Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel. Die Aufklärungsphilosophie

Aufklärung ist nach Kants berühmter Abhandlung: »Was ist Aufklärung?« (1784) »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, und ihr Wahlspruch lautet: »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes ohne Hilfe eines anderen zu bedienen!« Jene Unmündigkeit kann eine religiöse, politische oder soziale sein. Die Aufklärung hebt gewöhnlich auf religiösem Gebiet an. Spuren davon haben wir, wenn wir von der Philosophie des Altertums ganz absehen, schon im Mittelalter (Abälard, Roger Bacon und andere) wahrgenommen. Aber erst in der Zeit des Humanismus und der Renaissance beginnt sie größeren Umfang anzunehmen, und erst im achtzehnten Jahrhundert bricht sie mit Macht herein. Jetzt verbreitet sie sich allmählich auch auf das politische und soziale Gebiet, wenngleich sie zunächst erst kleinere Kreise, noch nicht die Massen erfaßt. Sie nimmt ihren Anfang in Großbritannien, wo nach den wechselvollen politischen Stürmen des siebzehnten Jahrhunderts die sogenannte »glorreiche«, d. h. friedliche, fast ohne jeden Widerstand erfolgte Revolution des Jahres 1688 den endgültigen Sturz des Absolutismus besiegelte und zugleich die Bahn für eine mächtige Entfaltung der materiellen Interessen frei machte, geht von da nach Frankreich über, wo sie unter dem staatlichen, kirchlichen und sozialen Druck der alten Verhältnisse eine besonders scharfe Oppositionsstellung einnimmt, und ergreift zuletzt auch Deutschland, wo sie sich mit den Bestrebungen von Leibniz und seinen Nachfolgern verschmilzt.

A. In England Unter England ist im folgenden und später Schottland, das ja dieselbe Sprache redet, stets mitverstanden.

1. Locke (1632 bis 1704)

An der Spitze steht hier John Locke, der, bereits in einer freisinnigen Familie herangewachsen, zwei Generationen hindurch der liberalen Adelsfamilie der Shaftesbury als Erzieher, Arzt, Sekretär und Freund seine Dienste leistete, aber erst mit Beginn der neuen liberalen Regierung (1688) in das öffentliche Leben eintrat und nun eine reiche literarische Tätigkeit entfaltete.

Seine beiden Abhandlungen »Über die Regierung« (1690) verkünden das Programm des modernen Liberalismus. Aufgabe des Staates ist es, Eigentum und persönliche Freiheit seiner Bürger zu schützen. Die höchste Gewalt in ihm kommt der vom gesamten Volk gewählten gesetzgebenden Versammlung zu. Die ausübende ist von der gesetzgebenden Gewalt zu trennen. Der König steht nicht über, sondern unter dem Gesetz und macht sich durch Mißbrauch seiner Macht seiner Würde verlustig. Kurz, wir haben hier eine theoretische Rechtfertigung des englischen Parlamentarismus vor uns, der freilich bis beinahe in die Gegenwart tatsächlich nur eine Herrschaft der besitzenden Klassen, abwechselnd zwischen den großgrundbesitzenden Tories und den kapitalistisch-industriellen Whigs, gewesen ist. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet huldigt Locke dem Liberalismus des »Gehenlassens«. Immerhin ist eine gelegentliche Bemerkung für den Sozialisten von Interesse: der Arbeiter habe Anspruch auf die Frucht seiner Arbeit, mindestens solange den anderen noch »genug« (?) übrigbleibe.

In religiöser Beziehung hatte schon der 1669 niedergeschriebene Verfassungsentwurf Lockes für die nordamerikanische Kolonie Südkarolina Trennung von Kirche und Staat und Duldung aller Religionsbekenntnisse befürwortet, ausgeschlossen – die Atheisten! In ähnlichem Sinne äußern sich seine noch ohne seinen Namen veröffentlichten »Briefe über Toleranz« (1689 ff.). Der Inhalt seiner theologischen Hauptschrift »Von der Vernunftmäßigkeit des Christentums, dargestellt nach der Schrift« (1695) ergibt sich schon aus dem Titel. Der Kern dieses vernunftmäßigen Christentums besteht im Glauben an Jesus den Erlöser, verbunden mit einem der Religion der Liebe geweihten Leben. Locke las oft in der Bibel, verkehrte gern mit Quäkern und unterhielt sich öfters mit dem gleichgesinnten Newton über theologische Probleme. Die verpflichtende Kraft des Sittengesetzes erblickt er im Willen Gottes.

Demgemäß ist seine Ethik unselbständig. Dem Sittengesetz der bloßen Vernunft, wie es zum Beispiel die Antike aufstellt, mangelt die Autorität des göttlichen Gesetzgebers. Die Offenbarung darf zwar nicht das klare Zeugnis der Vernunft umstoßen wollen, aber sie gibt uns die Wahrheit mühelos, die wir ohne sie nur sehr schwer hätten finden können. Der Gedanke an Strafe und Lohn im Jenseits zählt nach ihm mit Recht zu den Haupttriebfedern sittlichen Handelns. Die Gottesvorstellung ist uns zwar nicht angeboren, sein Dasein wird aber von keinem Vernünftigen geleugnet werden.

Weit wichtiger für eine Geschichte der Philosophie als diese allgemeinen Gedanken ist die philosophische Begründung, die Locke diesen seinen Anschauungen in seinem 1675 bis 1687 verfaßten, jedoch erst 1690 veröffentlichten, leichtverständlichen, aber auch recht breit geschriebenen Hauptwerk »Versuch über den menschlichen Verstand« gegeben hat. Das Wichtigste kann man auch schon aus der nachgelassenen kleineren Schrift »Über die Leitung des Verstandes« kennenlernen. Sein Interesse ist weniger auf die Gewißheit, als auf das Zustandekommen der menschlichen Erkenntnis gerichtet. Angeborene Ideen gibt es nicht. Sondern der Anfangszustand der Seele gleicht einem unbeschriebenen weißen Blatt (lateinisch: tabula rasa), das dann ausgefüllt wird »durch das eine Wort – Erfahrung«. Diese zerfällt in äußere (durch Sinnenwahrnehmung) und innere (durch Selbstbeobachtung). Die äußere und innere Wahrnehmung sind die beiden Fenster, durch welche die Dunkelkammer unseres Inneren erhellt wird; der Verstand gleicht dem mattgeschliffenen Spiegel der Camera obscura, der die Bilder der Dinge »reflektiert« (zurückwirft). Die Empfindungen zum Beispiel des Süßen, Heißen, Weichen, Gelben sind »Eindrücke« (Impressionen) der Außendinge auf uns, die Vorstellungen (in der Sprache Lockes und seiner Nachfolger »Ideen«) deren Kopien. Woher der Geist, woher das Bewußtsein kommt, wird nicht gefragt, dagegen die Verbindung (Assoziation) der Vorstellungen ausführlich klargelegt.

Sie sind nämlich entweder einfach, wie die der Farbe, Dichtigkeit, Ausdehnung in Raum und Zeit, des Denkens und Wollens, der Kraft, Einheit und vieler anderer Grundbestandteile unserer Erkenntnis; oder zusammengesetzt (komplex), und in diesem Falle Verallgemeinerungen unseres Verstandes, Kunstgriffe desselben oder Zeichen zur Erleichterung der sprachlichen Mitteilung und des geistigen Verkehrs. Daher auch die Wichtigkeit der sprachlichen Untersuchungen, denen das dritte von den vier Büchern der Lockeschen Hauptschrift gewidmet ist. Wir haben uns daran gewöhnt, körperliche und geistige »Dinge« oder Substanzen vorauszusetzen, ähnlich wie die indische Mythologie ihren Elefanten oder ihre Riesenschildkröte als Träger des Erdballs. Ihr Wesen jedoch bleibt uns völlig unbekannt; nur ihre Eigenschaften (Attribute) oder Zustände (Modi) und Wirkungen sind uns erkennbar. Die »Relationen«, d. h. Verhältnisbegriffe (zum Beispiel Gattung, kleiner) entstehen durch Entgegensetzung oder Vergleichung mehrerer Dinge. Zu ihnen gehören der Begriff von Ursache und Wirkung, die Zeit- und Ortsbestimmungen, die moralischen Verhältnisse und viele andere.

Lockes Stärke beruht auf der empirischen (erfahrungsgemäßen) Psychologie, als deren eigentlicher Begründer er gelten darf. Von wissenschaftlicher Wichtigkeit unter seinen weiteren Unterscheidungen ist ferner noch die der Eigenschaften (»Qualitäten«) der Dinge in: 1.  primäre oder ursprüngliche, die von unserer Vorstellung von Körpern unzertrennlich sind, wie Ausdehnung, Gestalt, Undurchdringlichkeit, Zahl, Beweglichkeit; und 2.  sekundäre oder abgeleitete, die nicht in den Körpern an sich, sondern nur in unserer Vorstellung von denselben existieren, wie Farben, Töne, Geschmacks-, Geruch-, Wärmeempfindungen. Unsere Empfindungen werden durch gewisse »Kräfte« erzeugt, die sich von den Gegenständen durch die Nervenbahnen bis zum Gehirn, dem »Audienzzimmer des Geistes«, fortpflanzen. Würden unsere Augen nicht sehen, unsere Ohren nicht hören, unsere Hände nicht fühlen usw., so blieben nur die »primären« oder wirklichen (»realen«) Qualitäten der Dinge übrig; was wir zum Beispiel als Wärme empfinden, ist im Gegenstand selber nur Bewegung.

Alle unsere Erkenntnis geht von den Sinnen (sensus) aus, weshalb Lockes Lehre auch als Sensualismus bezeichnet wird. Wir können unser Wissen zwar teils durch weitere Erfahrungen, teils durch Schlüsse des Verstandes erweitern, aber es bleibt beschränkt. Insbesondere die gesamte Naturwissenschaft – er selbst kannte eingehender nur Chemie und Medizin, nicht Mathematik und Mechanik – kann es nach ihm nur zur Wahrscheinlichkeit bringen. Dennoch bleibt er kein konsequenter Empirist. Völlige Gewißheit bieten uns durch ihre demonstrative (logisch beweisbare) oder intuitive Erkenntnis (unmittelbare Anschauung) die mathematischen und die – moralischen Begriffe.

Locke hat sich schließlich als einer der ersten ausführlicher mit den Fragen der Erziehung beschäftigt. Seine »Gedanken über Erziehung«, auf der Grundlage der Freiheit und Natürlichkeit, freilich mehr eine aus der Erfahrung geschöpfte Anleitung zur Ausbildung eines jungen Gentlemans als eine pädagogische Theorie und stark auf das Nützliche gerichtet, sind heute noch in seinem Vaterland von Wirksamkeit.

2. Freidenker und Moralphilosophen

a) Natürliche Religion (Freidenkertum)

Während Hobbes äußerlich der positiven Religion gegenüber sich noch unterwürfig zeigt, stellte ein anderer englischer Denker schon vor ihm dem Autoritätsglauben der Kirche die allen Menschen gemeinsame Vernunft und die auf sie sich gründende natürliche Religion entgegen. Es ist Lord Herbert von Cherbury (1582 bis 1648), der in seinen Schriften »Von der Wahrheit« (1624) und »Von der Religion der Heiden« (1645, vollständig erst 1663 und zwar in Amsterdam erschienen!) folgende fünf Glaubensartikel dieser Religion entwickelt: 1. Es gibt ein höchstes Wesen. 2. Es soll angebetet werden. 3. Den wichtigsten Teil seiner Verehrung bilden Tugend und Frömmigkeit. 4. Der Mensch soll seine Sünden bereuen und von ihnen ablassen. 5. Gutes und Böses werden in diesem und jenem Leben belohnt und bestraft. Was über diese fünf Sätze hinausgehe, sei Erfindung herrschsüchtiger Priester und der wahren Gottesverehrung hinderlich.

