zuerst erklungen, hier fand auch die griechische Lyrik (Liederdichtung) ihre frühesten Vertreter, hier entstanden die ersten großen Werke der bildenden Kunst, wie der berühmte Tempel der Göttin Artemis zu Ephesus, hier die Anfänge der Geschichtschreibung. So befindet sich denn hier auch die Geburtsstätte griechischer Philosophie. Denn auch die positiven Wissenschaften hatten hier ihre erste Pflege auf hellenischem Boden gefunden. Bei den ausgedehnten Handelsfahrten der Koloniegriechen zu Wasser und zu Lande hatte sich auch in kultureller Beziehung ein reger Austausch mit den Kulturvölkern des nahen Morgenlandes: den Phöniziern, Ägyptern und Chaldäern (in Babylonien und Assyrien) angebahnt, denen sie sicher in Völkerkunde, Arithmetik, Geometrie und Astronomie vieles verdankt haben. Die ersten Philosophen sind zugleich Mathematiker und Astronomen und zum Teil auch – Politiker gewesen.

Die bedeutendste aller griechischen Pflanzstädte aber an der von der Natur in jeder Weise begünstigten Westküste Kleinasiens war das reiche Milet, die Mutter von angeblich nicht weniger als achtzig blühenden Tochterstädten an den Gestaden des Mittel- und Schwarzen Meeres. Die erste Philosophie der Griechen ist:

2. Die milesische oder jonische Naturphilosophie
(das Problem des Urstoffs)

Als »Urheber« der Philosophie wird von dem drei Jahrhunderte später lebenden Aristoteles, dem wir die zuverlässigsten Nachrichten über diese ihre Anfänge verdanken, der Milesier Thales (um 624 bis 545 v. Chr.) bezeichnet, ein Mann von vornehmem Geschlecht, der in der Mathematik und in der Astronomie so bewandert war, daß er eine Sonnenfinsternis, wahrscheinlich die von 585, richtig voraussagte. Er erdenkt zuerst einen stofflichen Urgrund aller Dinge, und zwar das Wasser. War doch für diese Küsten- und Inselgriechen das Meer das alles belebende Element, dessen Inneres ja auch voll von Leben ist; schwamm doch die Erde nach ihrer Meinung auf dem Wasser, und ist doch der Same alles Lebendigen feucht. – Dagegen sah sein ein Menschenalter später (588 bis 524) lebender Landsmann Anaxímenes die Luft als den Urstoff an, sie, das beweglichste und unbegrenzteste der Elemente, das zugleich als Atem Anfang und Ende alles tierischen Lebens darstellt. Aus ihrer Verdünnung ging ihm zufolge das Feuer, aus ihrer Verdichtung oder Zusammenziehung Winde, Wolken, Wasser und Erde hervor. – So war es denn von selbst gegeben, daß ein dritter Denker, der uns später noch besonders beschäftigen wird, Heraklít aus Ephesus (535 bis 475), das Feuer als Urelement annahm. Aus Feuer ist das Weltall einstmals geworden, in Feuer wird es sich dereinst auch wieder auflösen, um daraus in neuer Läuterung wieder hervorzugehen, eine Lehre, die wir uns durchaus verständlich machen können, wenn wir für das »Urfeuer« den Feuerball des Sonnensystems einsetzen.

Einen gewissen Fortschritt stellt der zwischen Thales und Anaximenes lebende Anaximánder insofern dar, als er nicht mehr wie diese einen bestimmten, mit den Sinnen wahrnehmbaren Stoff, sondern ein unbestimmtes, bloß gedachtes Etwas, das er das »Unendliche« oder »Unbegrenzte« nannte, und das möglicherweise auch bloß das noch völlig Unbestimmte, Gestaltlose bedeutet, als den Urgrund aller Dinge bezeichnet.

