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II.

Der Seinen eingeborenen Sohn uns gab,
Wie sollt' Er uns mit Ihm nicht Alles schenken?
Wenn ich, o Jesu, Dich zu eigen hab,
Dann höret Dir mein Sinnen, Thun und Denken.

Mein Auge ist allein auf Dich gewandt,
Dein Bild seh' ich in allen ird'schen Dingen,
Sie sind mir lieb als Wunder Deiner Hand,
Und sollen mich nur näher zu Dir bringen.

O, welche Füll' beutst Du dem Christen dar!
Kunst, Poesie, Natur – es ist sein eigen!
Aus ihnen wirst Du selber offenbar.
Was Du gezeugt, das muß Dein Bild auch zeigen.

Laß nicht der Welt was nimmer ihr gehört!
Was schön, was lieblich, soll dem Herren dienen,
Uns dran zu freuen, ist uns unverwehrt,
– Das Christenthum steht nicht in sauren Mienen!

Wer Gott zum Vater hat, dem gilt das Wort:
»'s ist Alles Euer! Ich hab's Euch gegeben.«
Doch das sei unsre Sorge fort und fort,
Daß wir in Gott und Er in uns mag leben.

Margareth erwartete schon seit vierzehn Tagen mit peinlicher Ungeduld einen Brief aus Indien. Die Zeit war längst vorüber, da er hatte eintreffen sollen. Zweimal brachte der kleine Postjunge wöchentlich die Briefe von der nächsten Poststation nach Burgdorf; wie sehnlich wurde er von Margareth erwartet, wie bitter wurde sie jedesmal enttäuscht, wenn er wieder für sie mit leeren Händen kam. Die letzten Male hatte sie das Weinen nicht mehr unterdrücken können, und ihre aufgeregte Phantasie malte ihr allerhand schreckliche Dinge vor, die ihre Eltern vom Schreiben abgehalten hätten. Auch heute Morgen war der Briefträger dagewesen und auf's neue waren Margareths Hoffnungen enttäuscht. Selbst Pastor Stiegs war dies lange Schweigen unbegreiflich. Aber heute durfte Niemand traurig sein, eine wunderschöne, längst besprochene Bergparthie sollte ausgeführt werden. Eine Stunde von Burgdorf lag der sogenannte kleine Blocksberg, ein niederer Berg, der, von der einen Seite durch Wald, von der anderen durch Felder begrenzt, eine liebliche Aussicht auf die umliegenden Ortschaften bot. Hier wollten sich heute vier befreundete Predigerfamilien aus den nächsten Dörfern treffen, um einen fröhlichen Nachmittag und Abend in der schönen Natur inmitten ihrer Lieben zu feiern. Nolte war schon um ein Uhr mit dem Kinderwagen, den die sorgliche Mutter mit allerhand guten Dingen, in Körben wohl verpackt, beladen hatte, voraus geschickt. Um zwei Uhr brach die ganze Stieg'sche Familie auf; es war ein sonniger Tag, da sich aber der Weg meist durch einen Wald zog, so litten sie nicht von der Hitze. Der Pfad war oft schmal, daß sie den Schneckengang, Einer hinter dem Andern, gehen mußten. Auf einer kleinen Erhöhung sah der Vater, der vorangeschritten war, sich um:

Er zählt die Häupter seiner Lieben
Und sieh, ihm fehlt ein theures Haupt.

»Wo ist Ferdinand?« fragte er.

»Wo ist Ferdinand!« wurde rings im Chore wiederholt, »Ferdinand!« »Ferdinand!« wurde gerufen, aber Niemand antwortete.

Margareth fragte ganz angstvoll: »Es giebt doch keine Tiger hier im Walde? Und keine Schlangen?«

»Nein, nein,« erwiderte die Pastorin, »da sei nur ganz ruhig. Ferdinand weiß aber den Weg zum Blocksberg so gut wie wir, er wird sich schon einstellen.«

Der Wald hatte sie allmählig bergan geführt, jetzt lichtete er sich, das Strauchholz verschwand, sie traten auf eine Lichtung hinaus: ein weiter Rasenplatz von herrlichen Buchen überwölbt, das war die Plattform des Berges, der nach der andern Seite gegen die Felder sich abschüssig senkte. Eine schöne Aussicht lag vor ihnen, in der Ferne der wirkliche, alte Blocksberg, klar konnte man das Häuschen auf ihm erkennen, und daneben niederere Berge, Dörfer mit ihren schlanken Kirchthürmen und den rothen Ziegeldächern zwischen grünen Bäumen überall zerstreut, dazu die klare Ocker mit ihrem gewundenen Laufe gleich einem silbernen Bande Alles durchziehend, – Alle standen still und labten sich an dem Anblick.

»Ja, die Natur ist wohl schön und werth angesehen zu werden, sage ich mit dem alten Claudius,« sprach der Pastor Stieg, »aber sie soll uns nur von Einem, der noch schöner ist, erzählen und uns das Herz nach Ihm verwunden.«

Die andern Familien waren schon versammelt, Ferdinand fehlte. Die Kinder wurden rasch mit einander bekannt, einige waren eifrig bemüht, im Walde dürres Reisig zu suchen, andere es kunstgerecht in einer kleinen Entfernung von der Niederlassung aufzuschichten. Ein Querstock von Eisen wurde in die Erde geschlagen, der große mitgebrachte Kessel mit Wasser gefüllt und daran gehängt, das Feuer brannte lustig und bald war die erste Auflage des Kaffee's, eine mächtige große Kanne voll, fertig. O, was war das für eine Lust, so im Freien Kaffee kochen! Margareth hatte solche Partie noch nie mitgemacht und war ganz Entzücken und Bewunderung. Servietten wurden auf die Erde gebreitet, ganze Berge von Kuchen und Waffeln kamen aus den mitgebrachten Körben zum Vorschein, alles lagerte sich ringsum, und Frohsinn, Scherz und Vergnügen hatten mit Platz genommen.