Wie man steht, geht Herbert noch keineswegs radikal vor. Auch John Tolands (1670 bis 1721) im Jahre 1696 erschienene Jugendschrift »Das Christentum ohne Geheimnisse« hielt sich noch in dem sehr gemäßigten Rahmen Lockescher Religionsauffassung; in den Wundern zum Beispiel sieht er noch eine göttliche Steigerung der Naturgesetze über ihre gewöhnlichen Wirkungen hinaus. Dagegen ist in seinen »Briefen an Serena« (1704), d. i. Leibnizens Freundin, die preußische Königin Sophie Charlotte, der Glaube an einen persönlichen, außerweltlichen Gott (Theismus) und an die persönliche Unsterblichkeit bereits aufgegeben. Ja, es ist kaum mehr Deismus, d. h. Glaube an einen Schöpfer der Welt, der sie nachher ihren eigenen Gesetzen überläßt, sondern schon Pantheismus: Gott ist das dem Weltall innewohnende Leben, das menschliche Denken eine Tätigkeit des Gehirns, an die von Gott beseelte Materie gebunden. In seinem – ohne seinen Namen und mit dem Druckort »Kosmopolis« (Weltbürgerstadt) 1720 veröffentlichten – »Pantheistikon« entwirft er von dieser Auffassung aus eine Religion der Zukunft und eine Art Liturgie für ihre Bekenner. Abgedruckt in der überhaupt für die Geschichte der Aufklärung sehr empfehlenswerten »Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts« von H. Hettner. 6 Bände, 5. Auflage, 1894.

Als »Freidenker« hat sich Wohl zuerst Collins (1676 bis 1729) in seiner »Abhandlung über das freie Denken« (1716) bezeichnet, der, über Locke hinausgehend, das nur sich selbst verantwortliche Denken für ein unveräußerliches Recht der Vernunft erklärt. Ähnlich schrieben Lyons über »Die Untrüglichkeit der menschlichen Vernunft«, Tindal über »Das Christentum so alt wie die Schöpfung« (1730), der Handwerker Chubb über »Das wahre Evangelium Jesu Christi« (1738). Gemeinsam ist diesen und anderen Schriften verwandten Inhalts, neben der rein-moralischen und rationalistischen (vernunftgemäßen) Richtung, die ungeschichtliche Auffassung des Christentums. Den meisten auch ein bedauerliches Klassenvorurteil: die Vernunftreligion für die Gebildeten, die Kirchenlehre für die Masse! Ein Zug, den wir schon in Scävolas Lehre von der »dreifachen« Religion (S. 66) bemerkten, und dem im damaligen England der geistreiche Bolingbroke (1698 bis 1751) folgenden ungeschminkten Ausdruck gab: In den Salons darf man die unvernünftigen Vorstellungen der Kirche belächeln, im öffentlichen Leben dagegen sind sie unentbehrlich, weil sie die Menge in Gehorsam halten; deshalb tun die Freidenker übel daran, wenn sie ein Gebiß aus deren Maul herausnehmen, anstatt ihr noch mehr anzulegen.

Zu den, wenn auch nicht religiösen, Freidenkern kann man wohl auch den eigenartigen Mandeville (aus französischer Familie, 1670 in Holland geboren, später Arzt in London) rechnen, der 1705 in den Straßen Londons ein poetisches Flugblatt in vierhundert Versen verteilen ließ, das den merkwürdigen Titel führte: »Der summende Bienenkorb oder die ehrlich gewordenen Schelme« und in Form einer Fabel den ungewöhnlichen Satz verteidigte: daß Macht und Glück eines Gemeinwesens nicht auf Tugend und Rechtschaffenheit seiner Bürger, vielmehr auf deren lasterhaften Neigungen (Eitelkeit, Ehrsucht, Heuchelei, Betrug, Schwelgerei usw.) beruhen. Die eigenartige Schrift – seit 1714 unter dem Titel »Die Bienenfabel« oder »Private Laster Wohltaten für die Gesamtheit« öfters in vermehrter Auflage herausgegeben – führte weiter aus, daß nur egoistische Interessen den Menschen zur Arbeit, Verbindung mit anderen und damit zur Kultur überhaupt treibe. Was man gewöhnlich als »Tugenden« bezeichne, sei von schlauen Staatsmännern erfunden worden, um die Massen zu beherrschen. Bei einer allgemeinen Zufriedenheit würde zuletzt alle Kultur stillstehen. Trotzdem sieht der Verfasser für das Gedeihen der letzteren die Armut und Beschränktheit der unteren Klassen als notwendig an. Jedenfalls ist Mandeville, von dem wir einzelne Gedanken bei A. Smith, Kant, Lassalle, Marx und Nietzsche wiederfinden, im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen, heute noch von Interesse.

b) Die Moralphilosophie Shaftesburys und anderer

Mandevilles scharfer, ja wohl gewollt übertriebener Wirklichkeitspessimismus richtete sich unter anderem gegen die gleichzeitige, von vielen bewunderte Philosophie des Lord Shaftesbury (1671 bis 1713), die dieser in seinen allgemeinverständlich und sehr gefällig geschriebenen »Charakteristiken von Männern, Sitten, Ansichten und Zeiten« (1711) verkündete. Der feingebildete und reiche, übrigens früh kränkelnde und im Süden verstorbene Edelmann, begeistert für alles Wahre, Gute und Schöne, predigt einen schönheitsfreudigen Optimismus, der die Schattenseiten und Tragödien des Lebens übersieht und, Leibniz verwandt, eitel Harmonie in der gesamten Natur und Welt erblickt. Harmonische Ausbildung der Persönlichkeit nach Art der von ihm hochverehrten großen Griechen, begeisterte Liebe zum Schönen, dessen Urbild die Gottheit ist, gibt uns auch die Kraft zu tugendhaftem Handeln, das auf der Verbindung richtiger Selbstliebe mit den sympathischen Gefühlen gegen andere beruht. Shaftesburys liebenswürdige Schönheitsphilosophie hat auf die Franzosen Diderot und Voltaire, von unseren Klassikern auf Herder, Wieland und den jungen Schiller stark gewirkt, bleibt aber im Grunde doch eine Lebensphilosophie nur für die »oberen Zehntausend«.

Systematischer ausgebaut wurden Shaftesburys, auch Religion und Ästhetik berührende, meist in Brief- oder Gesprächsform hingeworfene, in viele Kultursprachen übersetzte Gedanken von dem Schotten Hutcheson (1694 bis 1747), der einen besonderen, auch den Nichtgläubigen von Gott verliehenen, »moralischen Sinn« annimmt und außerdem – ein Gedanke, den wir ein Jahrhundert später gleichfalls in England wieder auftauchen sehen werden – als moralischen Endzweck »das größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl« betrachtet.

Im Gegensatz zu Shaftesbury hält Bischof Butler (1692 bis 1753) die Befriedigung des Gewissens, das sich nicht durch Rücksicht auf Erfolg oder Mißerfolg unserer Handlungen bestimmen lassen darf, für die Hauptsache. Entgegen einem platten Optimismus vieler Anhänger der natürlichen Religion, weist er auf die zahlreichen Übel in der Welt, auf das ungerechte Leiden vieler Unschuldigen und anderes mehr hin. Über die nicht von Begeisterung erfüllten kühleren Stunden unseres Lebens können uns – nun kommt der Theologe zum Vorschein – nur der Glaube an Gott und ein besseres Jenseits hinweghelfen.

In dieser Zeit beginnen in England auch die ersten Untersuchungen über ästhetische Fragen. Home (1696 bis 1782) verlegt die Schönheit aus dem Gegenstand in die Seele, dringt auf Naturwahrheit und hält deshalb den steifen Dramen der französischen Klassiker und den Lehrgedichten seines Landsmanns Pope das Vorbild Shakespeares entgegen. Der später als Politiker berühmt gewordene Edmund Burke (1728 bis 1797) gab in seiner »Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen« (1756) mancherlei anregende psychologische Zergliederungen, die auf Mendelssohn, Lessing, Kant und andere Zeitgenossen Einfluß geübt haben.

Gegenüber den im vorigen behandelten, mehr kulturgeschichtlich als philosophisch bedeutsamen Denkern, kehrte

3. Berkeley (1685 bis 1753)

wieder zu den Grundfragen der Erkenntnis zurück. Das Eigenartige seiner philosophiegeschichtlichen Leistung liegt in einem ausgeprägten, sozusagen absoluten theoretischen Idealismus. Es gibt, wie er in Fortbildung Lockescher Gedanken schon als Fünfundzwanzigjähriger in seiner Grundschrift »Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis« (1710) behauptet, keine abstrakten Ideen. Wir können uns wohl gelbe, grüne, blaue Gegenstände, aber keine Farbe an sich, wohl dies bestimmte Dreieck, aber kein Dreieck im allgemeinen vorstellen: »wir denken in Beispielen«. Und noch weniger eine Farbe, eine Bewegung oder einen Ton außerhalb eines sie wahrnehmenden Geistes: »Sein« bedeutet also nichts anderes als »vorgestellt oder erkannt werden«. Die einzige Substanz ist das vorstellende Ich oder der Geist (wir würden lieber sagen: das Bewußtsein), der die Vorstellung erst erzeugt und je nachdem als Verstand oder als Wille sich bemerkbar macht. Läßt sich Berkeleys Philosophie bis dahin mit dem Standpunkt der modernen Wissenschaft vereinen, zumal da er die wahre »Realität« der sogenannten Dinge oder Ideen in der Festigkeit und Ordnung ihres Zusammenhanges erblickt, so entfernt er sich von ihr wieder durch seine Überschätzung der unmittelbaren Sinneswahrnehmungen, wonach ihm zum Beispiel die Vorstellung der »wirklichen« Sonne, die wir tagsüber sehen, »realer« erscheint als ihr Erinnerungs- oder Phantasiebild bei Nacht. Infolgedessen verkennt er denn auch den Wert der physikalischen Grundbegriffe, wie zum Beispiel der Materie, der Bewegung oder der mathematischen Abstraktionen. Er eifert gegen Newtons Mechanik, erklärt die Infinitesimalrechnung für eine unnütze Spekulation, die den gesunden Menschenverstand verletze. Die Zahlen, ja die allgemeinen Naturgesetze seien bloße »Zeichen«, denen keine wirklichen Gegenstände entsprächen; der tausendste Teil einer einen Zoll langen Linie sei – nichts, und anderes mehr.

Als edleres Ziel gegenüber solchen nutzlosen theoretischen »Ergötzungen« betrachtet er es, aus der Ordnung, Schönheit und Mannigfaltigkeit der Natur auf die Weisheit und Güte ihres Schöpfers zu schließen und sie dessen Zwecken, daneben auch der »Erhaltung und Schmückung unseres Lebens für uns und unsere Mitgeschöpfe« dienstbar zu machen. Nicht die »natürlich wirkenden«, sondern die »Zweckursachen« der Dinge sind in erster Linie aufzusuchen. Er empfiehlt seine Lehre, durch welche »die Materie aus der Natur ausgetrieben wird«, als Bollwerk gegen die nichtswürdigen Materialisten, Atheisten und Fatalisten von der Art Epikurs, Hobbes' und Spinozas, die er ebenso wie alle »Freidenker« bekämpft; was wir dem aufrichtig frommen Manne, der nach längerer segensreicher Wirksamkeit als Bischof in Irland starb, nicht übelnehmen. Zu den »Aufklärern« gehört er selbstverständlich nicht, hat dagegen in psychologisch-physiologischer Beziehung (vergl. seine »Neue Theorie des Sehens«, 1709) manches richtiger gesehen als seine Zeitgenossen: z. B., daß wir erst durch die Verbindung unseres Gesichts- mit dem Tastsinn einen Körper wahrnehmen und in die Ferne sehen können; daß erst Gewohnheit und Übung uns auf »äußere« Gegenstände »im Raume« schließen lassen u. a. Zur Einführung in seine Gedankenwelt eignen sich am meisten seine besonders schön und anschaulich geschriebenen »Dialoge zwischen Hylas und Philonous« (1713), die ebenso wie seine anderen Schriften in der »Philosophischen Bibliothek« neu verdeutscht sind.