Nun sind aber sicherlich alle diese Denker nicht bei der bloßen Aufstellung eines solchen Urstoffs stehengeblieben, sondern haben auch seine Weiterentwicklung verfolgt. Das sehen wir an den leider nur ganz geringen Bruchstücken, die uns von der Lehre Anaximanders zufällig erhalten geblieben sind. Danach gingen aus seinem unbestimmten »Unendlichen« zunächst das Kalte und das Warme, aus ihnen das Flüssige, aus diesem durch Austrocknen die Erde, sodann die Luft und eine beide umgebende Feuerkugel (also die uns von Kindheit an geläufigen »vier Elemente«) hervor. Aus diesem Feuermeer lösten sich dann durch Bersten und Ringbildungen Sonne, Mond und Sterne los, während aus dem Urschlamm der walzenartig gestalteten Erde zuerst sehr unvollkommene, dann fischartige Lebewesen, darauf, entsprechend der zunehmenden Trockenwerdung der Erde, Landtiere, endlich – in sehr allmählicher Entwicklung – Menschen entstanden. Wie der Leser sieht, eine phantasievolle Hypothese (Annahme), welche in gewissem Sinne Kant-Laplaces Weltentstehung und Darwins Abstammungslehre schon vorausnimmt. Und wie in die urferne Vergangenheit, so richtete sich der Blick unseres Ioniers auch in eine ferne Zukunft des Weltalls. Der einzige wörtlich erhaltene Satz aus seiner Schrift »Über die Natur« lautet: »Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach ihrem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld (ihres Daseins) nach der Ordnung der Zeit.« In ewigem Wechsel folgen einander unzählige neuentstehende und wieder vergehende Welten.

3. Erstes Auftauchen von geistigen Prinzipien:
Werden und Sein. Die Zahl

a) Heraklit und das Werden

Einen sehr wesentlichen Fortschritt vollzieht dann der schon vorhin genannte Heraklit, indem er zum ersten Male an die Stelle des bisherigen bloß stofflichen (lateinisch konkreten, das heißt wörtlich »zusammengewachsen«) ein zwar vom Stoff noch nicht völlig losgelöstes, aber doch geistigeres, abstraktes (gleich von den Sinnen »abgezogenes«) Prinzip oder leitenden Grundsatz aufstellt. Es gibt, lehrte der Weise von Ephesus, nichts Festes und Beharrliches in der Welt. Panta rei (wörtlich: »alles fließt«): Alle Dinge sind in stetem Flusse, in ewigem Wechsel und Werden begriffen. »Nicht zweimal«, so lautet ein von ihm gern gebrauchtes Gleichnis, »können wir in denselben Fluß hineinsteigen, denn neue und immer neue Gewässer strömen ihm zu.« Der Kosmos, das heißt die geordnete Welt, gleicht einem fortwährend umgerührten Mischtrank. Und zwar vollzieht sich dieser beständige Werdeprozeß mit Vorliebe in Gegensätzen: Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Mischung und Trennung, Entstehen und Vergehen, Hohes und Tiefes, selbst Gutes und Böses; es ist im Grunde alles dasselbe, nämlich nur eine verschiedene Form des gleichen Prozesses. »Streit ist der Vater aller Dinge.« Gegensatz erzeugt Einheit.

Heraklit ist ein tiefsinniger Denker, der etwas von Goethes Faust an sich hat. »Ich erforschte mich selbst,« erklärte er einmal mit stolzem Selbstgefühl, im Gegensatz zu den »Vielwissern« und dem »Unverstand« der Menge. Seine Sprache – es sind immerhin über 120 Fragmente (Bruchstücke) aus seinen Schriften erhalten – ist bilderreich, manchmal fast orakelhaft, so daß er bereits im Altertum den Beinamen »der Dunkle« erhielt, und Sokrates sagte, es bedürfe eines »delischen«, das heißt vorzüglichen Tauchers, um bei Heraklit auf den Grund zu kommen. Der »Menge« stand er auch politisch gegnerisch gegenüber. »Augen und Ohren sind schlechte Zeugen der Wahrheit, wenn sie ungebildeten Seelen angehören.« Deshalb müssen Strafen da sein, um sie im Zaume zu halten. Aber auch wider die damals in den griechischen Stadtstaaten vielfach aufkommende »Tyrannis«, das heißt Gewaltherrschaft einzelner, streitet er: »Überhebung muß man löschen gleich einer Feuersbrunst« und: »Für das Gesetz muß das Volk kämpfen wie für eine Mauer.« An eine über allem waltende Weltvernunft, wie manche meinen, hat er schwerlich geglaubt. Vergleicht er doch einmal die Ewigkeit mit einem »brettspielenden Knaben«, der die Steine aufbaut und wieder zusammenwirft. »Sein eigener Sinn ist des Menschen Dämon,« das heißt sein Charakter ist sein Schicksal.

