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V.

Wer nicht an kleinen Dingen sich zu freuen weiß,
Den werden große nie vergnügen können.
Wer nicht versteht der Blum' und Quelle Sprache leis',
Der kann die Weisheit nie sein eigen nennen.

Wer nicht sein Haus sich traut zu machen weiß.
Wird nimmer in Gesellschaft Frieden haben.
Wer nicht vergnügt ist in der Seinen Kreis,
Der kann auch draußen sich nicht wirklich laben.

Wer nicht das Ewige zu finden weiß
In den vergänglichen und ird'schen Dingen,
Der lebet nicht zu Gottes Ruhm und Preis,
Er kann wohl seufzen, doch nicht fröhlich singen.

Es war ein gar fröhliches Beisammensein, als die traulichen Räume des Pfarrhauses zu Burgdorf nun wieder alle die Kinder umschlossen, die hier ihre frohe und glückliche Kindheit verlebt hatten. Sie fanden einander doch sehr verändert; denn in dem Alter, in welchem sie waren, machen zwei Jahre einen wesentlichen Unterschied. – Ferdinand und Margareth waren entschieden die Bedeutendsten in der kleinen Gesellschaft, ihrer äußeren Erscheinung wie inneren Entwicklung nach; Pastor Stiegs bekannten sich das ohne Neid, sie liebten sie wie ihre eigenen Kinder und hatten für alle nur den einen Wunsch: sie auf dem schmalen Wege, der zur Gottseligkeit führt, wandeln zu sehen. Sie wußten auch, daß, wo viel Licht, auch viel Schatten ist, daß große Gaben auch große Gefahren sind.

»Ich hätte nie gedacht,« sagte die Pastorin in traulichem Zwiegespräch mit ihrem Mann, »daß Ferdinand so hübsch und so liebenswürdig werden könnte. Er ist wirklich ein prächtiger Junge. Ich bin froh, daß er noch Theologie studiert hat, sie erfüllt seine ganze Seele und ist kein todtes Wissen bei ihm, sondern die Liebe Christi durchdringt alles. Sein Auge strahlt, wenn das Gespräch auf göttliche Dinge kommt, und neulich strebte er vergebens, seine Rührung zu bewältigen und die Thränen zurück zu drängen, als wir von der Liebe Christi sprachen, die sich für uns Sünder zu Tode geliebt.«

»Gott gebe ihm noch mehr Festigkeit,« antwortete Pastor Stieg ernst, »daß er fest hält, was er ergriffen. Trotz seines Feuereifers braucht er sehr eine Stütze, um nicht laß und müde zu werden.«

»Weißt Du,« entgegnete die Pastorin sinnend, »ich glaube, Margareth wäre eine solche Stütze für ihn. Was sie ist, das ist sie ganz. Gewiß, die Gebete ihrer Eltern umgeben sie in besonderer Weise und lassen nichts an ihre Seele treten, was ihr Schaden thun könnte. Es ist wunderbar, wie sie von all den Versuchungen, die in Berlin über sie gekommen sind, so unangefochten geblieben ist. Welch ein anderes Mädchen ihres Alters würde nicht schweren Schaden davon gehabt haben? Aber wie ein unberührtes Kind ist sie hindurch gegangen.«

»Ja, ja, sie ist herrlich, eine köstliche Blume in Gottes Garten,« sagte Pastor Stieg, – »aber ein Kind, – nein Emma, ein Kind ist sie eigentlich nicht. Mir hat sie ordentlich imponirt, als sie mir wieder entgegentrat. Eine Würde, eine Hoheit, ein fester Wille drückt sich auf ihrem Gesicht, in allen ihren Bewegungen aus, – ich möchte sie eine königliche Jungfrau nennen.«

»O, sie kann auch wieder fröhlich und herzig wie ein Kind sein, sich an dem Kleinsten freuen! Und dann – ein Gnadenkind ist sie doch ganz gewiß.«

»Gott sei Lob und Dank, ja,« entgegnete Pastor Stieg, »aber wäre sie das auch nicht, so würde sie eine emancipirte Frau werden. Wenn einer Frau männlicher Verstand, männliche Thatkraft von Gott verliehen ist, so kann sie ihre Weiblichkeit nur als Frucht des Glaubens und als eine Gnadengabe behalten. Doch ein echtes Weib kann und muß ja gerade recht stark sein: stark im Glauben, stark im Lieben, stark im Dulden. Schwach sein ist nicht weiblich, sondern weibisch. Denke an all' die heiligen Frauen, die uns in der Bibel geschildert werden, sie waren stark – aber im Herrn und seiner Stärke.«

»Unser Heinrich ist auch prächtig,« – sagte die Pastorin nach einer Pause, »nur fast gar zu still; er hat solchen reichen Schatz in seiner Brust, doch er theilt nie aus, er tritt so gar wenig aus sich heraus.«

»Um so mehr wird er behalten. Stille Wasser sind tief. Um Heinrich ist mir nicht bange. Er ist eine selige Seele, die ihr Herr, er komme wann er komme, in seinem Heiligthum finden wird: sein Leben ist verborgen mit Christo in Gott. O, Heinrich kann man es ansehen, wo er weilt; es ist eine Klarheit, ein Friede, eine stille Freude in ihm, von der er selber nichts weiß, die aber Andere ahnen und fühlen. Es ist, als ginge eine geheime Kraft von ihm aus. Merkst Du nicht, wie Marie sich immer enger an ihn schließt, auch Lilli scheint lieber mit ihm, als mit dem feurigen Ferdinand zu verkehren.«