4. Hume (1711 bis 1776)

David Hume, Sohn eines schottischen Gutsbesitzers, war hintereinander Kaufmann, philosophischer und literarischer Schriftsteller, Bibliothekar, Gesandtschaftssekretär in Wien, Turin und Paris, konservativer Politiker und Diplomat, zuletzt seinen Neigungen und Freunden lebender Privatmann, eine bei aller kühlen Nüchternheit doch heitere und liebenswürdige und bei aller Menschenkenntnis gutmütige und offenherzige Natur. Er hat außer seinen drei philosophischen Hauptschriften: der wenig bekannt gewordenen »Abhandlung über die menschliche Natur« (1739 f.), der »Untersuchung über den menschlichen Verstand« (1748) und »Über die Prinzipien der Moral« (1751), auch eine Reihe »Moralischer, politischer und literarischer Aufsätze« (1741 f.), die seinen Namen zuerst in weiteren Kreisen bekannt machten, ferner eine »Naturgeschichte der Religion« (1755) und zuletzt noch eine umfangreiche »Geschichte Englands« (1754 bis 1761) geschrieben, außerdem eine Selbstbiographie und »Gespräche über Religion« hinterlassen. Er schreibt klar und einfach. Seine Stärke ist das verstandesmäßige Zergliedern. Er fühlt sich als »Anatom«, nicht als »Maler« der menschlichen Seele.

In seiner Erkenntnislehre zieht er die Folgerungen von Lockes und Berkeleys Philosophie der Sinneswahrnehmung, indem er als die wahren »angeborenen Ideen« unsere »Eindrücke«, d. i. die lebhaften und starken Empfindungen betrachtet, deren matte Nachbilder (Kopien) die Gedanken sind. Er bestreitet die Gewißheit des reinen Denkens, in seinem Jugendwerk sogar die der Mathematik. Unsere Überzeugung von der Gültigkeit des Kausalgesetzes beruht nach seiner Meinung nur auf der – Erfahrung. Unsere Erwartung zum Beispiel, daß morgen die Sonne aufgehen wird, leitet er nicht von astronomischen Gesetzen ab, sondern nur von der Macht der Gewohnheit und dem daraus entspringenden Glauben. Gewohnheit »ist die große Führerin im Leben«, sie allein »läßt uns in der Zukunft einen gleichen Lauf der Ereignisse erwarten, wie sie in der Vergangenheit geschehen sind«. Selbst die Physik, zum Beispiel der Begriff des Raumes und der Ausdehnung, beruht nach ihm auf den gewohnheitsmäßigen Wahrnehmungen unserer Sinne und deren Verbindung (Assoziation) durch den Verstand. Das »unbekannte und unsagbare Etwas«, das nach Wegdenken der Sinneswahrnehmung als deren Ursache und Gegenstand übrigbleibt, dünkt solchem Skeptizismus keines Streites wert. Der Philosoph tut ihm zufolge besser, sich an die Tatsachen des »gewöhnlichen Lebens« zu halten, deren »Berichtigung« und »Regelung« – eine solche traut er also doch dem reinen Denken zu – seine einzige Aufgabe ist. Was darüber hinausgehe, überlasse er den Rednern und den Dichtern oder den »Künsten der Priester und Politiker«. »Können wir doch nicht einmal einen genügenden Grund angeben, weshalb wir nach tausend Proben glauben, daß der Stein fallen und das Feuer brennen wird! Wie können wir mithin hoffen, irgendeine befriedigende Erkenntnis über den Ursprung der Welt und den Zustand der Natur zu erreichen?« So lautet denn die Schlußaufforderung in Humes Hauptschrift, der »Inquiry« von 1748: Ein theologisches oder ein metaphysisches Buch, das weder »eine dem reinen Denken entstammende Untersuchung über Größe und Zahl« (also Mathematik), noch »eine auf Erfahrung sich stützende Untersuchung über Tatsachen und Dasein« enthält, werfe man getrost ins Feuer; »denn es kann nur Spitzfindigkeiten und Blendwerk enthalten«.

Nicht bloß die Ästhetik, sondern auch die Moral ist Hume Sache des bloßen Geschmacks und Gefühls. Es gibt nichts, was an sich wertvoll oder verwerflich wäre. Maßstab der sittlichen Beurteilung ist vielmehr das Gefühl der Lust oder Unlust, welches die betreffende Handlung in uns erregt. Die Hauptaufgabe der Moralphilosophie ist überhaupt eine Naturbeschreibung der Gefühle (vergl. Spinoza). Neben dem Gefühl der Selbstliebe steht allerdings als gleichberechtigt das der Sympathie mit unseren Mitmenschen; wie er denn für die höchsten Tugenden die sozialen des Wohlwollens, der Menschenliebe und der Gerechtigkeit erklärt. Der Ursprung der letzteren liegt ihm freilich in den Interessen der Gesellschaft begründet. Das durch stillschweigende Übereinkunft entstandene Recht hat den Zweck, diejenigen Güter, ohne welche die menschliche Gesellschaft nicht bestehen könnte: Eigentum und Aufrechthaltung des gegebenen Versprechens, zu schützen. Als die beste Verfassung erscheint Hume diejenige, die einen erblichen König, einen Adel ohne weitere Lehnsleute und eine »geordnete« Volksvertretung besitzt (also die großbritannische).

Seine persönliche Stellung zur Religion läßt unser Philosoph nicht mit völliger Klarheit durchblicken. In seinen hinterlassenen »Dialogen über natürliche Religion« schenkt er seinen Beifall zum Schluß dem vernunftgläubigen Kleanthes, hat aber auch offensichtlich seine Freude an den Einwänden des Skeptikers Philo gegen die Außerweltlichkeit eines persönlichen Gottes, gegen die Vollkommenheit der Welt und das Schließen von den Teilen auf das Ganze, wie sie der rechtgläubige Demea vertritt. In seinen früheren Schriften drückt er sich noch vorsichtiger aus. Auch gesteht er den zügelnden Einfluß der religiösen »Vorurteile«, wie des Glaubens an Vorsehung und künftiges Leben, auf die menschlichen Leidenschaften zu; wer das Volk von diesem Glauben befreien wolle, möge ein guter Logiker sein, aber kein »guter Bürger und Politiker«! So besuchte denn der Skeptiker Hume selbst die Kirche, wie er gelegentlich auch von dem »Kunstwerk« der Natur auf das Dasein einer Gottheit schließt. Doch tritt er für unbedingte Duldung auch Atheisten gegenüber ein; seien doch die Lehren der Philosophen für die Menge nicht verlockend oder begeisternd. Gegen den Glauben an Wunder und Prophezeiungen spricht er sich in einem besonderen Kapitel der Inquiry deutlich aus. Übrigens scheint ihm die natürliche Rechtschaffenheit stärker und beständiger auf unser Handeln zu wirken als alle religiösen Beweggründe. – In seiner kulturhistorisch und psychologisch interessanten »Naturgeschichte der Religion« gibt er zum erstenmal eine naturgeschichtliche Entwicklung der religiösen Vorstellungen, die nicht von außen »gemacht« werden, sondern mit Naturnotwendigkeit im Menschengeiste entstehen, von dem rohesten Glauben der Urvölker über die Vielgötterei der Griechen, Römer u. a. bis zu ihrer allmählichen Läuterung zum Glauben an einen Gott (Monotheismus).

Humes Lehre bildet den Gipfel der englischen Aufklärungsphilosophie. Er ist der letzte große Philosoph Englands gewesen, wenn man nicht Herbert Spencer, den Entwicklungsphilosophen des neunzehnten Jahrhunderts, als solchen betrachten will. Unmittelbar gewirkt hat er jedoch, mehr als in seinem Vaterlande, auf Frankreich und durch Kant auch in Deutschland.

5. Zeitgenossen Humes

Nicht auf theoretischem, dagegen auf moralphilosophischem und nationalökonomischem Gebiet wurde Humes Werk fortgesetzt durch seinen jüngeren Freund und Landsmann Adam Smith (1723 bis 1790), der in seiner »Theorie der moralischen Gefühle« (1759) namentlich den Sympathiegedanken Humes weiter ausbaut und einen »unparteiischen inneren Zuschauer« in jedes Menschen Brust annimmt, somit von dem bei Hume vorwiegenden Eudämonismus (Glückslehre) einigermaßen wieder ablenkt. Berühmter als durch seine Moraltheorie ist Smith durch das große volkswirtschaftliche Werk geworden, das er, nach Niederlegung seiner Glasgower Moralprofessur und im Anschluß an eine Reise nach Frankreich, in der Stille seines schottischen Heimatdorfes ausarbeitete: »Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Reichtums der Völker« (1776). Als Quelle des Reichtums sieht er Arbeit und Sparsamkeit an. Der Staat soll den natürlichen Erwerbstrieb seiner Bürger frei und unbeschränkt sich entfalten lassen; Angebot und Nachfrage werden, wie sie es immer getan, den Wirtschaftsprozeß schon von selbst aufs beste regeln, die angemessene Arbeitsteilung bewirken usw. In den Gewinn sollen sich der die Rohstoffe liefernde Grundeigentümer und der die Betriebsmittel bereitstellende Kapitalist mit dem Arbeiter teilen.

Dieser den Bedürfnissen des englischen Wirtschaftslebens angepaßte Grundsatz des Laissez aller, laissez faire (d. h. des »Gehenlassens« der wirtschaftlichen Dinge) bedeutete für die damalige Zeit einen wichtigen Fortschritt. Smith gilt als der Begründer der wissenschaftlichen Nationalökonomie und hat in Deutschland auf Kant, in England auf Ricardo, Mill und andere Vertreter der »klassischen« Volkswirtschaftslehre starken Einfluß geübt.

Nach der psychologischen Seite weitergebildet wurden Lockes und Humes Lehren durch die sogenannten Assoziationspsychologen Hartley und Priestley, die alle seelischen Erscheinungen auf die »Assoziation« (Zugesellung, also Verbindung) einfachster Vorstellungen zurückführen. So können nach Hartley (1705 bis 1757) aus anfangs automatischen bewußte, aus ursprünglich sinnlichen und eigennützigen ideale, zum Beispiel religiöse Vorstellungen werden. Der seelischen Verbindung der Vorstellungen entspricht genau die körperliche der Gehirnschwingungen. Noch weiter ging sein Schüler Priestley (1733 bis 1804), bekannt als Entdecker des Sauerstoffs, der für wichtiger als alle psychologischen Zergliederungen die Physik des Nervensystems erklärte und das Wesen der Materie in der anziehenden oder abstoßenden Kraft der Atome erblickt. Mit diesen fast materialistischen Anschauungen auf naturwissenschaftlichem und entschiedenem Freisinn (Begeisterung für die Französische Revolution) auf politischem Gebiet verband er merkwürdigerweise durchaus »positive« religiöse Anschauungen, z. B. den Glauben an Auferstehung und Unsterblichkeit. Er starb, von der englischen Hochkirche verfolgt, als Prediger einer freien Gemeinde in Philadelphia.

Eine Überleitung von der »Assoziationspsychologie« Hartleys und Priestleys zur allgemein-biologischen Entwicklungslehre des neunzehnten Jahrhunderts bildet Erasmus Darwin (1731 bis 1802), der in seinen »Gesetzen des organischen Lebens« (1794 bis 1796) bereits die Entstehung der Instinkte, die Anpassung an die Verhältnisse, die Vererbung erworbener Eigenschaften im Sinne seines großen Enkels darstellt.

Entgegen Humes Anzweiflung »aller Wissenschaft, Tugend und Religion« machten andere seiner Landsleute den Standpunkt des sogenannten gesunden oder gemeinen Menschenverstandes geltend, der uns von Gott verliehen und älter als alle Philosophie sei. Seine Wahrheiten, zum Beispiel die Wirklichkeit der äußeren Dinge, der Kausal»instinkt«, die mathematischen und logischen Sätze, das Dasein der Seele, leuchten »von selbst« durch eine natürliche Gewißheit ein, ebenso wie auf praktischem Feld die des uns ebenfalls eingepflanzten »moralischen Sinnes« (vergl. Hutcheson, S. 169). Diese »Schottische Schule« – so genannt, weil sie in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts an den Universitäten Schottlands die Herrschaft gewann – bezeichnet, wie schon Kant in seinen Prolegomenen erklärt hat, ein »auf die Neige Gehen von Einsicht und Wissenschaft«, oder, wie man sagen könnte, den Selbstverzicht auf Philosophie zugunsten jenes orakelhaften »gemeinen Verstandes«, mit dem man alles beweisen kann, was einem beliebt. Sie hat gleichwohl auf die deutsche, französische und englische »Popular«-, d. h. angeblich »Volks«-Philosophie nicht unbedeutend eingewirkt.