Aber Ferdinand fehlte noch immer. Die Pastorin Stieg fing an, sich unruhig nach ihm umzublicken, doch schon stand Margareth auf der Spitze des Bergabhanges als äußerster Vorposten, um hier, wo sie die meisten Wege übersehen konnte, nach dem Flüchtling auszuschauen. Jetzt stieß sie einen leichten Schrei aus und sprang wie ein Reh gewandt und schnell den Abhang hinunter. Als die Pastorin und noch mehrere athemlos dort ankamen, sahen sie, wie Margareth dem ankommenden Ferdinand entgegeneilte, jetzt hatte sie ihn erreicht, und jetzt that sie, was sie noch nie gethan: sie umschlang ihn mit ihren Armen und küßte ihn. Und er, der sich nie etwas aus einem Mädchen machte, bewahre! er drückte sie fest an sich, und Arm in Arm begannen sie nun den Berg vollends zu ersteigen. Jetzt sah die Pastorin erst, daß Margareth einen Brief in der Hand hatte, ja, und jetzt war ihr alles klar, Ferdinand war nach der eine Stunde entfernt liegenden Poststation gelaufen, um hier noch einmal nach einem Briefe für Margareth zu fragen, und er war so glücklich gewesen, ihn dort wirklich zu finden. Aber noch etwas anderes wurde der Pastorin klar, und sie hing heute mehr allerlei Zukunftsgedanken und Träumen nach, als sonst ihre Art war.

Margareth hatte nun den heiß ersehnten Brief aus Indien. Ihre Augen leuchteten vor Freude und doch flossen die Thränen über ihre Wangen. Sie eilte ein wenig tiefer in den Wald und setzte sich hier unter ein Nußgebüsch nieder. Wieder und wieder küßte sie die theuren Schriftzüge, endlich erbrach sie den Brief und las. – Es waren Worte der innigsten, treuesten Liebe, wie sie nur zärtliche, für das Seelenwohl ihres Kindes besorgte Eltern schreiben konnten. Im fernen Indien am Fuße des Himalayah geschrieben, war das Kind, das sie auf einem Berge des Harzes las, ihnen so nahe, als sprächen sie von Mund zu Mund mit ihm. Es dauerte lange, ehe Margareth wieder zur Gesellschaft zurückging, – und als sie diese immer noch beim Kaffeetrinken fand, dünkte es sie so fremd, so komisch, es war ihr, als seien Wochen verflossen, seit sie auch hier gesessen und als habe sie derweile eine weite Reise gemacht. Sie brachte der Pastorin einen Brief, der als Einlage mitgekommen war und fragte: »Willst Du meinen Brief auch haben?«

»Jetzt nicht,« antwortete diese, »hier könnte ich doch nicht mit Ruhe lesen. Sag mir nur, ob alles gut geht?«

»Alles, Papa und Mama sind sehr wohl und rüsten sich zu einer größeren Reise.«

»Schön. Aber wie Du glühst, mein Kind. Nun geh zu den andern Kindern und spiele mit ihnen, sie erwarten Dich längst.«

Zögernd gehorchte Margareth. Sie war noch nicht wieder recht in Deutschland, wie im Traum war's ihr zu Muthe. Da gewahrte sie Ferdinand, der ihr Stock und Reifen brachte und sie bat, ihm den Reif zuzuwerfen.

Bald war Margareth wieder ein Kind unter Kindern und zwar heut das allerglücklichste. Sie warf den Reif so hoch wie kein anderes, und Niemand konnte sich in der Geschicklichkeit des Fangens mit ihr messen. Marie war wenig geübt und warf ziemlich schlecht, deshalb rief Ferdinand ihr zu: »Wirf doch etwas besser, sieh nur wie Margareth es macht.«

Erschrocken sah Lilli Marie an; sie fürchtete, diese würde sich sehr verletzt abwenden, wurde aber angenehm überrascht, als Marie nach einem Augenblick Besinnens erwiderte: »Ja so schön wie Margareth kann ich es nicht, aber vielleicht lerne ich es noch.«

Von dieser freundlichen Antwort wurden selbst die Knaben überrascht, sie waren es in letzterer Zeit so wenig von ihr gewohnt gewesen. Ferdinand fühlte sein Unrecht und sagte begütigend: »Nun, Marie, aller Anfang ist schwer, ich habe es auch zuerst nicht besser gemacht. Sieh, Du mußt nur den Reif auf die äußerste Spitze des Stockes legen und dann fortschnellen, dann fliegt er viel höher und besser.«

Ja, sie wußten Alle nicht, was die Mutter gestern Abend mit ihrem Kinde gesprochen hatte, und daß Marie den schwarzen Wurm in ihrem Herzen nicht mehr füttern wollte.