Es ist begreiflich, daß ein so tiefsinniger und eigenartiger Denker wie Heraklit »der Dunkle« von Ephesus von jeher tiefere Naturen angezogen hat, wie schon im Altertum Plato und die Stoiker und in der Neuzeit so entgegengesetzte Denker wie den gemütstiefen Theologen Schleiermacher und die verstandesscharfe und zugleich leidenschaftliche Kämpfernatur Ferdinand Lassalles, der ein zweibändiges Werk über ihn veröffentlicht hat (1858).

b) Die Eleaten und das Sein

Durch Heraklit war der anscheinend feste Bestand aller Dinge in ein ewiges Werden aufgelöst worden. Die ergänzende Gegenlehre dazu haben die Eleaten aufgestellt, so genannt nach der auf Griechenlands andrer Seite, in Unteritalien gelegenen Stadt Elea, einer jener Kolonien, die als »Großgriechenland« in blühendem Kranze die Küsten Süditaliens und Siziliens umsäumten.

Ein Vorläufer der strengeren eleatischen Philosophie ist der wandernde Sänger Xenóphanes (um 570 bis 480), aus dem kleinasiatischen, durch sein Harz bekannten Kolophon gebürtig, der nach einem jahrzehntelangen Wanderleben sein müdes Haupt in Elea zur Ruhe legte. Xenophanes ist weniger Naturforscher als Poet. Als solcher zeigt er einige auffallend unhellenische Züge. Erhaltene Verse warnen vor Überschätzung der Körperkraft, ja schätzen selbst den Siegespreis eines Wettkämpfers von Olympia gering. Er verwirft die ganze griechische Sagenwelt einschließlich Homers, weil sie den Göttern menschliche Laster wie Diebstahl, Betrug und Ehebruch andichte. Ja, er zeigt sogar, ganz im Widerspruch zu der plastischen Schöpferkraft griechischer Bildhauer, Abneigung gegen deren bildliche Darstellung und sagt einmal geringschätzig: Rinder und Löwen würden, falls sie Hände hätten, ihre Götter in Rinds- und Löwengestalt bilden. Der Vielgötterei (Polytheismus) des Volksglaubens stellt Xenophanes die Lehre von einem höchsten Gott (Monotheismus) entgegen, »der weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich ist noch an Gedanken«, »ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr«, völlig unbeweglich und unwandelbar ein und derselbe bleibend, » Eines und Alles«. Seine Gottheit ist also im Grunde einerlei mit dem Weltall, das selbst eine gewaltige Einheit bildet, seine Weltanschauung demnach Pantheismus (von pan: alles und theos: Gott).

Dieser Pantheismus erhielt eine strengere philosophische Begründung erst bei Xenophanes' Schüler Parménides (geb. 540 oder 515) aus Elea, der schon im Altertum seiner Denkergröße und seiner sittlichen Hoheit wegen in hohem Ansehen stand. Zur Wahrheit führen ihm zufolge nicht die Sinne, die uns eine Vielheit beständig sich verändernder Dinge vorspiegeln, sondern nur das reine Denken, das uns zu der Erkenntnis bringt: daß nur das Seiende ist, daß es dagegen ein Nichtseiendes, mithin auch ein Werden nicht geben kann. Nur ein Seiendes vielmehr kann gedacht werden; ja »dasselbe ist Denken und Sein«. Das reine Sein ist ewig, ungeworden, unbeweglich, unzerstörbar, unteilbar, allgegenwärtig, unendlich, überall sich selbst gleich. Anscheinend in einem gewissen Widerspruch hiermit nahm er dann doch für die Welt der Erscheinungen zwei Urstoffe: einen lichten, leichten, feurigen und einen dunklen, schweren, erdhaften an: der erste das wirkende, der zweite das leidende Prinzip. Auch die menschliche Seele ist aus beiden gemischt.

Von Parmenides' Nachfolger ging sein Lieblingsschüler Zenon (um 490 bis 430) so weit, daß er mit dem Dasein des Vielen auch die Möglichkeit der Bewegung in scharfsinnigen Erörterungen bestritt und zum Beispiel die verblüffende Behauptung aufstellte: der fliegende Pfeil ruhe, weil er in jedem Augenblick nur in einem und demselben Raume sei, in Wahrheit während der ganzen Dauer seiner Bewegung.