B. In Frankreich

Die französische Aufklärung trägt, besonders zu Anfang, weniger philosophische Züge als die englische, dringt dagegen um so stärker in die politischen, kirchlichen, sozialen Verhältnisse ein.

1. Bayle, Montesquieu, Voltaire

1. Als der »Beginner des Kampfes« wird schon von Friedrich dem Großen in einem Brief an Voltaire Pierre Bayle (1647 bis 1706) bezeichnet. Sohn eines hugenottischen Geistlichen, als Jüngling eine Zeitlang durch jesuitischen Einfluß katholisch, dann wieder kalvinisch, Lehrer der Philosophie in Sedan, später in Rotterdam, dort 1693 wegen seiner freien Ansichten abgesetzt, hatte er am eigenen Leibe den Dogmatismus und die Unduldsamkeit beider herrschenden Religionsbekenntnisse erfahren. Freilich mit seinen persönlichen Anschauungen hält auch er ebendarum, noch mehr fast wie Hume, zurück. Aber er weist in schärfster Art auf den Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion, Vernunft und Offenbarung hin. Und daraus ergibt sich ihm die Forderung unbedingter Duldsamkeit (Toleranz), selbst gegenüber einer Gemeinschaft von Atheisten, wie er das zum ersten Male in der Geschichte der christlichen Philosophie erklärt hat. Denn die Sittlichkeit eines Menschen ist unabhängig von seinen religiösen oder metaphysischen Ansichten. Eigentlich philosophische Leistungen hat Bayle nicht aufzuweisen, dafür ist sein naturwissenschaftliches Interesse zu gering, seine skeptische Natur zu stark ausgebildet. Das Werk, in dessen ausführlichen kritischen Anmerkungen er mit philologischem Scharfsinn, an das Größte wie das Kleinste herangehend, selbst die verwickeltsten Fragen klarzulegen versteht, war ein großes, vierbändiges »historisch-kritisches Wörterbuch« (Dictionnaire historique et critique), zuerst 1695/97 in Rotterdam gedruckt; denn unter Ludwigs XIV. Absolutismus konnte ein so freigeistiges Werk in Frankreich nicht veröffentlicht werden. Durch seine lebendige, geistvolle, schlagfertige Schreibart weiß Bayle, darin Lessing ähnlich, auch den sprödesten Stoff interessant zu machen. So ist er denn auch viel gelesen worden. Er ist von Einfluß auf Leibniz und Hume gewesen; der bekannte Gottsched hat sein Werk 1744 ins Deutsche übersetzt. Seine eigentliche Wirksamkeit in Frankreich begann erst mehr als ein Menschenalter nach seinem Tode, indem die radikaleren Aufklärer aus seinem Satz von der Widervernünftigkeit der Kirchenlehren den Schluß zogen, daß nicht die Vernunft der Kirche, sondern die Kirche der Vernunft sich unterzuordnen habe.

2. Während Bayle seine aufklärerische Kritik vorzugsweise der Religion zuwandte, übertrug sie der adlige Südfranzose Montesquieu (1689 bis 1755) in erster Linie auf die Politik. Bekannt wurde er zuerst durch seine Lettres Persanes (1721), in denen er, unter der Maske zweier reisender Perser, die heimatlichen Zustände vom Standpunkt eines religiösen und politischen Liberalismus mit Schärfe geißelte. Ähnlich erblicken seine »Betrachtungen über die Ursache der Größe der Römer und ihres Verfalls« (1734) Roms Größe in seiner politischen Freiheit. Sein aufsehenerregendes philosophisches Hauptwerk aber war »Der Geist der Gesetze« (1748), das in umfassenderer Weise als früher Bodin (S. 123 f.) den »Geist der Gesetze« eines Volkes aus der Summe seiner natürlichen und geschichtlichen Bedingungen (Klima, Bodenbeschaffenheit, Sitten, Religion usw.) herzuleiten suchte und schon den Satz ausspricht: »Das Interesse ist der größte Monarch in der Welt.« In einen gewissen Widerspruch mit dieser realistischen Auffassung stellt er dann doch als nachahmenswertes Staatsideal den Konstitutionalismus Englands hin, das er während eines zweijährigen Aufenthalts (1729 bis 1731) näher kennengelernt hatte, mit seiner Dreiteilung der Gewalten: gesetzgebende, vollziehende und richterliche. Staatliches Hineinregieren will er möglichst vermieden wissen: »Man lasse uns, wie wir sind,« »die Natur verbessert alles.« Im übrigen fehlt ein festes philosophisches Prinzip.

3. Weit einflußreicher als seine beiden Vorgänger für die Verbreitung der Aufklärung in Europa ist Voltaire (eigentlich F. M. Arouet, 1694 bis 1778) geworden, der gleichfalls durch einen englischen Aufenthalt (1726 bis 1728) nachhaltige Eindrücke empfangen hatte und Newtons Naturphilosophie, daneben aber auch Lockes Empirismus und den Deismus nach Frankreich verpflanzte. Seine bewundernden »Briefe über die Engländer« (1728) haben einen bedeutenden Einfluß auf das französische Geistesleben geübt. Voltaire ist jedoch beinahe noch weniger als Bayle und Montesquieu ein philosophischer Kopf oder gar Systematiker, sondern nur ein höchst beredter Verbreiter fremder Ideen. Übrigens ist in der Entwicklung seiner Weltanschauung eine gewisse Wandlung wahrzunehmen. Ein Gottesleugner freilich, für den ihn seine Gegner gern ausgeben, ist er nie gewesen. Er bekennt vielmehr einmal: »Wir verdammen den Atheismus, verabscheuen den Aberglauben, lieben Gott und die Menschheit.« Was er vielmehr mit ingrimmigem Hasse bekämpft, ist nur der Fanatismus und die Unduldsamkeit der Kirche. Sein »Vertilgt die Verruchte!« brachte er häufig am Schluß seiner Briefe an vertraute Freunde an. Ganz ernsthaft gemeint ist deshalb auch, trotz seiner sonstigen Spötterlaune, sein bekannter Ausspruch: »Gäbe es keinen Gott, so müßte man ihn erfinden, denn die ganze Natur verkündet laut, daß er existiert.« Dagegen greift er allerdings, bezeichnenderweise nach dem Erdbeben von Lissabon (1755), besonders bissig in seinem »Candide« (1757), den Leibniz-Wolffschen Optimismus an. Auch die Unsterblichkeit der Seele dünkt ihm später nur eine schöne Hoffnung. Überhaupt soll man sich von der nutzlosen Erörterung spekulativer Fragen möglichst abwenden, statt dessen lieber »hingehen und unseren Garten bebauen«, wie der »Candide« schließt.

So erscheint ihm denn als die wahre Religion und Philosophie die Moral, über die uns unsere Vernunft so sicher belehrt wie das Einmaleins. Deshalb lehren ihm zufolge auch alle Philosophen von Zoroaster bis Shaftesbury im Grunde dasselbe. Aber das Zeitalter der Vernunft und Aufklärung, für das er begeistert streitet und das er bald anbrechen sieht, gilt in seinem Sinne nur für die »anständigen Leute«, nicht für die »Lakaien, Schuster und Dienstmädchen und die andere Canaille«. Vergleicht er doch das Volk, das »immer dumm und barbarisch bleiben« muß, einmal mit »Ochsen, die Joch, Peitsche und Heu brauchen«. Er selbst freilich hatte sich durch sein Talent, aber auch durch seine Geschmeidigkeit und Biegsamkeit gegenüber den Mächtigen reichlich »Heu«, d. h. ein großes Vermögen erworben. Für seine Gebildeten und Besitzenden erwartet er das Heil und die ihnen zukommende Bewegungsfreiheit vom aufgeklärten Despotismus seiner Zeit, wie er denn auch mit dessen Vertretern: Friedrich II. von Preußen, Katharina von Rußland, den Königen von Schweden und Dänemark in persönlicher Verbindung stand. So ist Voltaire im Grunde nur religiöser Aufklärer. Sein politischer Liberalismus ist äußerst gering: »Das Volk hat zur Selbstbildung weder Zeit noch Fähigkeit. Es scheint nötig, daß es einen unwissenden Pöbel gebe; wenn dieser zu vernünfteln anfängt, so ist alles verloren!« Und doch sollte er noch erleben, daß einstige »Lakaien« wie Rousseau zu philosophieren begannen; und kaum war ein Vierteljahrhundert seit seinem Tode verflossen, da ging die große Revolution auch über seine »gute Gesellschaft« zur Tagesordnung über.

Seine »Philosophie der Geschichte« (1765) – der Ausdruck stammt von ihm – will Montesquieu weiterbilden, doch fehlt es ihm, wie fast allen Aufklärern, an geschichtlichem Sinn. Und er bevorzugt die »moralischen« vor den physischen Ursachen.

2. Sensualisten, Enzyklopädisten

Philosophischer als Voltaire, mehr friedlicher Gelehrter als streitbarer Kämpfer ist der Abbé B. von Condillac (1715 bis 1780). Er läßt in seiner »Abhandlung von der Empfindung« (1754), über Locke hinausgehend, als einzige Quelle der Erkenntnis die Empfindung oder Sinnenwahrnehmung gelten. Alle Bewußtseinstätigkeit ist umgeformtes Empfinden: so zum Beispiel Aufmerksamkeit Hingabe an eine Empfindung, Erinnerung deren Nachwirkung, Abstrahieren heißt eine Empfindung von den anderen absondern usw. Auch die Ethik beruht auf der Empfindung von Lust und Unlust. Schön und gut nennen wir, was uns Lust gewährt.

In einem gewissen Gegensatz zu diesem theoretischen Sensualismus (von sensus gleich Sinn) nimmt dann der gut katholische Abbé doch die Einheit und Unsterblichkeit der Seele, einen göttlichen Gesetzgeber, ein allgemeingütiges Sittengesetz und eine grundsätzliche Verschiedenheit der Empfindung von der Ausdehnung an. So konnte sowohl eine spiritualistische als eine materialistische Richtung sich auf ihn berufen: sowohl der Genfer Naturforscher Bonnet (1720 bis 1793), der die sinnlichen Reize nur als Gelegenheitsursachen für die Betätigung des einheitlichen Bewußtseins betrachtet und mit seinem phantasiereichen Landsmann Lavater einen ätherischen Seelenleib annimmt, als der Reorganisator der medizinischen Schulen Frankreichs Cabanis (1757 bis 1808), der die Gedanken für Absonderungen des Gehirns erklärt, übrigens doch die Erkenntnis der »ersten Ursachen« für unmöglich hält, darum einer Art Pantheismus huldigt. Überhaupt warf sich in Frankreich der von den metaphysischen Systemen sich abgestoßen fühlende Trieb später, Condillac folgend, immer mehr auf das Feld der psychologischen Zergliederung oder »Ideologie«, so daß schon seit der Revolution die Bezeichnung als »Ideologe« die gewöhnliche für einen Philosophen wurde.

Nach der ethischen Seite war der Sensualismus schon vorher ausgebaut worden durch Helvetius (1715 bis 1771), der in seinem Hauptwerk »Vom Geist« (1758, zweite, neubearbeitete Auflage unter dem Titel »Vom Menschen, seinen Fähigkeiten und seiner Erziehung«, 1772) als die alleinige Norm menschlicher Handlungen die Selbstliebe bezeichnet. Unter der Erziehung versteht er die Gesamtheit aller auf den Menschen wirkenden Einflüsse, darunter besonders den der staatlichen Gesetzgebung. Da nun Interesse und Leidenschaft allein unsere Seele wahrhaft erregen, so muß die Gesetzgebung diese auf das öffentliche Wohl zu lenken verstehen; daneben sind religiöse Gebote überflüssig oder schädlich. Die wahre Religion stimmt mit der wahren Moral überein.