Beide schwiegen. Dann sagte die Pastorin mit einem kleinen Seufzer: »wie mag es in zehn, in zwanzig Jahren mit unsern Kindern aussehen? Wo werden sie dann alle sein?«

»Emma, laß sie sein, wo sie wollen,« schloß der Pastor, indem er mit seiner Frau nach dem Garten ging, »nur selig! nur selig!«

In der Weinlaube des Gartens fanden sie das junge Volk versammelt. Die schneeweiße Damastserviette deckte den grünen Tisch, schwarzes und »klares« Brod, goldgelbe Butter und ein Töpfchen mit Honig stand mit dem Kaffeegeschirr zierlich geordnet bereit, und Marie wartete nur der Eltern, um aus der großen Kaffeekanne den labenden Nachmittagstrunk auszutheilen.

»Das ist ja heute herrlich hier draußen,« sagte die Mutter, indem sie den von Heinrich für sie bereit gehaltenen traulichen Eckplatz einnahm, »aber wir haben Euch nicht lachen hören, fast glaubten wir, Euch garnicht im Garten zu finden.«

»Ja,« sagte Ferdinand, »wir waren aber auch in einem ernsten Gespräche.«

»Was war es denn? Laßt uns Theil nehmen,« fragte der Vater.

»Margareth,« fuhr Ferdinand fort, »hat da ein Buch von Scriver: »Gotthold's zufällige Andachten« gelesen und sie sagt, daß es ihr nicht gefallen hat, während Heinrich es eifrig vertheidigt.«

»Ja,« unterbrach Margareth, »ich habe nur das daran zu tadeln, oder vielmehr das hat so unangenehmen Eindruck auf mich gemacht, daß etwas, was ja so natürlich ist, erst gedruckt und so dem Herzen des Lesers vorgelegt wird. Es giebt doch wohl kaum irgend einen irdischen Gegenstand, der sich nicht auf das Himmlische beziehen läßt, und ein Herz, das überhaupt himmlisch denkt, wird und muß dies fühlen, ohne erst durch solch' ein Buch dazu getrieben zu werden. Und dann scheinen mir die Parabeln auch so oberflächlich.«

»Du hast sie gewiß nicht alle gelesen,« unterbrach Heinrich.

»Nein, allerdings nicht, ich habe auch nie ein Buch, das Beweise für die Wahrheit der Bibel, oder über die Pflicht, Gott zu lieben, enthielt, auslesen können. Ich kann mir das nicht anpreisen und anbeweisen lassen, was so natürlich ist, – wer wird einem kleinen Kinde vordociren, daß es seine Mutter lieben soll? So denke ich auch, man kann keine Blume sehen, ohne daß sie uns nicht tausendmal mehr sagt, als die blühendste, orientalische Blumensprache ihr in den Mund legen kann. Ich kann nicht bei einer weißen Lilie vorbei gehen, ohne mein Auge niederzuschlagen, denn ich bin nicht rein wie sie; und doch kann ich sie auch nicht ohne selige Freude ansehen, denn trotzdem hat Gott mich lieber als diese Blume, und wenn er schon für sie so herrlich sorget, wie vielmehr wird er es für mich thun; und wiederum erfüllt mich ihr Anblick mit Jauchzen und Wonne, denn sie erzählt mir, daß auch die Heiden noch Gottes Kinder werden sollen, auf ihren Blättern steht geschrieben: »aber die Wüste und Einöde wird lustig sein und das Gefilde wird fröhlich stehen und wird blühen wie die Lilien;« und dann flüstert sie mir noch viel süße Worte zu von jener Herrlichkeit, die an uns soll geoffenbaret werden, und unwillkürlich muß ich singen:

Unter Lilien jener Freuden
Sollst Du werden,
Seele, schwinge Dich empor.

Ganz andere Gedanken erweckt das Marienblümchen. Da steht es im Grase, unscheinbar aussehend; schneidet des Gärtners Hand es sammt der Wurzel aus dem wohlbekannten Erdreich, dann schreit es wohl laut auf vor Schmerz, und kann sich an den fremden, stolzen Garten, in den es nun gepflanzt ist, nicht gewöhnen; aber sieh', seine Blätter haben sich gemehrt, unbewußt ist eine ganz neue Schöne über das unscheinbare Blümchen gekommen, – es ist zum Tausendschön geworden. Und wenn ich nun das sehe dann ist es mir eine lebendige Auslegung des Spruches: was ich jetzt thue, das weißt Du nicht Du wirst es aber darnach erfahren;« und der neue Name, den das Blümchen trägt, er erinnert an den Lobgesang, den es in seinem Herzen ob seiner Verwandlung bewegt, und der in Worte übersetzt wohl lauten würde:

O, daß ich tausend Zungen hätte
Und einen tausendfachen Mund,
So stimmt' ich damit um die Wette
Aus allertiefstem Herzensgrund,
Ein Loblied nach dem andern an
Von dem, was Gott an mir gethan.