Beide Richtungen, die des Heraklit und seiner Jünger (von denen Krátylus folgerichtig behauptete, auch nicht einmal steige man in denselben Fluß hinab) und die der Eleaten sind fruchtbar geworben für die Folgezeit. In dem ewigen »Werden« des ersteren ist das gesamte entwicklungsgeschichtliche Denken im Keim eingeschlossen, während die Männer von Elea mit ihrer Betonung des beharrenden Seins den »ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht« (Schiller) aufdecken und so die Urheber des Gedankens der Substanz, an der sich die Veränderungen vollziehen, geworden sind.

c) Die Pythagoreer und die Zahl

Ob Parmenides mit seinem kühnen Satze von der Einerleiheit (Identität) von Denken und Sein bereits, wie manche meinen, an ein anderes als das bloß körperliche Dasein gedacht hat? Wir wissen es nicht, dürfen jedenfalls die altgriechischen Denker nicht ohne weiteres mit unserem Maßstab messen. Sicher aber haben gleichzeitig mit ihm schon andere den Gedanken eines unkörperlichen Seins in die Philosophie eingeführt, nämlich die Pythagoreer den Begriff der Zahl.

Die Gestalt des weisen Pythagoras selber, der in reiferem Mannesalter um 535 von der Insel Samos in das unteritalische Kroton einwanderte, ist früh von Sagen umwoben worden. Mit Sicherheit wissen wir nur, daß er dort eine sittlich-religiöse Vereinigung, eine Art Freundschaftsorden gründete, der im Anschluß an die ernstere dorische Stammesart auf Einfachheit, Mäßigkeit, Abhärtung, Selbstbeherrschung und Treue gegen Götter, Eltern, das Gesetz drang und zu täglicher Selbstprüfung aufforderte, auch an eine Seelenwanderung und Vergeltung nach dem Tod glaubte. Die Freundestreue der Pythagoreer (vgl. Schillers »Bürgschaft«) ist sprichwörtlich geworden. Dagegen läßt sich von ihrem Mahnsatz: »Den Freunden ist alles gemeinsam« noch keineswegs, wie manche es angenommen, auf Sozialismus schließen, außer auf einen solchen, der allen Ordens- und Klostergemeinschaften eigen ist. Im Gegenteil, der Pythagoreische Bund, der sich bald auf eine Reihe unteritalischer Griechenstädte ausdehnte und in ihnen längere Zeit großen Einfluß gewann, trug, wie die meisten dorischen Ansiedlungen, einen ausgesprochen aristokratischen Charakter, geriet mit der Volkspartei in heftige Kämpfe und wurde schließlich um die Mitte des fünften Jahrhunderts von dieser zersprengt. Von den nach dem Mutterland Geflüchteten ließ sich Philolaos in Theben nieder. Den von ihm erhaltenen Bruchstücken allein verdanken wir unsere nähere Kenntnis der Pythagoreischen Lehre.

Das Neue und Eigenartige dieser Lehre ist, daß bei ihr zum ersten Male ein reines Gedankending zum philosophischen Prinzip gemacht wird: die Zahl. Wie kam das? Nun, Pythagoras und seine Jünger waren nach dem zuverlässigen Zeugnis des Aristoteles die ersten, die sich gründlich mit der Mathematik beschäftigten, und zwar nicht bloß mit der Geometrie der Ebene – der bekannte Satz von der Winkelsumme eines rechtwinkligen Dreiecks trägt ja noch heute Pythagoras' Namen –, sondern auch mit der Arithmetik und mit deren Anwendung auf Musik und Astronomie. Die Pythagoreer haben zuerst die Zahlenverhältnisse der Saitenlänge bestimmt, aus denen die Tonhöhe und der Wohlklang hervorgeht, haben Klanggeschlechter und Tonarten unterschieden und so die mathematischen Grundlagen der musikalischen Harmonie geschaffen. Und als Astronomen haben sie bereits gelehrt, daß die Erde und die übrigen Gestirne leuchtende Kugeln seien, die in zahlenmäßig bestimmten Abständen das heilige Zentralfeuer, den »Herd des Alls« umkreisten.