Mit Helvetius nähern wir uns dem Kreise der sogenannten Enzyklopädisten, d. h. den Herausgebern und Mitarbeitern an der »Enzyklopädie (d. h. zusammenfassende Darstellung) der Wissenschaften, Künste und Gewerbe«, die als eine Art Konversationslexikon der Aufklärung in 35 Bänden in den Jahren 1750 bis 1780 erschien und, neben zahlreichen nützlichen Kenntnissen, vor allem eine freigeistige Weltanschauung weit über Frankreichs Grenzen hinaus verbreitete, indem sie in vorsichtiger Form, zuweilen mit raffinierter Schlauheit, das Kühnste zu sagen wußte.

Die wissenschaftliche Einführung in die Enzyklopädie schrieb der eine ihrer beiden ersten Herausgeber, der berühmte Mathematiker d'Alembert (1717 bis 1783), der einige Jahre später in seinen auf Anregung Friedrichs II. verfaßten »Elementen der Philosophie« (1759) eine durchaus sensualistische Logik lehrte. Die Philosophie soll eine bloße Wissenschaft der Tatsachen, eine Art »Experimentalphysik der Seele« sein. Auch die Moral muß nach ihm auf der Grundlage des »wohlverstandenen« eigenen Nutzens ruhen. Immerhin macht seine Kritik vor den auch ihm feststehenden mathematisch-physikalischen Grundbegriffen halt. Von der »Enzyklopädie« zog sich der scharfsinnige, aber etwas zaghafte Gelehrte, im ganzen eine kühle Skeptikernatur, später zurück.

Anders der zweite Herausgeber, die eigentliche Seele des Unternehmens, zu dem er allein etwa tausend Artikel beigesteuert hat: Denis Diderot (1713 bis 1784), der in seiner bewegten Geistesentwicklung zugleich den Verlauf der französischen Aufklärungsphilosophie überhaupt widerspiegelt. Anfangs mit Locke und Shaftesbury entschiedener Gottesgläubiger (Theist), huldigt er dann eine Zeitlang der Skepsis Bayles: »O Gott, ich weiß nicht, ob du bist; aber ich will in meinen Gesinnungen und Taten so verfahren, als ob du mich denken und handeln sähest!« Darauf erst geht er zu seinem endgültigen Standpunkt eines pantheistischen oder, wenn man will, atheistischen Materialismus über. Danach gibt es nur ein einziges großes Individuum: das Weltall, das einem sich selbst spielenden Klavier gleicht und eines persönlichen Gottes nicht bedarf. Trotzdem verwahrt er sich gegen eine rein mechanische Naturauffassung. Der Organismus sei es, der die Nahrung in Blut und Nerven umsetze. Sogar der Stein »fühlt«. Und vom Bewußtsein bekennt er einmal, daß es sich aus einem bloßen Beieinander empfindungsfähiger Stoffteile nicht erklären lasse.

Auf dem Gebiet der Ethik hatte er anfangs, wie die Engländer und Schotten (Seite 169), einen besonderen moralischen Sinn angenommen, den er jedoch später aufgab. Seine Tugendbegeisterung dagegen behielt er trotzdem bei. Ja, er erklärt ganz ungeschichtlich die politisch-sozialen Schäden der Zeit für das Machwerk herrschsüchtiger Schurken; man brauche dem Menschen nur seine ursprüngliche Freiheit wiederzugeben, um ihn glücklich zu machen. Der religiöse Glaube erscheint ihm in seinen Wirkungen verderblich. Gegen das Dasein eines gütigen Gottes sprechen die zahlreichen Übel in der Welt. Einer anderen Unsterblichkeit als unseres Fortlebens im Nachruhm bedürfen wir nicht (ähnlich Schiller).

Auch auf dem Gebiet des Romans, des Dramas und der Kunsttheorie ist der vielseitige Diderot schöpferisch tätig gewesen. Seinen »Rameaus Neffe« sowie seinen »Versuch über Malerei« (1765) hat Goethe übersetzt und mit Anmerkungen begleitet. Aber das Schöne wird von ihm dem »Wirklichen« untergeordnet – für die »Natur« ist ein Buckliger in seiner Art ein nicht minder vollkommenes Geschöpf als die Venus von Medici – und büßt so seine Selbständigkeit ein.

Diderot blieb im Grunde seines Herzens ein begeisterter Idealist, den nur Zeit und Umgebung in das materialistische Lager getrieben hatten. Anders die nun folgenden eigentlichen

3. Materialisten

Schon Buffon (1707 bis 1788), der Direktor des berühmten Botanischen Gartens in Paris, hatte in seiner glänzend geschriebenen 43bändigen »Allgemeinen und besonderen Naturgeschichte« (1749 bis 1789), einem naturwissenschaftlichen Seitenstück zu der großen »Enzyklopädie«, alle Lebewesen aus organischen Stoffverbindungen, sogenannten »Molekülen«, abgeleitet, überhaupt die ganze Natur als einen großen Organismus angesehen; nur daß er anstatt der Bezeichnung als »Naturkraft« vorsichtshalber noch den Namen des »Schöpfers« gebrauchte.

Ganz offen dagegen tritt der Materialismus zutage in den Werken des Mediziners Lamettrie (1709 bis 1751), der infolgedessen nicht bloß seine Stellung als französischer Militärarzt verlor, sondern sogar in dem »freien« Holland sich nicht halten konnte und erst bei dem freidenkenden Friedrich II., als »Opfer der Pfaffen und der Narren«, eine Zuflucht fand, von dem er auch nach seinem plötzlich erfolgten frühen Tode durch eine akademische Lobrede geehrt wurde. Erst F. A. Lange in seiner »Geschichte des Materialismus« hat eine gerechtere Würdigung des wegen seiner »epikureischen« Schriften teils geschmähten, teils totgeschwiegenen Materialisten bewirkt.

Durch Selbstbeobachtung während einer Fieberkrankheit wurde Lamettrie zu dem Gedanken gebracht, daß unser ganzes Denken vom Körper abhängt. Eine körperliche Seele ist undenkbar. »Je weniger Sinn, desto weniger Gedanken,« führt er in seiner »Naturgeschichte der Seele« (1745) aus. Indem er Descartes' mechanische Lehre von den Tieren auf die Menschen ausdehnte, behauptete er: »Auch der Mensch ist eine Maschine« ( L'homme machine, 1747). Das Leben steckt in den kleinsten Körperfasern, nicht in einer rätselhaften »Seele«; das Denken ist eine bloße Eigenschaft des Gehirns. Übrigens ist nach ihm alles Lebendige mit Empfindung begabt; der Mensch nimmt nur deshalb mit seinem Geiste die oberste Stelle ein, weil er die meisten Bedürfnisse und – die feinsten Gehirnwindungen besitzt.

Die Ethik wird dementsprechend durchaus auf das Lustgefühl gegründet, das jedoch je nach seiner Dauer und Feinheit von sehr verschiedenem Werte sein kann. Durch Wohltun, Sympathie, gemeinnütziges Handeln erhöht man seine Lust. Reue und Gewissensbisse dagegen sind (wie übrigens auch der Idealist Kant meint) nutzlos. Der Verbrecher ist als Kranker anzusehen (heute Lombroso!); an Stelle der Priester und Rechtsgelehrten sollten Ärzte treten! Alle Menschen sind geschaffen, um glücklich zu sein. Welt und Menschen lernen wir nur durch Beobachtung und Erfahrung kennen. Um jenseitige Dinge oder um das Dasein einer Gottheit soll man sich keine Sorgen machen; wenn er auch einmal meint, die Möglichkeit eines Weiterlebens nach dem Tode sei nicht gänzlich unmöglich, wie ja auch die Raupe nicht wisse, daß einst ein Schmetterling aus ihr werde.

Der folgerechteste Materialist des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich ist bezeichnenderweise ein eingewanderter Deutscher gewesen. Im Jahre 1770 erschien unter dem Namen des bereits ein Jahrzehnt früher gestorbenen Mirabaud ein Buch, das sich als »System der Natur« mit dem Untertitel »Gesetze der natürlichen und der sittlichen Welt« bezeichnete. Als der wahre Verfasser ergab sich erst zwanzig Jahre später der früh nach Frankreich ausgewanderte und als Mitarbeiter für das Gebiet der Chemie an der Enzyklopädie beteiligte Pfälzer Baron Dietrich von Holbach, der sein gastfreies Haus zu Paris, ebenso wie seinen Landsitz, zum Sammelpunkt eines erlesenen Kreises von Freigeistern gemacht hatte. Holbach will, wie einst im Altertum Epikur und Lukrez, die Menschen von der Furcht vor dem Übersinnlichen erlösen und zur Natur zurückführen. Übersinnliche Wesen existieren nur in unserer Einbildung. In Wahrheit gibt es nichts als die von Ewigkeit her durch sich selbst bestehende Materie und deren Bewegung, die nach unverbrüchlichen, jeden Zufall ausschließenden Gesetzen vor sich geht. Alles stammt aus ihr, alles kehrt wieder zu ihr zurück. Zwecke und Werte sind Dinge, die nur von uns in die Natur hineingetragen werden.

Auch der Mensch steht unter den keine Ausnahme duldenden Gesetzen der Materie. Das, was wir seine »Seele« zu nennen pflegen, ist abhängig von seinen Gehirnnerven. Er besitzt keinen freien Willen, keine Unsterblichkeit. Der Tod ist bloß ein Übergang in eine andere Daseinsform. Was in der Physik als Anziehung, Abstoßung, Trägheit bezeichnet wird, ist in der moralischen Welt Liebe, Haß, Selbstsucht. Einziges Motiv und letzter Zweck alles Handelns ist die Erlangung dauernden Glücks, zu dem jedoch auch Liebe und Beifall der Mitmenschen, ja mehr als das: das Bewußtsein des Wirkens für andere, Arbeit, Bedürfnislosigkeit und die daraus hervorgehende Selbstachtung gehören; wie andererseits nach Holbach die Habsüchtigen, Lüstlinge, Gewaltherrscher usw. schon von der Natur selbst gestraft werden. So erweist sich dieser konsequente Materialist in der Ethik gleichwohl als Idealist.

Als größten Feind der natürlichen Moral und des Menschenglücks betrachtet Holbach die Kirche oder, was für ihn das nämliche ist, die Religion. Denn sie entfremdet die Menschen der Natur und dem Leben; sie trennt sie, anstatt sie zu einigen. Für das religiöse Gemüt und für das innerste Wesen des Christentums besitzt er kein Verständnis, sondern schiebt alles ihm Mißfällige den angeblichen Erfindungen einer herrschsüchtigen Priesterschaft in die Schuhe. Seine ganze Darstellungsart ist trocken und dogmatisch (lehrhaft), wie er denn zum Beispiel noch mit höchst weitschweifigen Erörterungen die scholastischen »Beweise« für das Dasein Gottes widerlegen zu müssen glaubt. Aber er ist wenigstens ehrlich und folgerecht. Da es nur eine Wahrheit gibt und die Wahrheit niemals schaden kann, so darf sie auch nicht Alleinbesitz weniger Gebildeten bleiben, sondern muß allen verkündet werden: obgleich es, wie der Verfasser fürchtet, der Masse des Volkes noch lange an Zeit und Neigung zu den eindringenden Studien gebrechen wird, welche die Sache fordert. Politisch ist Holbach Demokrat. Der Regierung ist ihre Gewalt von der Gesellschaft übertragen; sie muß daher auch für deren Wohlfahrt sorgen. Darüber aber geht er nicht hinaus.