So verging der Tag in ungetrübter Heiterkeit; Margareth war zwar wieder das interessante Kind, von dem ein Jeder hören wollte, aber es kränkte Marie heute nicht. Das kalte Abendbrod wurde auf den weißen Tischtüchern auf der Erde ausgebreitet, es schmeckte Allen herrlich. Als sich endlich die Gesellschaft trennte und ihre verschiedenen Heimwege antrat, wurde verabredet, sich an einer ähnlichen Stelle bald wieder einen so frohen Tag zu machen. Unterwegs wurden verspätete Kornblumen gepflückt und ohne Garn zu Kränzen gewunden, die Kinder schmückten sich gegenseitig damit, Margareth drückte ihren ersten Kranz Marie auf den Kopf, und diese dankte freundlich und schmückte Margareth mit dem ihrigen. Dann flocht letztere noch einen für Ferdinand, »weil Du mir meinen Brief geholt hast.« Als es aber dunkel und dunkler wurde, und die Berge in tiefe Schatten gehüllt dalagen, als es so stille wurde in der Welt, auch die letzte Heerde heimgezogen war, da stimmte der Vater an, und Alle fielen ein:

Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Stadt und Felder,
Es schläft die ganze Welt;
Ihr aber, meine Sinnen,
Auf, auf, ihr sollt beginnen,
Was eurem Schöpfer wohlgefällt.

Und als der letzte Vers gesungen war, da zogen sie im lieben Burgdorf ein.

Am andern Tage wollten Alle gern etwas von dem Briefe aus Indien hören. Margareth erklärte sich bereit, ihn theilweise vorzulesen. »Alles aber nicht,« sagte sie, was ihr bereitwillig zugestanden wurde.

D., im August.

– – »Seit zwei Monaten hat es hier nun unaufhörlich geregnet, und so furchtbar, wie es eben nur in Indien regnen kann. Aber gestern hat es aufgehört, ungewöhnlich frühzeitig, und nun wird alles so schnell grün, daß es Einen wie Zauberei dünkt. Ich habe diesen Wechsel von der größten Dürre zum wogenden See und vom wogenden See zur üppigsten Vegetation doch nun schon so oft erlebt, aber ich glaube, so jäh ist er noch nie eingetreten wie dieses Mal. Wo gestern ein zartes Pflänzchen stand, breitet sich heute ein fußhoher Busch aus, – es hat sich über Nacht mit fast erschreckender Schnelle geregt und nun wächst alles riesenhaft auf. Dies erste Grün nach der Dürre und der Regenzeit ist von einer solchen Frische, die Blumen, die nun rasch empor blühen, entfalten eine solche Farbenpracht, daß sich ein Abendländer keinen Begriff davon machen kann. Du hast es ja alles gesehen, meine Margareth, erzähle nur den lieben Burgdorfern recht viel von Deinem zweiten Vaterlande. Ach wie ist es doch alles in diesem Jahre so anders als in dem vorigen! Wohl sehe ich auf dieselben Kokospalmen und Mango-Pflaumen-Bäume nieder, wohl breiten sich dieselben Reisfelder vor mir aus – aber Du bist nun so fern von mir! Doch denke ich mit Freude daran, daß Du nun in meiner herrlichen deutschen Heimath, über die doch nichts geht, bist; daß Du nun meine hohen Eichen, meine dunklen Tannen siehst, daß Du an den kleinen Quellchen des Harzes die tiefblauen Vergißmeinnicht pflückst, die Einem so treu in's Auge sehen, und Dir die kleinen würzigen Waldkinder, die Erd- und Heidelbeeren, schmecken läßt. Oft überkommt es mich wie eine rechte Sehnsucht, – und ich weiß, es wird Dir auch so gehen. Aber wir wollen solchen Gefühlen nicht nachgeben, wir wissen ja, warum wir uns trennen mußten, es war Gottes Wille. Und derselbe treue Gott, der in Indien regiert, ist auch in Deutschland, Er sieht in derselben Minute Dich und mich; o daß wir stets so wandelten, daß Sein Auge mit Wohlgefallen auf uns ruhen könnte! Und laß uns diese Trennungszeit recht benutzen, daß wir wachsen im Glauben, in der Liebe und in der Demuth. Dann hoffe ich auch, Du wirst Dich mit allerlei nützlichen Kenntnissen bereichern und tüchtig lernen. Ich will auch fleißig sein in dem Berufe, den Gott mir gegeben. Meine braunen Kinder in der Schule fragen viel nach Dir. ›Mem Sahib, wo ist die Margareth?‹ Wenn ich dann antworte: ›sie kommt wieder‹, dann freuen sie sich. Denke nur, neulich kam eine Hindufrau und bot mir ihr kleines, drei Monate altes Kind zum Verkauf an. Ich machte ihr Vorstellungen, sie sagte mir aber, sie käme weit her und müsse noch viel weiter gehen und sie habe nichts zu essen für das Kleine. Ich schlug ihr nun vor, bei uns zu bleiben, da könne sie arbeiten und solle für sich und für das Kind Nahrung haben. Aber das Weib wollte nicht und sagte mir dann: ›nun, es ist ja nur ein Mädchen, ich setze es in den nächsten Wald, da können die Schakale es fressen.‹ O, Margareth, welch eine Mutter! Aber so ist dies arme Volk im Götzendienst versunken, daß oft die natürlichsten Gefühle unterdrückt werden; wäre das Kind ein Knabe gewesen, so würde sie nicht so gehandelt haben, aber ein Mädchen hat ja keine Seele und ist nur eine unwillkommene Bürde für Jedermann. Da das Weib Miene zum Fortgehen machte, so kaufte ich das Kind für zwei Rupien Vier Mark., und am nächsten Tage hat Papa es getauft.