Wir brauchen nur an den ungeheuren geistigen Fortschritt zu denken, der sich auch heute noch in der Entwicklung des einzelnen wiederholt, als der Mensch bewußt zu messen und zu zählen begann. So konnten die Pythagoreer wohl als die ersten mathematischen Forscher, hingerissen von berechtigter Entdeckerfreude, in den Zahlen »die Prinzipien alles Seienden« erblicken und in begeisterten Worten deren Macht künden: »Kenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und belehrend über alles Zweifelhafte und Unbekannte. Denn niemandem wäre das Geringste von den Dingen, weder an sich noch in ihren Verhältnissen zueinander, offenbar, wenn nicht die Zahl wäre und ihre Wesenheit. So aber macht sie, der Seele es anpassend, alles der Wahrnehmung erkennbar.«

Ganz erklärlich war es, daß sie dann weiter von diesem Fundament aus die Macht der Zahl auf alle möglichen Gebiete ausdehnen wollten. »So kannst du denn nicht bloß in den dämonischen und göttlichen Dingen, sondern auch in allen menschlichen Werken und Worten die Natur der Zahl und ihre Kraft überall walten sehen, sowie auch in allen technischen Künsten und in der Musik.« Mit Recht sagt Spengler: In Wirklichkeit sind Töne etwas Zahlenmäßiges, so gut wie Linien, Harmonien, Melodien, Reime, Rhythmen, so gut wie Perspektiv, Proportion, Schatten und Kontur (Untergang des Abendlandes, I, Seite 302). Der Gegensatz des Geraden oder Unbegrenzten und des Ungeraden oder Begrenzenden gehe, so meinten sie, durch die ganze Welt und wiederhole sich in den Gegensätzen des Einen und des Vielen, des Rechten und des Linken, des Männlichen und des Weiblichen, Ruhenden und Bewegten, des Lichtes und der Finsternis, ja sogar des Guten und des Bösen. Oder die Abstände der Gestirne von der Sonne wurden nach den musikalischen Tonintervallen (Zwischenräumen) berechnet und, da alles in rascher Umdrehung Befindliche tönt, jene himmlische »Sphären-Harmonie« (Sphäre, d. i. Kugel) angenommen, von der im Prolog zu Goethes »Faust« die Rede ist. Zu solcher Zahlen spekulation kam dann, zum Teil recht willkürliche, Zahlen spielerei hinzu. Noch verstehen läßt es sich, daß 1 den Punkt, 2 die Linie, 3 das Dreieck, 4 die Pyramide bedeuten soll. Aber recht phantastisch klingt es doch, wenn 4 zugleich, weil Gleiches (2) plus Gleichem (2), die Gerechtigkeit, oder 5, weil die Verbindung der ersten männlichen Zahl 3 mit der ersten weiblichen 2 darstellend, die Hochzeit, 6 die Seele, 7 den Verstand, die Gesundheit und das Licht symbolisch ausdrücken soll, wenn die Sieben und die Zehn als heilige Zahlen galten, bei denen geschworen wurde usw.! Die großen Mathematiker haben ja allezeit etwas vom schöpferischen Genie und Künstler in sich gehabt. Und so ist von jeher nüchternste Verstandesschärfe oft genug mit einem beinahe mystischen Phantasieschwung verbunden gewesen, vor allem gerade in den Perioden neuer Entdeckungen und Erfindungen. So bei Paracelsus, Giordano Bruno, bei Beginn der Neuzeit, bei Bacon und Newton und Pascal im siebzehnten, aber auch noch bei dem Franzosen Comte, den deutschen Naturgelehrten Fechner und Zöllner im neunzehnten Jahrhundert.