Und wiederum, jenes verkrüppelte Bäumchen, das dort im Sande ein elendes Leben hinschleppt, predigt deutlich das Wort des Psalmisten: »so geht's einem jeden Baume, der nicht gepflanzt ist an den Wasserbächen;« dort in der Ecke jene Tannenpflanzung sagt uns von Gottes Treue, die wir im Sommer des Glückes, wenn tausend Blumen uns umblühen, oft wenig beachten, nur etwa als einen schönen Hintergrund zu dem bunten Bilde unserer Freude passiren lassen, die aber, wenn's draußen stürmt und schneit, in herrlichstem Glanze strahlt. Der Kirchthurm dort drüben ist ein zum Himmel weisender Gottesfinger und so viel höher er ist, als die ihn rings umgebenden Wohnhäuser, so viel höher sind Gottes Gedanken als der Menschen Gedanken. – Seht Ihr da im Winde das Blümchen, das fliegende Herz, sich bewegen? Der leiseste Windhauch erschüttert es und läßt es hin und her schwanken. Das ist ein Bild unseres Herzens, ehe Jesus Christus es trägt, ehe es zur Ruhe gekommen ist in ihm, – o, ich könnte Euch noch stundenlang so erzählen, was einem jeden Augenblick für Gedanken kommen, wir sind wirklich von lauter Predigt umgeben; aber auch dabei fällt mir ein: jedes Blümchen, jeder Stein erzählt die Ehre Gottes und predigt uns Liebe, und wir Menschen, geschaffen nach seinem Bilde, wir reden oft so viele häßliche und thörichte Worte!«

»O Margareth!« rief Ferdinand begeistert, »wer doch Deine Augen hätte!«

Jetzt erst sah diese, wie bewegt alle von ihren Worten waren. »Der Kaffee wird kalt,« rief sie schnell, und Marie fuhr aus tiefem Sinnen auf, um ihr Amt zu verwalten.

»Aber dennoch,« nahm Heinrich nach einiger Zeit das Wort, »dennoch ergebe ich mich noch nicht. Was der Eine entbehren kann, ist dem Anderen sehr nöthig. Und hättest Du, Margareth, alle diese Parabeln gelesen, so würdest Du auch über die Einfalt und Tiefe von einigen derselben staunen. Und wenn dies alles auch nicht wäre, – der liebe, theure Scriver hat das Buch geschrieben und schon darum ist es mir werth.«

»Ich habe auch nicht gesagt,« entgegnete Margareth, »daß das Buch schlecht wäre, bewahre! Ich habe nur gesagt, daß diese Art Andachten mir nicht zusagen. Ich bin überhaupt ein komisches Mädchen darin: die meisten Erbauungsbücher sind mir zuwider, die meisten Predigtsammlungen langweilen mich. Meine Bibel und mein Liederschatz, das sind die beiden Bücher, in denen ich lebe, und mit denen ich nie fertig werde; doch jetzt lese ich auch mit großer Freude ein Buch, ich glaube Stunden häuslicher Erbauung heißt es, und obgleich dies immer nur kurze Betrachtungen sind, so geben sie mir doch mehr als viele lange Abhandlungen.«

»Nun, es freut mich, wenn Du dies Buch lieb hast,« sagte Heinrich, »der Verfasser hat köstliche Bücher geschrieben und mit seinem Wandel das Siegel darunter gedrückt. Er hat von Christo zu einer Zeit gezeugt, wo es noch eine Schande war, diesen hochheiligen Namen zu bekennen, er hat Erbauungs- und Missionsstunden in Privathäusern gehalten, wo er zur Hinterthür hat hineinschlüpfen müssen; der Ruf des Pietismus ging ihm voraus, er hat die Schmach Christi reichlich getragen, auf den Straßen hat man ihn mit faulen Aepfeln und faulen Eiern geworfen. Er ist durch böse und gute Gerüchte gegangen; als er nach England kam, haben seine Verehrer ihm die Pferde ausgespannt und ihn ziehen wollen. Und dabei ist er sich so gleich geblieben, ein Mann an Weisheit, ein Kind an Einfalt, und sein Humor ist gar ergötzlicher Art.«

»Erzähle uns doch etwas von ihm,« bat die Mutter, welche es gern sah, wenn Heinrich einmal den Sprecher machte.

Heinrich lachte.

»Mittags geht er gewöhnlich spazieren; einige Studenten haben Erlaubniß ihn zu begleiten, andere schließen sich an, so daß oft ein ganzer Haufen beisammen ist. Auf diesen Wanderungen ist er gewöhnlich in der besten Laune und es ist interessant und lehrreich zugleich, zu beobachten, wie er, von äußerlichen Dingen ausgehend, oft mit Lachen und Necken anfangend, doch immer sein tiefes Ziel zu verfolgen und zu treffen weiß. – Da war ich nun neulich Zeuge, wie er zwei Engländern ein wunderschönes Stück spielte. Diese Herren waren, wie schon so viele ihres Volkes, gekommen, den großen Mann zu sehen, anzustaunen, etwa sein Autograph und einen halb verbrannten Fidibus von ihm mitzunehmen, jedenfalls aber einige unsterbliche Worte aus seinem Munde zu vernehmen. Sie hatten Erlaubniß erhalten, sich unserm Spaziergange anzuschließen, bewaffneten sich jeder mit einer Schreibtafel, und beim Anfang des Weges nahmen sie diese in die Hand, um jedes seiner Worte aufzuschreiben. Aber der berühmte Mann schwieg! und Niemand wagte dies Schweigen zu unterbrechen. Wir gingen nach einem entfernten Dorfe; als wir halbwegs sind, steht er still, sieht die Engländer an und sagt ohne eine Miene zu verziehen mit einer Baßstimme: »Meine Herren, ziehen Sie den Muhamedanismus dem Christenthum vor?« und damit geht er weiter. Verwirrt sehen sie einander an und finden keine Antwort. Wir erreichen unser Ziel, kehren stillschweigend um; als wir an derselben Stelle sind, wo er das vorige Mal gesprochen, bleibt er wieder stehen und sagt in demselben Tone wie vorher: »Oder ziehen Sie das Christenthum dem Muhamedanismus vor?«