Ich hatte unsere kleine Kapelle mit Grün und Blumen geschmückt, dem Kindchen Dein weißes Taufkleidchen angezogen und hielt es während der Taufe in meinen Armen. Es hatte seine Aeuglein offen und lag während der ganzen Zeit so ruhig da, als wisse es, wie Großes mit ihm geschähe. Es erhielt den Namen Hanna, – o wie viel lieber hatte ich das kleine Geschöpf, als es nun Gottes Kind geworden! Es ist aber nicht zu den Waisenkindern gekommen, es ist unser Kind, lebt in unserm Hause, und Deine alte Ayah wartet sein. Nun bete Du auch, daß es eine rechte Hanna werde, welche des Dienstes Gottes wartet bei Tag und Nacht.

Wie viel Neues hat sich hier überhaupt zugetragen, seit Du fort bist! Ich kann Dir gar nicht alles erzählen, aber eine Geschichte muß ich Dir noch mittheilen, Du wirst Dich mit uns darüber freuen und den Herrn loben.

Du kennst doch die hübsche Frau unsers lieben Nut, der, längst ein Christ, nur den einen Wunsch hatte, seine Frau auch sich vom Götzendienst ab- und dem Herrn Jesu zuwenden zu sehen? Aber all sein Bitten und Mahnen, sein Drängen und Flehen half nichts, sie wurde nur immer starrer und erklärte, wenn man ihr von Christo erzählt hatte: ›Pfui, was ist das für ein Gott, der am Kreuze starb! Nie werde ich mich so demüthigen, an solch einen verächtlichen Gott zu glauben.‹

In diesem Widerspruch ist sie Jahre lang hingegangen, ihr Mann betete viel für sie, doch alles schien umsonst. Aber da klopfte der Herr an ihr hartes Herz und zwar mit dem Finger ›Wehe‹.

Ihr Mann starb, (Du warst noch hier) und auf dem Todtenbette beschwor er sie wieder, den Heiland zu ergreifen, der ihm jetzt das Sterben so leicht mache. Er ließ sie als Wittwe mit drei kleinen Söhnen zurück, aber ihr Herz blieb kalt und hart, sie wollte sich nicht beugen. –

Da klopfte der Herr zum zweiten Male: Einer ihrer Söhne wurde krank und starb. Ich ging zu ihr, um sie zu trösten. Als ich sie aber auf Christum hinweisen wollte, da sagte das arme Weib: ›Nie, nie werde ich mich so demüthigen, an einen Gott zu glauben, der am Kreuze starb.‹ – Doch der Herr klopfte zum dritten Male: Ihr anderer Sohn wurde krank und starb. Wieder ging ich zu ihr, aber wieder war ihr Herz kalt und hart. Unwillig schlug sie mit der Faust auf ein Brett und schrie: ›Nie, nie werde ich an einen Gott glauben, der am Kreuze starb; und wäre er ein Gott der Liebe, er hätte mir meinen Mann und meine Kinder nicht genommen.‹ – Einige Wochen vergingen, da klopfte der Herr zum vierten Male, das jüngste Kind erkrankte.

Da brach der Trotz der Frau, in wahnsinniger Angst nahm sie das Kind, kam damit zu Papa und rief: ›Rette, rette mein Kind!‹ Papa sah schon die Spuren des Todes auf des Kindes Angesicht und sagte: ›Hier kann Niemand mehr helfen, als allein der Herr unser Gott; an Den wende Dich!‹ ›Geben Sie doch Arznei,‹ jammerte die Frau, und Papa that es endlich. Sie eilte mit dem Kinde nach Hause, wir folgten ihr und sahen, wie das sterbende Kind auf der Matte lag, die Mutter kniete davor, verbarg das Gesicht in den Händen und rief: ›Ich will mich demüthigen. Ja, Herr, ich will mich demüthigen!‹ Nach einer Weile erhob sie sich und sagte: ›Die Taube ist entflohen.‹ Keine Klage kam mehr über ihre Lippen, still hörte sie, was ihr von Christo gesagt wurde, und jetzt zeugt all ihr Thun davon, daß sie nun wirklich eine demüthige Christin geworden ist. Sie wurde bald getauft und wünschte Naemi zu heißen, ›denn‹, sagte sie, ›der Herr hat mit mir gehandelt wie mit Naemi. Voll zog ich aus, aber nun bin ich leer.‹ – Ich hoffe, sie wird eine tüchtige Waisenmutter für unser kleines Waisenhaus werden.

Gott, der so weit geholfen, wird sie ja auch ferner stärken, vollbereiten, krustigen, gründen. – Nun habe ich Dir heute viel erzählt, aber in den nächsten Tagen haben wir eine gute Gelegenheit nach Europa, da werde ich Euch allerlei indische Sachen, Steine und auch einen Götzen schicken.«

Als Margareth den Brief bis hierher gelesen, faltete sie ihn zusammen, den Schluß behielt sie für sich.