Das Verdienst der Pythagoreer besteht neben ihren Leistungen in den Einzelwissenschaften – zwei von ihnen haben im vierten Jahrhundert schon die Drehung der Erde um ihre eigene Achse gelehrt – vor allem darin, daß sie zuerst in Griechenland auf die mathematisch-physikalische Gesetzmäßigkeit hingewiesen haben, die das gesamte Weltall durchwaltet und zu einem harmonisch geordneten Ganzen macht, wie sie denn auch den Ausdruck für das letztere, Kosmos, d. i. Ordnung, anscheinend zuerst gebraucht haben. Noch zu Platos Zeit (nach 400) standen Pythagoreer in Ansehen. Zwei von Philolaos' Schülern werden in seinem »Phädo« erwähnt; ein dritter (Lysis) war der Lehrer des berühmten thebanischen Staatsmannes und Spartabesiegers Epameinondas; ein vierter (Archytas), aus Wielands Romanen bekannt, leitete das blühende Staatswesen von Tarent. Bald darauf scheint jedoch die Pythagoreische Lehre ausgestorben zu sein, um erst nach einem halben Jahrtausend in neuem Gewand wieder aufzutauchen.

d) Von Empedokles zu Demokrit

Der scharfe Gegensatz zwischen dem eleatischen Sein und dem heraklitischen Werden, der auch in heftigem literarischem Streit zwischen beiden Richtungen seinen Ausdruck fand, konnte denkende Gemüter nicht befriedigen, mußte vielmehr ein Antrieb werden, zwischen beiden eine Vermittlung zu suchen. Das geschah durch die Naturphilosophen des fünften Jahrhunderts, zunächst durch

1. Empédokles (490 bis 430)

aus der reichen sizilischen Handelsstadt Akragas, dem römischen Agrigent (heute Girgenti). Obschon, gleich den meisten dieser älteren Denker, von vornehmer Geburt, war er doch volksfreundlich. Er war nicht bloß als Philosoph, sondern auch als Arzt, Dichter, Redner, Ingenieur und Politiker hochberühmt. Mit den Eleaten leugnet er, daß Etwas aus Nichts entstehen oder in Nichts vergehen könne. Die Veränderung erfolgt vielmehr durch Mischung und »Entmischung« oder, wie er es in dichterischem Bilde ausdrückt, durch Liebe und Haß. Gleiches oder Verwandtes zieht sich an, Feindliches bleibt einander fern. Redet doch auch die heutige Wissenschaft noch von chemischen »Wahlverwandtschaften«. Weil der fliegende Stein die Erde »liebt«, strebt er dieser zu. Aus den zwei Urstoffen des Parmenides sind bei Empedokles vier »Wurzeln aller Dinge« geworden, indem zu dem Wasser des Thales, der Luft des Anaximenes, dem Feuer Heraklits die Erde als viertes hinzugefügt wird: also die bekannten, durch Aristoteles dem Mittelalter überlieferten vier Elemente, die erst durch die moderne Chemie zu mehr als achtzig Urstoffen erweitert worden sind.

Das Interesse unseres Philosophen war weniger dem mathematisch-physikalischen Teil der Naturforschung als der Wissenschaft von der lebendigen Natur (Biologie) zugewandt. Recht materialistisch klingt sein Satz: »Je nach vorhandenem Stoffe wächst dem Menschen die Einsicht.« Von der Mischung des Blutes hängt ihm das Denken ab. Also der Anfang der Lehre von den vier Temperamenten (den Heiß-, Kalt-, Leicht- und Schwerblütigen). Und doch ist dieser Materialismus wieder vergeistigt, also Monismus von der Art Haeckels: »Alles besitzt Denkkraft.« Die Sinneswahrnehmungen entstehen dadurch, daß kleinste Stoffteilchen der äußeren Gegenstände in die Spalten oder »Poren« unserer Sinneswerkzeuge eindringen. Auch auf dem Gebiet der vergleichenden Naturforschung hat er wertvolle Gedanken geäußert. An Goethes ähnliche Anschauungen erinnert sein Vers: »Eines ist Haar und Laub und dichtes Gefieder der Vögel.«