Wieder keine Antwort; still kommen wir an seinen Garten, wo wir uns still verabschieden. Ob die Söhne Albions dieses Gespräch aufgeschrieben haben, weiß ich nicht.«

Alle lachten. Margareth gefiel die Geschichte ausnehmend.

»So sollten es Alle machen, denen solcher Weihrauch gestreut wird,« meinte sie; Lilli bat, noch mehr zu erzählen.

»Vor einiger Zeit kündigte er uns an, daß er ein großes Handwerkerfest zu geben gedenke; wir waren All äußerst begierig, – und was geschieht? Er ladet alle die Studenten, welche einen Handwerkernamen tragen, zu sich ein, und nun stellt er denn Herrn Müller und Herrn Schneider und Herrn Zimmermann und Herrn Koch und Herrn Bäcker und Herrn Schuster einander vor und zwar mit der ernstesten Miene. – Ueberhaupt mag er sehr gern necken, Einen in die Enge treiben, nimmt aber eine derbe Antwort nicht übel, sondern freut sich ihrer. Nun ist seine Vergeßlichkeit in allen irdischen Dingen bekannt, und er selbst meinte einmal ganz naiv, er begreife es nicht, daß er auf Reisen immer seinen Koffer verlöre, den er doch so nöthig brauche. Da erzählt er denn einst einem blutjungen Studenten: »Also ich reise, aber während ich nach dem Süden strebe, ist mein Koffer wieder nach dem Norden geeilt; nun sagen Sie, wie würden Sie dies nennen, wenn es Ihnen passirt wäre: Schicksal oder Vorsehung?« Der junge Mann besinnt sich nur einen Augenblick, dann sagt er bescheiden: »Herr Professor, mein Vater würde dies eine Bummelei genannt haben.« Ueber diese Antwort soll er herzlich gelacht haben und sehr damit zufrieden gewesen sein.«

Pastor Stieg fing nun an von seinen Studentenjahren zu erzählen, Ferdinand trug auch sein Theil zur Unterhaltung bei, und so verfloß der Nachmittag wie so viele jetzt in Burgdorf unter fröhlichen Gesprächen.

Am Abend gingen Margareth und Marie allein auf den duftigen Wiesen spazieren; es war wunderbar, wie innig sich letztere an erstere geschlossen hatte, trotzdem sie mehr als je von ihr überstrahlt wurde. Der böse schwarze Wurm in Maries Herzen war zwar immer noch nicht todt, doch fristete er dort nur ein elendes Leben; und versuchte er es ja einmal sich aufzurichten und seine alte Macht wieder zu gewinnen, so wurde er gründlicher denn je gedemüthigt. Marie war an irdischer Weisheit nicht sehr gewachsen, aber sie hatte an Gnade bei Gott und Menschen zugenommen; wohl schmerzte sie jede Demüthigung noch immer, jede Enttäuschung war ihr empfindlich, aber sie suchte die Schuld in sich, nicht mehr in anderen Menschen, und weil sie im Umgange mit Gott stand, so wurde auch ihr Verkehr mit ihrer Umgebung täglich liebevoller und erquicklicher.

»Weißt Du, liebe Margareth,« begann sie jetzt, »ich wurde heute fast traurig, als Du sagtest, was Du alles in der Natur und in den leblosen Dingen liest. Wenn ich in den Garten gehe, so sehe ich die Gewächse meist darauf an, wie gut und nützlich sie für unser Haus sind, und an den Blumen freue ich mich höchstens, weil sie so schön aussehen und weil ich Andere damit erfreuen kann. Warum kommen mir nur nie so hübsche und gute Gedanken, wie Du sie immer hast?«

»Ja, und warum kommen mir nur nie so nützliche und wirthschaftliche Gedanken, wie Du sie hast?« lachte Margareth; »aber,« fügte sie plötzlich ernst hinzu, »wer weiß, wer am besten dabei fährt. Du führst Deine Gedanken auch aus, verwendest alles, wie es Dir nützlich und brauchbar erscheint, während ich mir ringsum so viel Schönes sagen lasse und doch so selten schön handele.«

»Sage so etwas nicht,« bat Marie, »wir haben Dich Alle so lieb, und mir ist es, als wäre alles gut, was Du thust. – Sieh', ich gebe mir auch wahrlich sehr ernste Mühe, gut und recht zu handeln, aber es will mir nicht gelingen. Weißt Du, ich habe eine lange Zeit gehabt, da ich so traurig und muthlos darüber war, daß ich glaubte, es sei Gottes Wille so mit mir, und daß ich die Hände in den Schooß legte und gar nicht mehr an mir arbeiten wollte. Ich meinte, ich sei nun einmal nicht schön, nicht talentvoll, nicht gut, – also würde Gott mich wohl so haben wollen, es sei alles so bestimmt und es nütze nichts, dagegen anzukämpfen. Da hab' ich mir gar keine Mühe gegeben, weder Gott noch Menschen zu gefallen, ich dachte, ich müsse nun so verbraucht werden, wie ich einmal sei. Ich las und zeichnete nicht mehr, ich zog mich nicht mehr nett und zierlich an, trotzdem Papa und Mama das so gern sehen, – nicht wahr, das war doch schweres Unrecht von mir?«