Dieser Brief erfüllte eine Zeit lang so die Seelen der Kinder, daß sie alles andere darüber vergaßen. Den sinnigen Heinrich hatte die Erzählung der Missionarsfrau wohl am meisten ergriffen, aber nach seiner stillen Art sprach er am wenigsten darüber. Ferdinand war Feuer und Flamme für Indien, seiner Meinung nach mußte es ein Eldorado sein, ein Wunderland, von lauter Poesie und Sage umgeben; – nun hatte er sich entschieden, er wollte Naturforscher werden, und seine erste Reise sollte nach dem alten Zauberlande sein! Wenn er dann mit glühenden Worten ausmalte, was er da alles sehen, entdecken und genießen würde, dann hing Margareth voll Bewunderung an seinen Lippen, ihr schien es, als lägen noch viele verborgene Schätze in Indien, die erst hervortreten würden, wenn Ferdinand dort wäre, und sie sagte wohl:

»Und dann besuchst Du uns, nicht wahr?«

»Ja wohl, ja wohl, – wenn ich irgend Zeit habe,« war die Antwort.

Marie und Lilli hatte das Benehmen der Hindumutter, die ihr eigen Kind verkaufte, sehr empört. Sie waren jetzt emsig beschäftigt, in ihren Freistunden unter Margareths Anleitung allerlei Kleidchen, wie sie in Indien getragen werden, für die kleine Hanna zu nähen.

Der Herbst war ins Land gekommen und hatte die Aepfel roth, die Blätter gelb zu färben begonnen. Ferdinand sollte die Herbstferien bei seinen Eltern zubringen. Das war keine angenehme Aussicht für ihn; einige Tage war er ja gern zu Hause, aber mehrere Wochen bei seinem Vater, der ein trockener Lebemann war und gern seine Parthie Whist und L'hombre spielte, und bei seiner grämlichen, an allerlei eingebildeten Nebeln krankenden Mutter zu sein, das war kein Vergnügen für den lebhaften Knaben. Auch in Burgdorf wurde er sehr vermißt; aber dann fiel Anfang Oktober der Geburtstag der Pastorin Stieg, und er nahm alle Gedanken der Kinder in Anspruch.

»Er muß dies Mal ganz besonders schön gefeiert werden,« das war der einstimmige Entschluß Aller, aber das Wie? war die schwere Frage. Es war überhaupt in Burgdorf sehr Sitte, allerlei Feste zu improvisiren, für die eigentlich gar kein Grund war; Vater und Mutter wünschten den Kindern das »Haus« so lieb zu machen, daß auch später, wenn sie in der weiten Welt zerstreut sein würden, das Vaterhaus ihnen immer wieder als die Stätte des höchsten irdischen Glückes erscheinen sollte, deshalb beförderten sie jede unschuldige Freude der Kinder, so viel sie konnten. Aber der vierte Oktober war nun ein wirklicher Festtag, er sollte sehr würdig begangen werden, »daß wir Alle da sehr glücklich sind,« sagte Lilli.

Der Vater wollte der Mutter eine Uhr in ihre Wohnstube schenken, eine Wanduhr. Margareth ließ eines Tages prüfend ihre Augen an den Wänden umherstreifen, die beste Stelle zur Befestigung der Uhr suchend, – da durchzuckte sie ein Gedanke, und jubelnd rief sie: »Ich hab's! ich hab's!«

»Was hast Du denn?« fragte Marie verwundert.

»Ich werde es Euch bald sagen, wartet nur noch ein wenig,« und damit war sie in den Kuhstall gegangen, der, beiläufig gesagt, stets ihr Zufluchtsort war, wenn sie allein sein oder eine schwere Ausgabe lernen wollte.

Nach einer Stunde rief sie die Geschwister dorthin und eröffnete ihnen nun folgendes; »In der Mutter Stube sind doch Aehren und rosa Mohnblumen auf den Tapeten herunterfallend gemalt. Wenn wir nun die Stube auch noch mit frischen Blumen schmückten, dann könnten wir ein kleines Schauspiel aufführen, worin die frischen Blumen sich mit den Tapetenblumen um die Freude streiten, ihr Zimmer zum Geburtstag zu schmücken, und die Uhr soll als weise Mahnerin immer besänftigend dazwischen treten, zum Schluß sich aber Alle einigen und Jedes der Mutter einen Glückwunsch sagen. Nun dachte ich, Du, Heinrich, stelltest die Uhr vor und sprächest in einem sehr ehrbaren Baß. Lilli muß im weißen Kleide mit rosa Schleifen so recht wie ein himmlisch Kind aussehen, und rothe und weiße Monatsrosen in der Hand halten. Marie und ich stellen die häuslichen Blumen in einfachen grauen Kleidern und weißen Küchenschürzen vor, Marie mit einem Bouquet Mohn, ich mit Aehren in der Hand. Der Geburtstagstisch muß in der Mitte stehen und mit frischen Blumen geschmückt sein, und Lilli muß daneben stehen, weil sie diese ja repräsentirt. Den Vater aber müssen wir bitten, daß er beim Anfang des Stückes die Mutter in der anstoßenden Stube, wo sie alles hören kann, zurückhält, und erst an der rechten Stelle mit ihr eintritt. Und nun will ich Euch mein Gedicht vorlesen, Ihr müßt mir dann Alle sagen, wie es Euch gefällt.« Und Margareth las:

Aehre.

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Was ist denn heute nur los?
Das Laufen und Rennen von Leuten
Im Hause ist wirklich groß.

Mohn.

Ich wurde früh schon aufgeweckt
Durch ein'ge Hammerschläge,
Man hat ein Ding mir angesteckt,
Das ist mir sehr im Wege.

(Auf die Uhr deutend.)

Aehre.

Doch still! Das Ding hat einen Mund,
Scheint's sprechen zu verstehen.
O Ding Du, thue uns doch kund,
Was heut hier soll geschehen!