2. Anaxágoras (500 bis 428)

wanderte um 463 aus Kleinasien in Athen ein und wurde hier ein Freund des großen Staatsmannes Perikles, mit dem er gegen Ende seines Lebens die Ungunst der wankelmütigen Menge teilte, die ihn wegen seiner »Gottlosigkeit«, das heißt Verwerfung der üblichen Vielgötterei, verbannte. Vielleicht erregte den Argwohn der Altgläubigen schon seine neue Lehre vom Nûs, das heißt einer Art Weltvernunft, die als Kraft hinter allen Dingen walte. Als Urelemente nahm Anaxagoras nicht mehr vier bestimmte, sondern unendlich viele »Samen« der Dinge an, die von Uranfang an in unendlich kleinen Bestandteilen zu allen möglichen Dingen (zum Beispiel Fleisch, Blumen, Gold) vorhanden waren und sich dann nur, soweit sie gleichartig waren, zu verbinden brauchten. So gingen aus dem schlammartigen Boden der Erde, befruchtet von den aus der diese umgebenden Dunstluft (Atmosphäre) und dem leichten himmlischen Äther niederfallenden Keimen, die ersten Lebewesen hervor. Jedem Wesen wohnt so viel Erkenntnis bei, als Denkstoff (Nus) in ihm enthalten ist. Wir empfinden nicht durch das Gleichartige, sondern durch das Entgegengesetzte, zum Beispiel das kalte Wasser durch die Wärme der Hand, das Süße durch das Saure usw. Obwohl von den öffentlichen Angelegenheiten sich fernhaltend, übte Anaxagoras lange Zeit durch seine würdige Persönlichkeit und seine Weisheit auf die aufgeklärten Kreise großen Einfluß; unter anderen auch auf den berühmten Trauerspieldichter Eurípides, der an ihn gedacht haben wird, wenn er die Glückseligkeit desjenigen preist, der rein der Forschung im Hinblick auf die ewigen Gesetze des Weltalls lebt.

Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen Urbestandteilen des Seienden leitet uns über zu dem Denken des Mannes, der den Abschluß dieser ersten, wesentlich naturphilosophischen Periode des griechischen Denkens bildet, aber auch schon in neue Bahnen weist.

3. Demokrit

Demokrit, schon ein Zeitgenosse von Sokrates (465 bis 370), stammte aus der griechischen Schildbürgerstadt Abdçra an der Küste Thraziens, die uns durch Wielands Roman »Die Abderiten« vertraut geworden ist. Nach langen Forschungsreisen heimgekehrt, erreichte er dort in stillem Forscherleben ein hohes Alter.

Das eigentliche Kernstück seiner Philosophie ist seine Lehre von den Atomen. Die ganze Welt besteht aus unzähligen kleinsten, weiter nicht mehr teilbaren ( atomos, d. i. unteilbar) Körperchen, verschieden nur an Lage, Gestalt und Größe. Indem sie sich durch den leeren Raum bewegten, senkten sich die schwereren der Mitte zu; aus ihnen entstand unsere Erde. Aus den emporsteigenden leichteren Himmel, Luft und die durch ihre schnelle Bewegung glühend gewordenen Gestirne. Am feinsten und glattesten, rund und gleich denen des Feuers sind diejenigen Atome, welche die Seele zusammensetzen und durch den ganzen Körper verteilt sind. Aus der Welt der Atome ist jeder Zufall und jede etwa hinter derselben stehende bewußt zweckmäßig handelnde göttliche Kraft, wie Anaxagoras' »Nus«, ausgeschlossen.

So scheint Demokrits Lehre dem ersten Blick grob materialistisch zu sein. Und doch ist sie im letzten Grunde, wie alle echte Wissenschaft, »idealistisch«, das heißt auf den Gedanken gegründet. Sind doch die Atome sinnlich nicht mehr wahrnehmbar; und selbst wenn es gelänge, einen noch so kleinen Teil durch das Mikroskop zu beobachten, könnte man doch in Gedanken das Teilen ins Unendliche fortsetzen. Überdies nimmt Demokrit neben den Atomen ein »Leeres« an, von dem er behauptet, daß es »in Wahrheit« ebenso existiere wie die Materie. So denkt er – soviel wir wissen, in der Naturwissenschaft zum ersten Male – ein Sein ohne Stoff, weil es notwendig ist, um die Vielheit und die Bewegung zu erklären. Auch stellt er über die Sinneswahrnehmung, die nur das gewöhnliche »Sein« der herrschenden Meinung, zum Beispiel Süß und Sauer, Warm und Kalt, Weiß und Schwarz, das heißt alles nur »im Verhältnis zu einem anderen« (wir sagen heute dafür: relativ oder subjektiv) zu erfassen vermag, die »echte« oder »vollbürtige« Erkenntnis, das heißt das begriffliche Denken. Der Stoff oder die Materie, aus der seine Atome bestehen, ist eben auch nur ein Hilfsbegriff, eine »Hypothese« (Voraussetzung), um die äußere Natur, die Welt der Erscheinungen zu erklären.