»Gewiß,« antwortete Margareth; »hast Du nie in der Bibel gelesen, wie der Herr den Knecht, welcher das eine Pfund, das er empfangen, vergraben und nicht damit erworben und gearbeitet hat, einen Schalk und faulen Knecht nennt? Wem Gott nur ein Pfund gegeben hat, der soll das eine getreu verwalten, auf die Treue kommt's an, nicht aus die Größe deß, was man zu verwalten hat. O Marie, ich glaube, wir sollen mit Allem, was wir haben, dem Herrn dienen: mit unserem hübschen Gesicht, wenn uns Gott ein solches gegeben, mit einer netten, geschmackvollen Kleidung, wenn wir irgendwie die Mittel haben, uns solche anzuschaffen. Ich kann Dir nicht sagen wie ich mich freue, wenn Jugend, Schönheit, Reichthum, Geistesgaben, Alles – dem Herrn zu Füßen liegt. Und es berührt mich unangenehm, wenn die, welche dem Herrn dienen, ihren Körper vernachlässigen, sich ihr Haar abscheeren, im Sack und in der Asche gehen; wenn sie ihre Geistesbildung versäumen, als ob das für den Herrn nicht nöthig wäre; wenn ihre Zimmer kahl und unordentlich aussehen – weil sie, wie sie sagen, alle Weisheit, alle Schönheit und allen Reichthum allein im Herrn finden. Das ist ja wahr und gut und schön, – ich möchte mich gern recht deutlich erklären, daß Du mich nicht mißverstehst. Sieh, – entweder schmücken wir uns für Gott oder für den Teufel, – ein drittes giebt es nicht! denn wenn wir unserer Eitelkeit dienen, so dienen wir dem, in dessen Solde alle Eitelkeit und alles hoffärtige Wesen steht. Nun aber meinst Du nicht, daß Gott auch mehr Wohlgefallen an der Schönheit, an der Lieblichkeit, an der Ordnung, an der Harmonie, als an der Häßlichkeit, an der Unordnung, an der Disharmonie hat? Stellen wir uns nicht Gott und Jesus als die Urbilder der Schönheit, den Himmel und die Engel als Ort und Wesen vor, die vollkommen schön sind? Und wenn wir uns in Gottes Schöpfung umsehen, in der durch Sünde verderbten Schöpfung, in der die leblose Kreatur seufzet und sich sehnet nach der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes, welche wunderbare Schönheit, welche liebliche Mannigfaltigkeit tritt uns da entgegen! Die hohe majestätische Eiche, die sich über unserm Haupte wölbt, das liebliche Moos zu unseren Füßen, – beides vollkommen schön. Warum hat Gott nur die herrlichen Blumen, die Rosen, die Kaktus, die Lilien erschaffen? Hätte er nicht Freude an der Schönheit, so hätte er ja die Erde mit lauter Dornen, Disteln und Nesseln bepflanzen können! Und sieh einmal über Dich, sieh den tiefblauen Himmel mit den goldenen Sternen, o welche Pracht! Ja wahrlich,

Wenn am Schemel seiner Füße
Und am Thron schon solcher Schein,
Was muß erst an seinem Herzen
Dort für Pracht und Wonne sein!

O Marie, wenn man nun erkannt hat, daß er der Herrlichste von allen ist, dann möchte man ihm auch alles zu Füßen legen, ihn salben mit der köstlichen Narde. Ist es nicht eine Schande, daß es jetzt fast heißt: »so lange Du gesund, schön, blühend, geehrt bist, so lange diene der Welt und dem Teufel; wenn man alt und krank und elend ist, dann ist's Zeit genug, sich zu bekehren.« Ich sage Dir, ich habe in Berlin von »Frommen« fast nicht anders sprechen hören, als von solchen, die mit allem Ringen und Trachten doch das Glück nicht haben erreichen können, die sich nun zum Ersatz Gott in die Arme geworfen haben, und wie der Fuchs von den Trauben, nun von den Weltfreuden sprechen: sie sind sauer. O des erbärmlichen Christenthums! Gottes Barmherzigkeit ist groß, er nimmt auch die an, die ihre besten Güter im fremden Dienst vergeudet haben, wenn sie aufrichtig zu ihm kommen, aber schöner ist's doch, ihm von vorn herein zu dienen und im besten Schmuck. – Sieh, Marie wem Gott schönes Haar gegeben, der soll es in aller Einfachheit so tragen, wie es ihn am besten kleidet, es nicht wild und verworren umherhängen lassen. Unser Leib ist der Tempel Gottes, seine Wohnung, da sollen wir ihn mit züchtiger einfacher Kleidung schmücken, ich glaube, Gott hat mehr Wohlgefallen an einem reinen, sauberen Gewande, als an einem schmutzigen und zerrissenen. Hat Gott uns irgend eine edle Geistesgabe, sei es Anlage zur Musik, Gesang, zum Zeichnen, zum Dichten gegeben, so sollen wir sie nicht vernachlässigen, sondern sie ausbilden, hegen und pflegen. Haben wir Sinn für häusliche Geschäfte von ihm erhalten, so sollen wir ihn praktisch üben, haben wir diesen Sinn nicht, so sollen wir ihn uns erbitten. Sind unsere Bewegungen tölpisch und hölzern, ist unser Benehmen linkisch und steif, so sollen wir dagegen kämpfen und uns bemühen, auch in solchen Kleinigkeiten besser und liebenswürdig zu werden. Und wenn ein Christ Schuhputzer ist, so soll er eben der beste Schuhputzer sein. Aber, – und das ist die Hauptsache, – daß es alles zur Ehre Gottes, zur Freude des Nächsten und zu unserer Seelen Seligkeit geschieht! Wenden wir irgend eine Gabe, heiße sie nun Schönheit, Witz oder wie sie wolle, nicht zur Ehre Gottes, sondern zu unserem eigenen Dienst an, so gilt das Wort: »ärgert dich dein Auge, so reiß es aus; ärgert dich deine Hand, so haue sie ab.«