Geistlichkeit und Gericht schritten natürlich alsbald gegen das revolutionäre Buch ein. Aber auch die Masse der »Aufgeklärten«, Voltaire voran, lehnte es ab, es bekannte sich zu ihm nur Diderot und sein engster Kreis. Der französische Geist fühlte sich schon durch die trocken-lehrhafte Schreibart des gründlich vorgehenden Deutschen abgestoßen. Indes auch die deutsche Jugend der Sturm- und Drangperiode fand das Werk nach Goethes Äußerung »grau« und »totenhaft«. Ganz anders stellte sie sich, wenigstens ihr besserer, begeisterungsfähiger Teil, zu dem Evangelium eines anderen französischen Denkers:

4. Jean Jaques Rousseau

Rousseau (1712 bis 1778) kann ein »Aufklärer« nur im weitesten Sinne des Wortes genannt werden. Er ist im Gegenteil ein erbitterter Gegner der bloßen Verstandesaufklärung. Wir haben hier nicht die abenteuerliche Lebensgeschichte des Genfer Uhrmachersohnes zu erzählen, die man überdies in seinen sehr ungeschminkten Selbstbekenntnissen (Confessions) nachlesen kann, sondern nur sein philosophisches Denken zu charakterisieren. Dies ist durchaus Gefühlsphilosophie.

Im damaligen Frankreich bestanden auch in einer Reihe von Provinzstädten sogenannte »Akademien«, d. h. gelehrte Gesellschaften, die von Zeit zu Zeit wissenschaftlich-literarische Preisaufgaben ausschrieben. So hatte die Akademie von Dijon 1749 die Preisfrage gestellt: ob die Erneuerung der Wissenschaften und Künste zur Verbesserung und Reinigung der Sitten beigetragen habe? Diese Frage traf Rousseau, wie er uns selbst erzählt hat, bis ins Mark. Er wurde sich mit einem Male bewußt, daß der Welt des Verstandes, der Äußerlichkeit, der leeren Formen, die er allerwärts um sich her erblickte, in seinem Innern eine ganz andere, wertvollere Welt gegenüberstand: die des Gefühls, der Innerlichkeit, der Persönlichkeit. Deshalb beantwortete er jene Frage in seiner Abhandlung (Discours) »Über die Wissenschaften und die Künste« mit einem entschiedenen »Nein!« Die rein verstandesmäßige, abseits vom wirklichen Leben des Volkes stehende, nur der »guten Gesellschaft« vorbehaltene »Kultur«, wie sie Voltaire und seine bisherigen enzyklopädistischen Freunde verkündeten, muß ersetzt werden durch einen völlig anderen Zustand, der auf der Rückkehr zur Natur, d. h. nicht in die Urwälder oder zu den Vierfüßlern, wie ihm Voltaire spottend vorwarf, sondern zur natürlichen Einfachheit, Unverdorbenheit des Herzens, Freiheit und Güte beruht. Wohl war Rousseaus Begründung philosophisch ziemlich unreif; aber die Glut der Begeisterung, die aus seinen Worten sprach, machte den Verfasser der Arbeit, die denn auch den Preis gewann, mit einem Schlage zum berühmten Mann.

Fünf Jahre darauf bearbeitete er eine zweite Aufgabe derselben Akademie: »Welches ist die Ursache der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das Naturgesetz gerechtfertigt?« Hatte er 1749 der falschen Bildung den Krieg erklärt, so wandte er sich jetzt mit schärfster Kritik gegen die bestehenden politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse, die bloß Herren und Knechte kennen, und stellte ihnen als Ideal die Gleichheit des ursprünglichen Naturzustandes entgegen. Die Ungleichheit begann mit der Entstehung des Privateigentums: »Der erste, der ein Stück Land einzäunte und dann zu sagen sich anmaßte: das gehört mir, und Leute fand, die einfältig genug waren, es zu glauben, wurde der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.« Das Eigentum umgab sich dann alsbald mit Gesetzlichkeit und Recht – es entstanden Arme und Reiche: bemächtigte sich der Obrigkeit – es gab Starke und Schwache; und ging schließlich über zu Willkür- und Gewaltherrschaft: es bildeten sich Herren und Diener. Ob jene ideale Gleichheit eines Naturzustandes wirklich jemals existiert hat, ist einerlei. Rousseau stellt den letzteren durchaus nicht, wie man häufig hört, als historische Tatsache, sondern nur als Richtmaß hin. Wir müssen, wenn anders wir zu gedeihlichen Zuständen gelangen wollen, wieder zu »natürlichen«, d. h. der natürlichen Vernunft entsprechenden Staatseinrichtungen zurückkehren.

»Zurück zur Natur!«, so lautet überhaupt der Ruf, den Jean Jaques auf allen Gebieten erhebt. Sein Liebesroman »Die neue Heloïse« (1761) kämpft für das Recht des Herzens gegenüber der Ungleichheit der gesellschaftlichen Verhältnisse und für die Heiligkeit der Ehe; sein »Emil« (1762) für eine natürliche Erziehung, sein unmittelbar darauf erschienener »Gesellschaftsvertrag« (Contrat social) für eine natürlich-vernünftige Staatsordnung. Uns gehen nur die beiden letzteren Schriften an.

Der »Emil« schildert in halb roman-, halb lehrbuchartiger Form die Erziehung seines Helden, und im vierten und letzten Buch auch seiner zukünftigen Gattin (Sophie) von Kindesbeinen an bis zu ihrer Heirat. Die Erziehung findet statt durch einen sehr weisen Hofmeister. Sie soll vor allen Dingen »negativ« sein, d. h. die Natur walten, den jungen Menschen von innen heraus natürlich sich entfalten lassen und alle Künsteleien fernhalten (wozu freilich gewisse Kunstgriffe von Emils weisem Erzieher nicht immer stimmen). Am liebsten möchte Rousseau das Kind, das nach seiner Ansicht von Natur gut ist und nur durch die sozialen Verhältnisse verdorben wird, ganz der Erziehung durch die Natur und die Dinge selbst überlassen; indes er sieht ein, daß die nun einmal bestehenden Verhältnisse zu einer überlegten Erziehung durch Menschen zwingen. Darum begnügt er sich, seinen Emil und seine Sophie zu möglichst natürlichen, nach den Grundsätzen der Vernunft und des natürlichen Gefühls gebildeten Wesen heranreifen zu lassen. Es war das für seine völlig verbildete und im Erziehungswesen äußerst rückständige Zeit eine ungeheure Tat, so daß manche Schwächen des Buches, wie die noch ziemlich untergeordnete Meinung von der Frau und das Absehen von der öffentlichen Erziehung, dem Verfasser gern nachgesehen werden können. Von seiner gewaltigen Wirkung auf die Zeit soll später noch die Rede sein. Vorläufig wurde das Buch, ebenso wie der »Gesellschaftsvertrag«, in Paris wie in seiner Genfer Heimat auf Gerichtsbeschluß öffentlich verbrannt!

Der »Emil« enthält zugleich Rousseaus Religionsphilosophie, in dem in das Buch eingeschalteten berühmten »Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars«. Schon der Umstand, daß dieser es dem jungen Emil in der freien Natur im Anschauen der herrlichen Alpenwelt vorträgt, ist bezeichnend. Rousseaus Religion – und sie gilt ihm als der Kern und der Gipfel echter Bildung – ist eben durch und durch Gefühlsreligion, wie sie dem unverdorbenen Menschenherzen natürlich ist, dagegen vom bloßen Verstand nicht erfaßt werden kann. »Ich sehe Gott in seinen Werken, fühle ihn in mir und um mich her, kann aber nicht erkennen, wer er ist und was sein Wesen ist.« Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß die wahre oder natürliche Religion der Vernunft widerstreite. Im Gegenteil, Rousseau verteidigt ihre Vernunftmäßigkeit gegen die alle Religion bekämpfenden Materialisten einer-, gegen die Rechtgläubigen beider Konfessionen andererseits. Eine besondere göttliche Offenbarung, noch dazu in einem geschriebenen Buche, ist für sie nicht notwendig; sie, auch das wahre Christentum, besteht vielmehr in dem von Gott unmittelbar in unser Herz gesenkten religiösen Gefühl. Natürlich stieß er damit, wie schon mit seiner Betonung der natürlichen Gutheit des Menschen und seiner Verwerfung allzu früher religiöser Einwirkung auf die Seele des Kindes, auf die schärfste Gegnerschaft der Kirche, gegen die er seinen Standpunkt an einem offenen Briefe an den Pariser Erzbischof und besonders glänzend in seinen »Briefen vom Berge« (Amsterdam 1764) gegen den gegnerischen Genfer Staatsanwalt verteidigte.

Im Zusammenhang mit jener Bekämpfung des Materialismus stehen auch die wenigen allgemein-philosophischen Ausführungen, die sich überhaupt bei Rousseau finden. Er tritt als Streiter für die Freiheit des Willens und die auch von unserem Gerechtigkeitsgefühl geforderte Unsterblichkeit der Seele auf. Mag auch die Wahrnehmung allein aus den Sinnen stammen, das Vergleichen und Urteilen kann nur aus einem selbständigen Geist entspringen, welcher dem bloßen Stoff als völlig andersartiges Prinzip gegenübersteht.

Das Hauptinteresse unseres Philosophen ist jedoch auf Staat und Gesellschaft gerichtet. Griff der »Diskurs« von 1755 den bestehenden Staat der Willkür und Ungleichheit an, so entwirft der Contrat social von 1762 den idealen Staat. Denn ebensowenig wie dort der »Naturzustand« ist hier der »Gesellschaftsvertrag«, durch den der einzelne freiwillig auf seine ursprüngliche Freiheit zugunsten der Gesamtheit verzichtet, als geschichtliche Tatsache der Vorzeit gedacht, sondern nur als der Maßstab dessen, was sein soll. Rousseau vertritt nicht mehr die konstitutionelle Monarchie Lockes oder Montesquieus mit ihrer »Trennung der Gewalten«, sondern die Volkssouveränität der demokratischen Republik. Letzter Quell aller Staatsgewalt und alles Rechtes ist der Gemeinwille (volonté générale), der nicht mit der Summe sämtlicher ihrem persönlichen Interesse nachgehenden Einzelwillen zusammenfällt, sondern seiner Natur nach einzig auf das Wohl des Ganzen gerichtet ist. In der Anwendung dieser radikalen Grundsätze zeigt sich Rousseau zurückhaltender, als man von seiner Leidenschaftlichkeit erwarten sollte. Auf die äußere Regierungsform zum Beispiel kommt es ihm weniger an. Die reine Demokratie hält er nur in kleinen Gemeinwesen – er wird an sein heimatliches Genf gedacht haben – und selbst in diesen nur für annähernd durchführbar. Je größer das Gebiet, desto stärker muß die Zentralgewalt sein, die unter Umständen sogar in den Händen einer Wahlaristokratie liegen kann, falls sie nur durch den unmittelbar zu äußernden Volkswillen kontrolliert wird. Für sehr große Staatsgebilde empfiehlt er einen Staatenbund, wie ihn ja bald darauf die nordamerikanischen Freistaaten durchführten. Auch in seinen politischen Anschauungen bricht vielfach sein Gefühlsleben durch: das platte Land ist ihm lieber als die Stadt, Ackerbau und Handwerk lieber als Handel und Industrie. Auch eine Staatsreligion mit dem Glauben an Gott und eine Vergeltung nach dem Tode wird durch seine Staatsverfassung eingeführt!

Nach jenem Satz von dem ersten Begründer der »bürgerlichen Gesellschaft« und nach seinen leidenschaftlichen Angriffen gegen die ganze Kultur seiner Zeit sowie gegen die fortschreitende Arbeitsteilung, die den wirtschaftlich Schwächeren vom Belieben des Stärkeren abhängig macht, könnte man versucht sein, den so oppositionellen »Bürger von Genf« für einen Sozialisten zu halten. Das ist er aber noch nicht. Die am stärksten sozialistisch klingende Stelle, die uns in seinen Schriften aufgefallen ist (Emile in der Reclam-Übersetzung II, S. 505 f.), spricht doch nur von der Berechtigung des souveränen Staates, wenn es not tut, sich durch Gesetz alles Einzelbesitzes zu bemächtigen, wie es – in Sparta zur Zeit des sagenhaften Lykurg geschehen sei. Im Widerspruch damit wird vielmehr sonst gerade die »Heiligkeit« und »Unverletzlichkeit« des Privateigentums anerkannt, geradeso wie sie ein Dutzend Jahre nach seinem Tode die »Menschenrechte« der Französischen Revolution feierlich proklamierten. Und durch den »Gesellschaftsvertrag«, durch den er für die verlorene natürliche Freiheit die bürgerliche eintauscht, erhält der neue Staatsbürger (citoyen) statt des bisherigen Rechtes auf alles das »Eigentumsrecht von allem, was er besitzt«.