Und noch etwas anderes können wir aus der Betrachtung des Weisen von Abdera lernen, was man häufig seitens der Kirchlichen bestreitet: daß naturwissenschaftlicher »Materialismus« und streng mechanische Weltansicht verbunden sein können mit hohem sittlichem Idealismus. Ein glücklicher Zufall hat es gefügt, daß aus Demokrits Ethik mehr als zweihundert Fragmente, meist allerdings nur kurze Sinnsprüche, erhalten sind. Sie gehen zwar von Lust und Unlust als nächsten Beweggrund menschlichen Handelns aus, betrachten jedoch als Endziel die »Wohlgemutheit« und Unerschütterlichkeit der Seele. Die sinnlichen Triebe sollen sich beugen unter die Herrschaft von Norm und Gesetz, wie das sturmbewegte Meer zur Windstille besänftigt wird. Wir setzen aus der reichen Fülle dieser Sprüche, die sich auf alle Gebiete des Menschenlebens beziehen, einige besonders bezeichnende hierher: »Glückseligkeit und Elend liegen in der Seele. – Gut ist nicht das Nicht-Unrechttun, sondern das nicht einmal Unrechttun- Wollen. – Den herrenlosen Schmerz der im Krampf erstarrten Seele banne durch Vernunft. – Dem freien Mann ist Freimut eigen, schwierig jedoch die Wahl des richtigen Augenblicks. – Den frischen Tag beginne mit frischen Gedanken. – Die Bildung ist für Glückliche eine Zierde, für Unglückliche eine Zufluchtsstätte. – Unvernünftig ist es, sich in das Unvermeidliche nicht zu fügen. – Mannesmut macht das Unheil gering.« In der Tat, wenn das scholastische Mittelalter ihn den »lachenden«, wie den pessimistischen Heraklit den »weinenden«, Philosophen genannt hat, so trifft das zu nur auf die Gelassenheit, mit der er dies Treiben der Welt ansah, und die von keiner Todesfurcht oder Unsterblichkeitshoffnung gestört war. »Einige, die von der Auflösung der sterblichen Natur nichts wissen, der Übeltaten aber in ihrem Leben sich bewußt sind,« so sagt er einmal, »bringen ihre ganze Lebenszeit in Verwirrung und Ängsten zu, indem sie sich lügenhafte Märchen über das Leben nach dem Tode vorspiegeln.« Und der Vielgereiste fühlte sich als Weltbürger: »Dem Weisen steht jedes Land offen, denn die Heimat einer edlen Seele ist die ganze Welt.«

Von Demokrits übrigen zahlreichen Schriften ist leider so gut wie nichts erhalten. Im ganzen zeigte sich die Zeit für sein Prinzip mechanischer Naturerklärung noch nicht reif. Zudem wurde die Philosophie durch seinen Zeitgenossen Sokrates und dessen Nachfolger auf andere Fragen hingelenkt. So geriet er allzufrüh in unverdiente Vergessenheit, aus der ihn erst nach zwei Jahrtausenden die Naturwissenschaft der Neuzeit wieder ans Licht gezogen hat. Heute »erklären wir die Gesetze des Schalles, des Lichtes, der Wärme, die chemischen und physikalischen Veränderungen in weitestem Umfang aus der Atomistik« (F. U. Lange, Geschichte des Materialismus, 1. Band, Seite 15).

Mit Demokrit schließt die vorzugsweise naturphilosophische Epoche griechischen Philosophierens. In der Tat hatte man damit auch alle damals denkbaren Standpunkte philosophischer Naturbetrachtung erschöpft. Wer sie alle emsig durchdacht hatte, mußte schließlich, wie der platonische Sokrates im »Phädo« oder wie »Faust« zu Anfang seines ersten Monologs, zum Zweifel an allen und damit auch zum Zweifel an einer allgemeingültigen Wahrheit überhaupt kommen. Inzwischen hatte sich auch bereits eine geistige Bewegung gebildet, die diese Zweifel in sich aufnahm und weiterbildete. Damit werden wir jedoch auf einen anderen Boden versetzt, den der Stadt Athen.


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