»Aber wie kann ich denn wissen, ob ich sie zur Ehre Gottes anwende?« fragte Marie.

»Ich denke, das ist nicht so schwer zu erfahren,« antwortete Margareth: wenn wir Gott aufrichtig bitten uns dabei zu helfen, das ist schon ein Kennzeichen. Dann werden wir nicht empfindlich, wenn wir selber nicht beachtet werden, wenn unsere eigene Ehre angegriffen wird, das ist das zweite, und das dritte ist, wenn wir uns so Gott hingegeben haben, daß wir uns aufrichtig freuen können, wenn nicht unser, sondern sein Wille geschieht. Ich weiß nicht, ob ich Recht habe, aber dies dritte ist mein sich erstes Merkmal, ob ich in Gottes Dienst stehe, ihn und seinen Willen in allen Dingen suche, oder ob ich mir selber diene.«

»Margareth,« sagte Marie leise, »ich will auch versuchen, ob ich nicht zu Gottes Ehre noch so schön als irgend möglich werden kann, ich will auch noch lernen, und will auch mein Clavier und mein Zeichnen nicht vernachlässigen. Aber vor allen Dingen will ich suchen und ringen, nicht meinen, sondern Gottes Willen zu thun.«

»Darnach wollen wir Beide trachten,« erwiderte Margareth, sie zärtlich umfassend, »und ich glaube, wir werden fröhlich und selig sein in solcher Arbeit.«

»Ja,« sagte Marie nach einer Weile, »ich denke auch, man kann auf Gottes Wegen am allerfrohesten und vergnügtesten sein.«

»Und ich bezweifle,« entgegnete Margareth, »ob überhaupt Jemand anders das Recht oder das Herz zum wahren Frohsinn hat, als die Kinder Gottes; die Christen allein haben das Privilegium, vergnügt sein zu dürfen.«

»Und doch nennt man sie Kopfhänger und thut, als ob sie aller Freude entsagen müßten. – Weißt Du, in acht Tagen ist Lilli's Geburtstag, da kommen die benachbarten Pastorentöchter, auch die Töchter von unserem Gutsbesitzer Rethel mit vielem vornehmen Besuch, der diesen Sommer bei ihnen ist. Darunter ist auch eine alte Dame, die Deine Tante in Berlin kennt; sie hat nun Wunderdinge von Dir erzählt, schon ehe Du herkamst; daß Du Tanzen und Spielen für Sünde hieltest, täglich mehrere Mal zur Kirche gingest, alle Fröhlichkeit verdammtest, jede unschuldige Freude als Unrecht ansähest und wahrscheinlich noch im grauen Bußgewande Dich aus dieser gottlosen Welt in irgend eine heilige Anstalt flüchten würdest. Lilli Rethel hat dies alles unserer Lilli erzählt und hinzugefügt, daß sie sich fast fürchteten, zum Geburtstag hierherzu kommen; es sei so schon fromm genug bei uns, aber dies Mal würden Deine heiligen Blicke wohl gar keine Freude oder Lachen aufkommen lassen.«

Margareth lachte so herzlich, daß Rethels, wenn sie es gehört, wohl eine andere Meinung von ihr bekommen haben würden.

»Warte, die werde ich anführen,« sagte sie dann, »ich habe schon so halb und halb meinen Plan, – aber auch Du darfst ihn nicht wissen; ich kenne ja fast Alle, die da kommen, ich will Euch recht überraschen. Die sollen doch sehen, daß man die Welt und alles, was sie Freude nennt, verachten kann, weil man etwas viel Besseres kennt und hat, und daß man eben darum, weil man in Gott fröhlich ist, auch im Familien- und Freundeskreise Scherz und Lust haben darf, daß uns jedes Vergnügen erlaubt ist, um das wir den Herrn vorher kindlich bitten und für das wir ihm hernach danken können, daß wir alles thun dürfen, wozu wir ihn um seine Gegenwart bitten können.«

In den nächsten Tagen steckte Margareth gar viel mit Heinrich und Ferdinand zusammen. Letzterer ließ sich sogar herab, nach der nächsten Stadt zu gehen und dort Einkäufe zu machen. Dann schlossen sich die Drei in eine Stube ein, arbeiteten einen ganzen Tag zusammen und sahen dann sehr geheimnisvoll aus. Die Eltern wunderten sich über ihre Kinder; Lilli, ihres Geburtstages denkend, meinte, ein Geheimnis im Hause zu haben, sei etwas sehr hübsches; Marie würde früher sehr beleidigt gewesen sein, daß man sie nicht zur Mitwisserin machte, jetzt erhöhte sie die allgemeine Fröhlichkeit nur durch ihre vergeblichen Versuche, den »Verschworenen,« wie sie genannt wurden, auf die Spur zu kommen; endlich aber berichtete sie triumphirend: es röche furchtbar nach Siegellack, und Lilli hatte ganz deutlich Papier knistern hören.