Uhr.

Bunte Gestalten, ich grüße Euch Alle als liebliche Nachbarn,
Thue Euch kund und zu wissen, daß hierher beordert ich bin,
Allen Bewohnern des Hauses zu zeigen, daß Zeit es, mit Würde
Nun den Geburtstag der lieblichen Hausfrau zu feiern.

Frische Blumen.

(Schnell)

Wir haben's vernommen,
Drum sind wir gekommen
Wohl über Nacht
Und haben gedacht:
Wir wollen uns schicken
Die Stube zu schmücken.

Aehre und Mohn.

Die Stube zu schmücken! O welch ein Begehr!
Die Stube, die schmückten wir ja bisher.
Das lassen wir heute uns nimmermehr nehmen,
Ihr solltet ob Eurer Frechheit Euch schämen.

Uhr.

Bunte Gestalten, seid still, und bedenket vor Allem das Eine:
Wenn nun die Mutter am heutigen Morgen vernimmt das Gezänk
Hier in der Stub', wo sonst nur Worte des Friedens man hört.
Schenkt ihr was Besseres heut, – einigt Euch, ehe die Stunde verrinnt.

Frische Rosen.

Wir sind gesandt
Von lieber Hand,
Und wollen nun
Ohn' Säumen thun,
Was aufgetragen
Man uns zu sagen.

Mohn und Aehre.

Wir haben das Recht, wir sind hier zu Hause,
Wir theilen die Freude, wir theilen den Schmerz.
Die kommen nur zum Geburtstagsschmause,
Für Häuslichkeit haben sie doch kein Herz.

Frische Rosen.

Still davon,
Aehr und Mohn!
Ob auch rosa,
Seid doch Prosa.
Menschenwerk
Zur Erd' Euch kehrt!
Wir aber sind von Gott gesandt,
Drum seh'n wir auf zum Vaterland.

Uhr.

Einigt Euch, streitende Blumen, denn mein Pendel im rastlosen Gange
Zeigt, daß sie naht; so tretet als friedliche Schwestern nun vor.

(Die Pastorin tritt ein, Aehre und Mohn treten vor sie.)

Aehre und Mohn.

Wir sind Dir schon von lang bekannt,
Prosaisch hat man uns genannt.
Darf nun die Prosa es wohl wagen,
Dir ihren Glückwunsch heut zu sagen?

Mohn.

Ich wünsche, daß der süße Schlummer nie
In stiller Nacht Dein liebes Auge flieh,
Und Morpheus mit der Fülle seiner Gaben
Sollst immerdar zu Deinen Diensten haben.

Aehre.

Ich komm im einfach schlichten Rock
Und will mein Sprüchlein auch versuchen:
Gott schenke Dir Dein täglich Brod
Und zum Geburtstag einen Kuchen.

Frische Rosen.

(Vor die Pastorin tretend.)

Versammelt waren allzumal
Wir heute früh im Himmelssaal;
Da trat ein Engelein heran
Und rührete uns leise an,
Und hieß uns hin zur Erde gehn,
Um Dich, Geburtstagskind, zu sehn.
Dann hat von Gott und Seinem Lieben
Auf unsre Blätter er geschrieben.
So lies es Dir nun selber nach,
Was Gott von Seiner Liebe sprach.

(die rothen und die weißen Rosen überreichend.)

Hier schrieb Er's weiß hier schrieb Er's roth:
Ich hab' Dich lieb bis in den Tod.«

»Herrlich! herrlich!« riefen Alle, in die Hände klatschend, aus; und nun ging's an ein Abschreiben der Rollen, an ein Auswendiglernen, und dann wurden im Kuhstall, wo Niemand die Kinder hören konnte, Proben gehalten. Alles fiel zu ihrer höchsten Zufriedenheit aus, Heinrich beschuldigte Margareth, sie habe die Worte zu ihren Charakteren gedichtet, so genau passe es alles zusammen. War es aber vorher schon gut gegangen, am Geburtstag ging es noch viel tausendmal besser. Da war keine Spur von Befangenheit, – wozu auch? Die Kinder standen ja nur den glücklich lächelnden Eltern gegenüber und hatten kein anderes Ziel, als ihnen Freude zu machen. Kein Souffleur war nöthig, und ein fröhliches Gelächter ertönte, als Margareth, nachdem sie ihren Glückwunsch gesagt, einen komisch sehnsüchtigen Blick auf den mächtigen Geburtstagskuchen warf, der die Mitte des Tisches einnahm. Als aber Lilli, den Schlußvers sprechend, zu der Stelle kam: »Ich hab Dich lieb bis in den Tod,« da sprachen nicht mehr die Blumen, da sprach das liebende Kind aus innerstem Herzen, wieder und immer wieder die Mutter umfassend.

Diese war sehr erfreut über die kleine Aufführung, der Vater sprach seine Zufriedenheit darüber so oft aus, und Alle waren so glücklich, daß dieser Tag ein rechter Lichtpunkt in der Pfarre war. Ein Schatten flog zwar darüber hin, doch er wurde von der Sonne verdrängt, die in diesem Hause wohnte.