5. Rousseaus Nachwirkungen. Sozialistische Anfänge

Rousseaus anfangs von allen Seiten, von den herrschenden staatlichen und kirchlichen Gewalten wie von den enzyklopädistischen Aufklärern, bekämpfte Anschauungen erwiesen sich auf die Dauer siegreich und übten einen gewaltigen Einfluß schon auf die Zeitgenossen aus. In geistiger Beziehung fast mehr noch, als in Frankreich selbst, in dem politisch noch ganz tot daliegenden Deutschland. Nicht bloß die »Stürmer und Dränger« der deutschen Dichtung sind von ihm bewegt, nicht bloß der junge Schiller ist leidenschaftlich zugetan ihm, »der aus Christen Menschen macht«. Sondern sogar so bedächtige Menschen wie Immanuel Kant gestanden, von ihm »zurechtgebracht« worden zu sein. Die neuen Erziehungsbestrebungen Basedows und Pestalozzis reichen auf ihn zurück. In Frankreich aber ist er vor allem, obschon er einen gewaltsamen Umsturz der bestehenden Ordnung für seine Person abgelehnt hatte, der Philosoph der großen Revolution geworden. Ihre drei Schlagworte: »Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!« sind Geist von seinem Geiste. Sein »Gesellschaftsvertrag« war die »Bibel der Revolution«, nach der die Robespierre und Saint-Just die Konventsverfassung von 1793 entwarfen.

Schon zu Rousseaus Lebzeiten waren übrigens seine Ideen auch an den Volkswirtschaftern und Politikern nicht spurlos vorübergegangen. So zeigt namentlich der edle Turgot, in den Anfangsjahren Ludwigs XVI. kurze Zeit Reformminister, wie die nationalökonomische Schule der Physiokraten überhaupt, der er angehört, Anklänge an Rousseau. An ihn anknüpfend, vertreten diese Männer gegenüber dem alten Schutzzoll- und Merkantil- (Handels-) System auch auf volkswirtschaftlichem Gebiet die »Herrschaft der Natur« (denn das bedeutet eben »Physiokratie«). Das will sagen: auf dem Felde des Handels freies Waltenlassen (laissez passer, laissez aller) der natürlichen Kräfte, daneben starke staatliche Fürsorge für die Landwirtschaft, da eben die Erzeugnisse der Natur, des heimischen Bodens die beste Quelle des Volkswohlstandes seien.

Ein Anhänger Rousseaus ist auch der wackere Condorcet (1743 bis 1794), ein bedeutender Gelehrter, der den Ausbruch der Revolution als Beginn der Vernunftherrschaft mit Freuden begrüßte, aber in ihren Stürmen unterging und in den letzten neun Monaten vor seinem Tod in einem einsamen Versteck seine glänzende »Skizze eines historischen Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes« niederschrieb. Danach ist der von Natur gute Mensch einer unendlichen Vervollkommnung fähig; man muß ihn nur über sein wahres Interesse aufklären, das auf dem Waltenlassen der Vernunft auf allen Gebieten beruht. Das höchste Gut besteht in dem Fortschritt der Gesamtheit. Die natürlichen Ungleichheiten der Geistesanlagen und des Besitzes können durch geeignete Einrichtungen und Gesetze, namentlich eine gründliche Umgestaltung der Erziehung, mit der Zeit verringert werden.

Rousseau hatte aus seinem Satze, daß die Erde niemand, ihre Früchte allen gehören, noch nicht die wirtschaftlichen Folgerungen zu ziehen vermocht; ebensowenig die wohlmeinenden Turgot und Condorcet. Dennoch fallen schon in seine Zeit die Anfänge einer sozialistischen Theorie in Frankreich. Utopistische Vorläufer traten bereits im siebzehnten Jahrhundert auf. So der aus Allais in Südfrankreich stammende Vairasse, der im Jahre 1677 eine utopistische »Geschichte der Sevaramben« veröffentlichte, in der auch Industrie und Handel schon sozialisiert erscheinen, während das Gegenstück dazu für die Sozialisierung des platten Landes Jean Meslier (1664 bis 1730) lieferte. Dieser merkwürdige Mann war Pfarrer in einem elenden Ardennendorf und durch seine Lebenserfahrungen zu einem leidenschaftlichen Atheisten, Materialisten und Hasser alles Bestehenden in Kirche und Staat geworden, hat aber gleichwohl sein ganzes Leben lang sein Amt beibehalten. Um so glühender hat er dann seinen Gefühlen in seinem hinterlassenen »Testament« Ausdruck gegeben, das man erst 1864 vollständig und in Amsterdam (!) herauszugeben gewagt hat. Die Hauptsache an dem dreibändigen Werk ist allerdings die kühne und leidenschaftliche Kritik der bestehenden Zustände, während der an die damals noch in vielen Gegenden Frankreichs vorhandenen »Ackerbaugemeinschaften« anknüpfende positive soziale Neubau ziemlich dürftig ist. (Über Vairasse und Meslier unterrichtet anschaulich C. Hugo (Lindemann) in den »Vorläufern des neueren Sozialismus«, Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf.)

Sozialistisch weiter ausgeführt ist das 1755, natürlich ohne Verfassernamen erschienene »Gesetzbuch der Natur« (Code de la nature), das lange Zeit Diderot zugeschrieben wurde, aber von einem niederen Geistlichen (Abbé) Morelly herrührt, der zwei Jahre vorher einen ziemlich phantastischen utoptistischen Staatsroman, »Die Basiliade« herausgegeben hatte. Morelly sieht die Wurzel alles Übels im Privateigentum, an das er deshalb, radikaler als Rousseau, die Axt angelegt wissen will. Sein Gesetzbuch umfaßt zwölf Abschnitte mit im ganzen 117 Artikeln. Das »unabänderliche Grundgesetz« besteht aus drei Paragraphen: 1. Nichts soll im Privatbesitz eines einzelnen stehen, ausgenommen die Gegenstände des täglichen Gebrauchs. 2. Jeder Bürger gehört dem Staat und wird auf Kosten der Gesamtheit unterhalten und beschäftigt. 3. Jeder Bürger wird nach seinen Kräften, seinen Anlagen und seinem Alter zum Allgemeinwohl beitragen; demgemäß werden seine Pflichten durch das Wirtschaftsgesetz geregelt. Es findet weder Tauschhandel noch Verkauf statt, sondern tägliche Verteilung aus den öffentlichen Magazinen nach dem Bedürfnis. Die Arbeitszeit wird von den Produktionsleitern bestimmt. Vom 20. bis 25. Jahre sind alle zu landwirtschaftlicher Arbeit verpflichtet. Die Alten, Kranken und Arbeitsunfähigen kommen in besondere Asyle. Jeder Bürger erhält vom Staat ein einfaches und ein Festkleid. Jeder Bürger soll nach Erreichung des heiratsfähigen Alters sich vermählen; die erste Ehe ist für zehn Jahre unauflöslich. Jede Mutter ist verpflichtet, ihr Kind selbst zu stillen. Die Erziehung ist bis zum 14. Jahre gemeinsam. Von Gott soll den Kindern nichts weiter gesagt werden, als daß er die allgütige Endursache aller Dinge ist, und daß er sich im Menschen durch dessen soziale Triebe offenbart, wie denn überhaupt die soziale Erziehung die Hauptsache ist.

Als eine Art »Revisionist« gegenüber dem prinzipielleren Morelly erscheint sein Berufsgenosse, der Abbe Mably (1709 bis 1785), der in seiner Schrift »Von der Gesetzgebung« (1776) das Ideal ebenfalls in der von Natur und Vernunft gewollten Gleichheit aller sieht, indessen, weil eine völlige Gleichheit sowie Gütergemeinschaft in der heutigen Welt doch unerreichbar, die bestehenden Übel wenigstens durch eine streng moralische Erziehung und gute Gesetze wie Gleichstellung der Stände, Aufhebung des Privaterbrechts, Verordnungen gegen den Aufwand bis zu einem gewissen Grad einschränken will.

Der gewaltsame Versuch des sechsundzwanzigjährigen Gracchus Babeuf, durch seine »Verschwörung der Gleichen« 1796 die bestehenden Verhältnisse umzustürzen, der nach Lage der Dinge notwendig scheitern mußte, hat keine philosophische Unterlage von Bedeutung gehabt. Die weitere Geschichte sozialistischer Theorien in Frankreich und Europa überhaupt gehört erst dem neunzehnten Jahrhundert an.

C. In Deutschland

1. Christian Wolff, seine Vorgänger und Nachfolger

Noch in Leibnizens Zeitalter fällt das Wirken des berühmten Natur- und Völkerrechtslehrers Samuel Pufendorf (1632 bis 1694), der sein naturrechtliches System aus einer Verbindung von Hobbes' Selbsterhaltungs- mit Grotius' Geselligkeitstrieb in streng geometrischer Abfolge, also nach der Methode Spinozas, ableitet. In die Geschichte der Aufklärung gehört er deshalb, weil er, zum erstenmal in Deutschland, die Philosophie grundsätzlich von der Theologie absondert. Das Naturrecht gilt für Juden und Türken genau so wie für Christen.

Ebenso will Christian Thomasius aus Leipzig (1655 bis 1728) zwar die Theologie aus der Bibel, aber die Philosophie aus der Vernunft abgeleitet wissen. Am wichtigsten ist er in kulturgeschichtlich-nationaler Hinsicht, indem er, nach dem Vorbild der großen französischen Schriftsteller, zum erstenmal in der Muttersprache zu seinen Vorlesungen einlädt und die erste wissenschaftliche Zeitschrift in deutscher Sprache herausgibt. Er mußte eben darum auch von seiner verzopften heimatlichen Universität weichen, um später an der neugegründeten Hochschule von Halle (1694) Anstellung zu finden. Philosophisch ist er sehr flach; seine Philosophie ist die des »schlichten« Menschenverstandes, und seine Sittenlehre hat den vergnüglichen Zweck, »durch Vernunft und Tugend zu einem glückseligen, galanten (!) und vergnügten Leben zu führen«.

Leibniz besaß keinen seiner würdigen Schüler. Denn der ihn im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts an Berühmtheit beinahe noch übertreffende Breslauer Gerberssohn Christian Wolff (1679 bis 1754) ist das Musterbild deutscher Gründlichkeit, aber auch – Pedanterie. Wir brauchen deshalb auch auf den Inhalt seiner zahlreichen Lehrbücher über Natur, Gott, Welt, Seele und »alle Dinge überhaupt« nicht näher einzugehen. Anzuerkennen ist, daß er standhaft den Standpunkt der Vernunft gegenüber allem Autoritätsglauben verfocht; wie er denn deshalb auch 1723 von dem preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. von der Universität Halle aus den preußischen Landen »bei Strafe des Stranges« verwiesen wurde, um an der Marburger Hochschule eine Zuflucht zu finden und erst nach der Thronbesteigung seines Verehrers Friedrich II. (1740) nach Halle zurückzukehren. Auch hat er das Verdienst, in seiner überhaupt verständlichen philosophischen Sprache eine große Anzahl uns jetzt ganz geläufiger Ausdrücke (wie Bewußtsein, Vorstellung, Verhältnis) geschaffen oder doch in allgemeinen Gebrauch gebracht zu haben. Allein seine alles Schwunges bare, rein verstandesmäßige Auffassung der Dinge, jene Wut, alles unter ein bestimmtes Schema, in eine neue Rubrik zu bringen, die Goethe als jungen Leipziger Studenten so abstieß, seine weitschweifige und schulmeisterhafte Trockenheit machen ihn uns heute ganz ungenießbar. Von ihm, als dem Vertreter der Staatsallmacht eines aufgeklärten Absolutismus, stammt übrigens auch das berüchtigte Wort vom »beschränkten Untertanenverstande«. Die geoffenbarte Religion darf ihm zufolge Übervernünftiges, bloß nichts Widervernünftiges enthalten.