»Nun ja, Papier und Siegellack gehören zusammen,« sagte Ferdinand kaltblütig.

Endlich kam der wichtige Tag. Das Geburtstagskind sah noch lieblicher aus, als gewöhnlich und war lauter Glück und Freude. Blumen, Segenswünsche, Geschenke und Liebe waren in Fülle da, aber von einer besonderen Ueberraschung keine Spur. Nachmittags kam ein Wagen nach dem andern auf den Hof gerollt, liebe Gäste kamen, auch Rethels mit ihrem vornehmen Besuch, der Wagen hatte sie nicht alle fasten können, zwei junge Leute standen hinten auf dem Kofferbrett als Bediente, – auf einsamen Landwegen läßt sich solch ein Spaß schon arrangiren. – Leicht sprangen sie herab, halfen den Damen beim Aussteigen, und dann stellte der junge Rethel seinen Freund, den Baron von Wallerberg, vor. Lilli stand in der Thür und empfing die Gäste.

»Höre, die ist hübsch,« flüsterte der Baron seinem Freunde zu. »Und sie soll für uns verloren sein, – in ein Kloster gehend – Sie sieht mir gar nicht darnach aus.«

»Nein, Du bist auf falscher Fährte,« antwortete Jener ebenso, »Fräulein Lilli Stieg ist nicht für uns verloren. Die schöne Margareth hat sich nicht herabgelassen, solche armen Sünder zu empfangen, sie wird wohl in irgend einer Ecke des Hauses sitzen und für unsere Bekehrung beten.«

In diesem Augenblick sah er die schöne Margareth neben sich stehen, ihre großen Augen waren auf ihn gerichtet, und das schalkhafte Lächeln, womit sie ihn empfing, machte ihn besorgt, daß sie den letzten Theil seiner Rede gehört haben möchte.

Bald war alles in der Weinlaube um den Kaffeetisch versammelt, von älteren Leuten waren nur Pastor Stiegs gegenwärtig. Ein aufmerksamer Beobachter hätte sehen können, wie Margareth fortwährend verstohlen betrachtet wurde; Alle hatten so viel von ihr gehört, sie war so oft Gegenstand des Gesprächs gewesen, nun wollte Jeder wissen, in wie weit sie seine Vermuthungen und Befürchtungen rechtfertigte – nur Baron von Wallerberg schien sie nicht zu bemerken, er hatte nur Augen für Lilli, welche in ihrem weißen Kleide, einen Kornblumenkranz auf den blonden Locken, wirklich wie eine Fee aussah. Marie war das besorgte Hausmütterchen, das nur daran dachte, Alle zu erquicken und Jedermann Aufmerksamkeiten zu erweisen. Margareth merkte wohl, daß sie beobachtet wurde, aber sie war schon von Berlin her daran gewöhnt, und blieb daher ganz unbefangen. Und trotz ihrer gefürchteten Gegenwart war bald ein so fröhliches Gespräch im Gange, und die Laube tönte von so herzhaftem Gelächter wieder, wie nur eine Gesellschaft von einigen zwanzig jungen, frohen Leuten es hervorbringen kann.

Eben wurde vorgeschlagen, auf dem großen Rasenplatz »Kämmerchen vermiethen« zu spielen, da trug Nolte einen großen verdeckten Waschkorb in die Laube, setzte ihn nieder »mit einer schönen Empfehlung« und ging wieder seines Weges. Ein Augenblick Erstaunen – Gesprächesfeuer schwieg, – dann wurde Lilli als Geburtstagskind einstimmig aufgefordert, die Hülle zu entfernen; fast zagend that sie es – da lagen lauter weiße Packete, verschieden an Form und Größe, wohl adressirt und versiegelt im Korbe. Sie warf einen schlauen Blick auf Margareth und die Brüder – die Thäter waren erkannt. Ein Packet wurde genommen, es trug die Adresse eines der anwesenden jungen Mädchen; als dieses es öffnete, kam ein neues Packet mit anderer Adresse zum Vorschein, und dann wieder eine andere, und so wiederholte es sich acht bis zehn Mal, da dann endlich der Kern des Packetes, der in einem kleinen Geschenk für die letzte Adressatin bestand, zum Vorschein kam. Aber schon unter jeder der vorhergehenden Adressen stand ein Vers, ein kleines Lied, ein bon-mot, meist humoristischer Art, oft voll feiner Anspielungen, welche zuweilen nur die Empfängerin verstand; die Verse wurden laut vorgelesen und erregten allgemeines Lachen und Vergnügen. Es waren so viele Packete da, wie junge Mädchen anwesend, so daß auf eine Jede ein kleines Geschenk kam. Oft waren auch die Verse auf der Emballage des Packetes Hinweise auf dessen Inhalt. Ein kleines Packet kam immer wieder zu Lilli zurück mit der Frage: »Duftet's nicht süß?« oder: »Mir ist's, als ob es Frühling wär;« endlich verhieß es ihr: »Wenn i komm, wenn i komm, wenn i wiederum komm, dann kehr' i ei, mein Schatz, bei Dir.« Und als es wiederum kam, war es zum zierlichen Briefe geworden, Lilli entfaltete ihn, die Unterschrift war ein von Margareths Hand gemaltes Veilchen, welches in dem Briefe im altfränkischen Schnörkelstyl um Lilli's Liebe und Schutz bat, da es in dieser Jahreszeit ganz vereinsamt stehe, aber wohl Lilli's Liebe zu ihrer Familie, von der ihre Muhmen und Basen gar viel gerühmt, kenne. Die Wohnung war: Lilli's Fenster hinterm Rouleaux. Lilli eilte dorthin und fand dort ein allerliebstes Veilchentöpfchen.