Es zuckte wiederum schmerzlich durch Marie's Herz, daß Margareth als Verfasserin des kleinen Stückes von den Eltern geliebkost, von den Geschwistern und Freunden, die Nachmittags kamen, bewundert wurde. Margareth nahm all dies Lob sehr ruhig auf, sie war schon daran gewöhnt; wäre es ihr nicht gezollt worden, so würde sie es schmerzlich vermißt haben, aber so war sie gleichgültig dagegen, sie war sich ihrer Gaben und Kräfte bewußt, sie glaubte, ihr einziges Ziel sei, sie zur Freude Anderer anzuwenden, aber ihr selbst unbewußt hatte sie noch ein anderes Ziel: sich selbst zu verherrlichen.

»O, warum kann ich nur den Eltern nicht solche Freude machen, warum kann ich nicht auch dichten und singen und spielen wie Margareth? Oder warum kann ich nicht so schön und fröhlich sein wie Lilli, und damit allen Leuten Freude machen?« – so dachte Marie, – auch sie glaubte, sie wünsche sich Gaben nur zum Besten Anderer, doch eigentlich sollten sie ihr nur dazu dienen, geliebt zu werden. Aber heute wollte sie den düsteren Gedanken keinen Raum geben, sie dachte an den schwarzen Wurm im Herzen, – o, wie sie ihn haßte! Sie betete um den Sieg und er ward ihr. Sie konnte fröhlich dienend einhergehen, unbekümmert, ob es Jemand bemerke oder nicht. Sie konnte auch Margareth leise umfassen und sagen: »Margareth, ich habe Dich sehr, sehr lieb.«

Aber nicht nur Gottes Auge sah den Kampf und Sieg des armen Herzens, auch das treue Mutterauge sah was vorging. Und als Marie Abends zur Mutter gute Nacht sagte, da schloß diese sie in ihre Arme und sagte leise: »Marie, Du hast mir heute viel geschenkt. Sich selbst bekriegen, ist der schwerste Krieg; sich selbst besiegen, ist der schönste Sieg.«

Noch ein Freudentag war es, als Ferdinand wieder auf den Pfarrhof wanderte, das Ranzel auf dem Rücken, die Mütze zum Willkomm hoch in die Luft werfend. »Juchhe, juchhe, ich werde Naturforscher, lerne noch fleißig und dann geht's fort zur Universität!«

Und noch ein lichter, heller Tag für unsere lieben Freunde, – dann aber erhob sich im fernen Indien ein schwerer Wind, er wehte eine dunkle Wolke zusammen, schwarz und immer schwärzer wurde es ringsum, und da, gerade über dem Pfarrhause in Burgdorf, entlud sich die schwarze Unglückswolke und ließ Tod, Krankheit und viele bittere Thränen aus ihrem Schooße fallen, – nun ist Freude und Lächeln verbannt, und ringsum herrscht der kalte, eisige Winter.

Aber noch ist die Wolke nicht da, sie braucht Zeit, um über's weite Meer zu kommen. Noch ist es licht und helle um uns, die Sonne scheint so warm heute, wir haben den 31. Oktober.

»Laßt uns den letzten schönen Herbsttag benutzen,« sprach der Vater Mittags, »und nach dem Ruinenberg gehen.«

Alle waren mit Freuden dazu bereit. Auf dem Ruinenberge war's wunderschön, von einer Ruine sah man zwar nichts mehr, aber ein freundlicher, kleiner Pavillon war aus der Spitze des Berges, wie es hieß, von den Steinen der Ruine erbaut. Unsere Spaziergänger zogen es vor, sich im Freien zu lagern, der Kaffee wurde auf die übliche Art gekocht und fröhlich getrunken, dann streiften die Kinder umher, verspätete Blumen und Beeren suchend, während Vater und Mutter sich der Reize einer Herbstlandschaft freuten.

»Für mich hat eine solche Herbstscenerie etwas unbeschreiblich Anziehendes,« sagte der Pastor Stieg, »sie kommt mir oft vor wie das Sterbebett eines Christen. Liebliche Blumen und herrliche Früchte haben seinen Lebensweg bezeichnet, nun legt er sich zur Ruhe nieder, gesegnet und segnend, bald bedecken ihn die weißen Leichentücher, und er schläft wie ein müder Arbeiter einer herrlichen Auferstehung entgegen.

»Ja, Väterchen, Du magst wohl Recht haben, wenn man's so ansieht, ist es schön,« antwortete seine Frau sinnend, »aber mir ist doch der Frühling lieber; da ist mir immer zu Muthe wie damals, als mir Gott meinen Erstgeborenen, meinen Heinrich, in die Arme legte. Der Herbst hat für mich etwas Wehmüthiges, ich muß stets an den Winter denken. Ach, weißt Du, und mir ist jetzt auch oft so bang zu Sinne, als wären wir zu froh und glücklich, und als würde es bald anders werden. Wenn nur nicht unser Glück ist wie dieser Herbsttag, dem bald ein langer, schwerer Winter folgen wird.«

»Nun, Emma,« sagte der Pastor, seiner Frau die Hand reichend, »wenn der Winter kommt, dann vergiß nicht, daß unser Herr Jesus mitten im Winter geboren ward.«

Während dessen hatten sich die Kinder dem Pavillon genähert, Ferdinand war jetzt fortwährend mit einem kleinen Hammer bewaffnet, mit dem er als angehender Naturforscher und eifriger Mineraloge jeden Stein zerbröckelte, um ihn gründlich zu untersuchen. Auch an dem Pavillon wollte er jetzt seine Forschungen anstellen, erschreckt hielt Lilli seine Hand fest und rief:

»Ferdinand, Du wirst doch das Gebäude nicht beschädigen wollen?«

»Für mich giebt es nur ein Gebäude,« entgegnete dieser stolz, »und das ist der Tempel der Wissenschaft.«