Nur noch ein paar uns heute humoristisch anmutende Beispiele davon, wohin sich diese über alles mitreden wollende Nüchternheit zuweilen verirrte. Die Sterne haben nach Wolff den Zweck, – uns nachts zu leuchten. Die Geschichte ist dazu da, »Tugenden und Laster, insonderheit die Klugheit und Torheit, durch ihr Exempel zu lehren«. Die Poeten dienen »zur Belustigung der Ohren«, sind aber unter staatliche Aufsicht zu nehmen, auf daß sie nicht »durch verliebte und unzüchtige Verse gute Sitten verderben«. In einem der acht Quartbände von Wolffs Naturrecht wird unter anderem ausführlich die Frage erörtert: ob lautes Schmatzen beim Essen gegen das Naturrecht sei!

Wolffs echt deutsche Pedanterie machte Schule. Ein Schriftsteller der Zeit, der 1737 eine Geschichte der Wolffschen Philosophie herausgab, zählte schon damals 107 schriftstellernde Wolffianer auf! Anhänger Wolffs hatten bald fast alle deutschen Katheder inne. Zu ihnen gehörten daneben aber auch Männer und Frauen aller Stände und Religionsbekenntnisse; denn auch für Damen wußte man das Wolffsche System zurechtzumachen, wie es von Formey, dem einflußreichen Sekretär der Berliner Akademie, in seinem bändereichen Werke La belle Wolffienne (»Die schöne Wolffianerin«) geschah. Wie Gottsched im literarischen, so war Christian Wolff im philosophischen Deutschland der allgebietende Diktator. Es verlohnt sich nicht, auf alle Glieder der Wolffschen Schule, auch auf die etwas selbständigeren unter ihnen einzugehen. Wir nennen nur einen von ihnen, Alexander Baumgarten, und auch ihn nicht deshalb, weil er den heute üblichen Sprachgebrauch von »subjektiv« und »objektiv« eingeführt hat, oder weil seine vielgebrauchte, tausend Paragraphen zählende, natürlich lateinisch geschriebene »Metaphysik« auch von dem ihn schätzenden Kant als Vorlesungshandbuch benutzt worden ist. Sondern weil er zuerst das künstlerische Schaffen unter dem Namen Ästhetik, d. h. Empfindungslehre, von der verstandesmäßigen Logik abgesondert hat. Der logischen Vollkommenheit der Wahrheit entspricht nach ihm die sinnliche der Schönheit; freilich besteht für ihn die Kunst noch in der Nachahmung der Natur, und seine »Wissenschaft vom Schönen« ist im Grunde nur eine weitschweifige und recht langweilige Poetik.

Vor diesem Durchschnitt der Kathederphilosophen zeichneten sich nur wenige selbständige Köpfe aus. Dazu gehört außer dem jüngeren Kant der berühmte Mathematiker Euler (1707 bis 1783), der bereits Zeit und Raum als unentbehrliche mathematisch-physikalische Voraussetzungen (nicht »Dinge«) bezeichnet; ferner der gleichfalls mathematisch und naturwissenschaftlich durchgebildete Lambert (1728 bis 1777), der nicht bloß in der Weltentstehungstheorie seiner »Kosmologischen Briefe« (1761), sondern auch in seinen philosophischen Schriften Kant schon näher steht, der ihm seine Kritik der reinen Vernunft widmen wollte: beide übrigens keine Universitätsprofessoren. Endlich Tetens (1786 bis 1801, in Kiel, später Kopenhagen), dessen Hauptverdienst in seiner feinen psychologischen Zergliederung besteht, und dem selbst Kant manches, wie die Einteilung der sogenannten »Seelenvermögen« in Erkennen, Begehren und Fühlen verdankt.

2. »Popularphilosophie«

Schon an dem Beispiel Formeys hatten wir gesehen, wie manche Wolffianer die Lehre des Meisters durch eine noch weitere Verwässerung, als sie der Philosophie Leibnizens schon durch Wolff selbst zuteil geworden war, der breiten Masse der »Gebildeten« mundgerecht zu machen suchten. Das geschah dann im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts auch seitens anderer Richtungen in immer steigendem Maße. Da gerade die Wolffsche Schule durch ihre Pedanterie und Schematisierung alles Denkbaren sich »ungenießbar und endlich entbehrlich gemacht hatte« (Goethe in »Wahrheit und Dichtung«), räumte sie allmählich der sogenannten »Philosophie des gesunden Menschenverstandes« in weitem Maße das Feld. Für »Volksphilosophie« sollte eigentlich das Beste gerade gut genug sein. Statt dessen trieben sich die meisten dieser Volks- oder Popularphilosophen in dem seichtesten Gewässer oberflächlichen Denkens herum. In der theoretischen Philosophie dürre Verstandesaufklärung nach dem Muster der in vierzig umfangreichen Jahrgängen vorliegenden »Allgemeinen Deutschen Bibliothek« (1765 bis 1805) des Berliner Buchhändlers Friedrich Nicolai, der gerade durch seine Plattheit einen großen Teil des »gebildeten« Lesepublikums für sich gewann. Die Beförderung der menschlichen Glückseligkeit galt als einziger Zweck der Ethik, die damit zur langweiligen Moralpredigt herabsank. Der wegen seiner »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« (1771 bis 1774) lange Zeit als ästhetische Autorität angesehene Sulzer stellt noch die trockenen Lehrgedichte des Engländers Pope über die Gesänge Homers; seine Kunstlehre bleibt teils verstandesmäßig, teils moralisierend. In der Religion wurden die verschiedenartigsten theologischen Standpunkte vertreten, von rechtgläubigem Bibelchristentum bis zum krassen Naturalismus des Dr. Bahrdt. Allein die eigentlichen Glaubensartikel der deutschen Aufklärung waren doch der Glaube an Gottes Dasein, Weisheit und Güte und an die persönliche Unsterblichkeit, mit Aussicht auf eine unendliche Vervollkommnung im Jenseits. Dabei sollte sich Gottes Weisheit und Güte auf das Kleinste erstrecken, z. B. auf das Reifen der erquickenden Kirschen im heißen Sommer statt im kalten Winter. In der Psychologie endlich sah man von ernsteren wissenschaftlichen Untersuchungen in diesen Kreisen ganz ab, erging sich dagegen in oberflächlichen seelischen Betrachtungen aller Art oder gab sich der Mode gewordenen, in Selbstbeobachtungen, Selbstbekenntnissen, Beschreibung fremder Seelenzustände schwelgenden Gefühlsseligkeit hin. Viele »Philosophen« sahen überhaupt von eigenem Denken ab und kochten sich als »Eklektiker« ein Gemisch aus anderer Leute Brei zusammen; denen war dann, wie Kant einmal sagt, »die Geschichte der Philosophie selbst ihre Philosophie«. Andere, wie König Friedrich II., kamen theoretisch über ihre französischen Vorbilder (Voltaire, d'Alembert) nicht hinaus, von denen sie doch ihre andere seelische Artung im Grunde hätte trennen müssen. Will man sich ein Bild davon machen, was in den sechziger und siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland als »Philosophie« bewundert wurde, so denke man an die uns heute durch ihre Weitschweifigkeit und Oberflächlichkeit aufs äußerste langweilenden »philosophischen« Romane Wielands oder an die Schriften des »Philosophen für die Welt«, Engel in Berlin.

Trotz alledem wollen wir nicht verkennen, daß selbst ein Nicolai als konsequenter Kämpfer gegen Vorurteile aller Art seine Verdienste besitzt, und daß Basedow, trotz seiner von oberflächlichen Gemeinplätzen wimmelnden »Praktischen Philosophie«, doch einen kräftigen Anstoß zur Erziehungsreform gegeben hat. Überhaupt gab es doch, gerade in dem allezeit mit Recht durch seine Gründlichkeit berühmten Deutschland, mancherlei ernstere Naturen, die sich mit der vulgären Aufklärungsphilosophie nicht zufrieden gaben. Der von den Berliner Aufklärern, die sich um Biesters »Berlinische Monatsschrift« gruppierten, als ihr Meister sehr bewunderte Moses Mendelssohn (1729 bis 1786) freilich zeigt, bei aller warmen Empfindung, reinen Gesinnung und Klarheit des Stils, doch keine philosophische Kraft und Tiefe: weder in seinem »Phädon« (1767), in dem er einen sehr ungeschichtlichen Sokrates die Unsterblichkeit der Seele »beweisen« läßt, noch in seiner letzten Schrift, den »Morgenstunden«, in denen er das Dasein eines persönlichen Gottes unumstößlich nachgewiesen zu haben glaubte. Die Philosophie soll nach ihm nur behandeln, was mit des Menschen Glückseligkeit zusammenhängt. Strenge Logik, Natur- und Geschichtsforschung liegen ihm fern. Darum hatte er auch, seitdem 1781 die Kritik des »alles zermalmenden« Kant erschienen war, das Gefühl, daß seine und der ihm Gleichgesinnten Rolle in der Philosophiegeschichte ausgespielt war.

Tiefer gingen einige rationalistische (vernunftgemäße) Theologen, von denen wir den Hamburger Gymnasialprofessor H. S.  Reimarus (1694 bis 1768) deshalb nennen, weil er, als Verfasser der nach seinem Tode von Lessing herausgegebenen sogenannten »Wolfenbütteler Fragmente«, als einer der frühesten Bibelkritiker in Deutschland bekannt geworden ist. Sie bildeten übrigens nur einen Teil der von ihm – notgedrungen infolge der damaligen Rückständigkeit – zurückgehaltenen »Schutzfrist für die vernünftigen Verehrer Gottes«, in welcher er vom Standpunkt der natürlichen oder Vernunftreligion zwar den Pantheismus Spinozas und Lamettries materialistische Theorien bekämpfte, aber auch den Glauben an übernatürliche Offenbarungen bestritt und, in vermeintlicher Konsequenz dieses Standpunktes, ganz unhistorisch die biblischen Lehren für ein Gemisch von Betrug und Irrtum erklärte.

Mit Lessing (1729 bis 1781) haben wir bereits den Mann genannt, der den Gipfel der Aufklärung darstellt und sie doch in gewissem Sinn schon zu überwinden beginnt. Mit ihr und im Geiste Leibnizens behauptet er: »Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.« Aber er vertritt doch eine geschichtlichere Auffassung als die meisten Aufklärer in seiner letzten Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechtes«, der zufolge das Judentum des Alten und das Christentum des Neuen Testaments nur Vor- und Entwicklungsstufen zu dem reinen Menschentum sind, das für den göttlichen Erziehungsplan der Menschheit das Endziel bildet. Sein »Christentum der Vernunft«, das er ja auch von seiner dramatischen »Kanzel« in Nathan dem Weisen predigte, will er übrigens nicht mit dem »vernünftigen Christentum« seiner Zeitgenossen schlechtweg gleichgesetzt wissen, sondern erblickt dessen Kern im »Testament« des Johannes, d. h. der Nächstenliebe. Ob er in seinen letzten Lebensjahren zum Spinozismus sich bekannt hat, wie F. H. Jacobi später behauptete, ist mit Sicherheit nicht mehr festzustellen. Wichtiger als alle Einzelmeinungen ist zudem sein allgemeiner Standpunkt, dem das immerwährende Streben nach Wahrheit höher stand als ihr vermeintlicher Besitz, und der überall auf reinliche Scheidung der Begriffe und Erkenntnisgebiete drang. In beiderlei Hinsicht, wie auch in dem Kern seiner Religionsauffassung, war er der Vorläufer eines Größeren: in Lessings Todesjahr erscheint das kritische Hauptwerk Immanuel Kants.


 << zurück weiter >>