Ein anderes Packet wurde genommen. Witz und Necken jagten einander. Ein junges Mädchen, welchem nur wohl war, wenn es jeden Tag ausgehen konnte, das aber dabei in Worten für ein Stillleben und für Einsamkeit schwärmte, erhielt folgendes Verschen:

In einem Hüttchen, einsam, still und klein,
Da möcht' ich leben ganz für mich allein!
Da hörte ich der Quelle Rauschen,
Könnt' dem Gesang der Vögel lauschen, –
O, was wär' das für schöne Zeit, –
Ich liebe Dich, Du Einsamkeit!

Doch muß das Hüttchen auch nicht gar zu klein
Und auch nicht gar zu einsam sein.
Ich kann ja Nachts die Vögel hören,
Tags mit den Menschen froh verkehren. –
In einem Hüttchen ganz allein
Mit recht viel Freunden möcht' ich sein!«

Allerlei Wortspiele folgten, das Packet ging von Hand zu Hand, endlich mündete es bei Lydia Korbes, welche eine ausgesprochene Vorliebe für Knackmandeln hatte. Eine Düte mit Mandeln war der Kern des Packetes; oben an der Spitze der Düte war eine große Mandel als Sprecherin befestigt, welche in feierlichen Daktylen die in der Düte liegenden Mandeln mit den ruhig in ihren Hürden schlafenden Schafen verglich, dann aber, in leichtfüßige Jamben übergehend, den Wolf einbrechen sah, und mit den Worten schloß:

Lebt wohl, ihr Schwestern, wir gehn Alle drauf,
Lebt wohl, – die Lydia ißt uns Alle auf.

Auf Scenen in der Kindheit wurde angespielt, allerlei damals erlebte Abenteuer waren in Verse gebracht und als Devisen benutzt; der Inhalt war gar verschiedener Art: ein zierliches Nadelbuch nebst einer pomphaften Zeitungsanzeige, welche dasselbe als vortheilhafte Pensionsanstalt für junge Nähnadeln pries, und neben bester, moralischer Erziehung den Pensionairinnen noch freien Unterricht in weiblichen Handarbeiten versprach; ein Korb, alle »Wenn's« und »Aber's« hinein zu drücken und sie an's Ende der Welt zu schicken; ganze Packete voll Gesundheit und guter Laune; Geist auf Flaschen gezogen; ein Schlüssel mit einem Recept, die Herzen aufzuschließen u. dgl. m.

Schon war unter Scherz und Lachen der größte Theil der Packete geöffnet, das Papier lag haufenweise in der Laube, da kam plötzlich ein in rosa Papier gehülltes und an Margareth adressirtes Packet zum Vorschein.

Es zeigte bei seinem Hin- und Herwandern eine Nachahmung von Schillers Mädchen in der Fremde und fing an:

In einer Laub' bei jungen Mädchen
Erschien in einem schönen Jahr
Einst unter vielen andern Päckchen
Ein Päckchen klein und wunderbar.
Es war nicht in der Laub geboren,
Es war von anderem Papier!
Ach, alles Rathen war verloren, –
Doch sicher war es nicht von hier u. s. w.

Und nach vielen Enthüllungen kam ein Band Gedichte zum Vorschein mit den Worten:

O Schwester lieb', verschmäh uns nicht,
Du bist ja selber ein Gedicht.

Ferdinand und Heinrich hatten Der, die für Alle, gesorgt und sich selbst darüber vergessen, diese Ueberraschung bereitet.

Es war Abend, die Köpfe waren heiß, der Kaffee kalt geworden, als diese Packet-Episode vorüber war. Alle aber meinten, sie hätten selten solchen vergnügten Tag gehabt, und beim Abschied bekam Margareth mehr freundliche Worte und herzliche Händedrücke, als sie zum Willkommen erhalten hatte, und die Gäste dachten bei sich, es sei doch etwas Schönes, Anderen Freude zu bereiten und viel tausendmal besser, als über sie herzuziehen und sie zu verklatschen, wie sie dies bei einer Tasse Kaffee so oft gethan, und sie gestanden sich, solch' eine Frömmigkeit könne man sich schon gefallen lassen; sie halten eine kopfschüttelnde Strafpredigerin zu finden erwartet, und ein fröhliches Kind Gottes gefunden.

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