Trotzdem gelang es Lilli, ihn zu bewegen, seine gelehrten Experimente an anderen Dingen anzustellen. Es wurde plötzlich finster, eine Wolke entlud sich gerade über ihnen. Es war nur ein kurzer, aber um so heftigerer Platzregen, – Alle eilten in den Pavillon, dort ein Ueberdach findend. Als auch Ferdinand eintreten wollte, rief Lilli ihm mit komischem Ernste entgegen; »Ferdinand, für Dich giebt es nur ein Gebäude, ich bitte Dich, geh in den Tempel der Wissenschaft, da regnet es nie, da bleibst Du ganz trocken, innerlich und äußerlich.«

»Du bist ein kleines, dummes, naseweises Ding, Lilli,« sagte Ferdinand, während diese übermüthig ihr Lockenköpfchen schüttelte.

»Klein und naseweis, – ja,« sagte der Vater lachend, »aber dumm?« und er schüttelte ebenfalls den Kopf.

»Ja, Onkel, glaube nur,« entgegnete Ferdinand eifrig, »sie ist entsetzlich dumm. Da hat sie mich gequält, sie wolle Latein lernen, und ich habe auch angefangen, sie zu unterrichten. Nun wollte sie immerzu Vokabeln lernen, ich bin das auch zufrieden gewesen, als ich sie aber nun abfragen will, da weiß sie auch fast gar nichts. Endlich frage ich, wie der »Abend« heißt, und freue mich schon, als sie mir da richtig » vesper« antwortet. Nun frage ich, wie heißt »der Morgen?« Da besinnt sie sich ein Weilchen und sagt dann »Frühstück;« und noch heute behauptet sie steif und fest, wenn der Abend vesper heißt, so muß der Morgen Frühstück heißen. – Lilli, Lilli, Du wirst nie in den heiligen Hallen der Wissenschaft wandeln,« wandte er sich pathetisch an diese.

Alle lachten, der Regen hatte aufgehört und in der fröhlichsten Stimmung traten sie den Rückweg an. Er führte sie bei der Post vorbei, und da – Freude über Freude, da war denn wirklich die verheißene Kiste aus Indien angekommen! Die Kinder waren lange vor den Eltern zu Hause, die Kiste brannte ihnen in den Fingern, sie vermutheten wunderbare Dinge, mindestens die Schätze von halb Indien darin. Endlich waren alle versammelt, die Kiste wurde geöffnet und ein allgemeines: »Ah! Ah!« ertönte, als zuerst ein kleiner, thönerner, aber mit grellen Farben bemalter scheußlicher Götze zum Vorschein kam, den Margareth als einen alten Bekannten, als den Gott der Weisheit, Ganesch begrüßte, und ihn Ferdinand feierlich als seinen Schutzpatron, nach dem er sich ja immer mehr bilden sollte, vorstellte. Der Götze sah abscheulich aus, – ein Elephantenkopf auf einem Menschenleibe! Dann kamen allerlei Schmucksachen der indischen Frauen aus der Kiste: Ohren- und Nasen-, Fuß-, Knöchel- und Zehenringe, kleine, runde, ganz dünne Metallplatten, die sie sich auf Stirn und Wangen kleben; dann eine Kette, von den Kernen einer heiligen Frucht zusammengesetzt, welcher die Eingebornen die Kraft zutrauen, daß, wer sie umbindet, sogleich rein und heilig wird. Marie hielt die Kette in ihrer Hand und dann sagte sie leise zu ihrer Mama: »Ach, Mutter, wenn es so leicht wäre, rein und gut zu werden!« –

»Es ist noch viel leichter, mein Kind,« entgegnete diese eben so leise, »das Blut Jesu Christi macht uns rein und heilig.«

Nun wurde eine kleine Gebetsmühle ausgepackt: ein rundes sich drehendes Behältniß, in welchem ein langer Papierstreifen lag, der mit Gebeten in tibetanischer Sprache beschrieben war. Wenn diese Gebete nun bewegt werden, gleichviel wodurch, ob durch Umdrehen mit der Hand, ob durch Zug und Wind, – so dringen sie zum Ohr des Götzen und finden Erhörung.

Seltene Steine folgten; Ferdinands Augen glühten vor Freude, und unwillkürlich nahm er den kleinen Hammer zur Hand. Dann kamen gepreßte Blumen, verschiedene Arbeiten, die Hindufrauen und Kinder gemacht, getrocknete Früchte und zuletzt: die Bibel von Margareths Mutter, ihr liebstes Kleinod, von dem sie sich nie trennte, wie Margareth wohl wußte.

Der Schluß des Briefes von ihrer Mutter, der am 15. September geschrieben war, lautete folgendermaßen:

– – »Da habt Ihr denn nun auch einen Götzen im Hause, und zwar einen wirklichen gesalbten Götzen. Durch die Salbung nämlich unterscheidet sich ein Götze von einem Stück Thon, Holz oder einem Klotz. Denn jeder Stein, jedes Stück Holz, wenn es noch so roh und unbearbeitet ist, kann zu einem Götzen werden, wenn es von dem Priester, dem Brahmanen, gesalbt ist. Wenn Jemand einen neuen Götzen haben will, so kauft er ihn oder formt ihn aus Thon, oder schneidet ihn aus Holz, oder er giebt ihm auch gar keine Form und Schöne, – und schickt zum nächsten Brahmanen, daß er komme und ihn salbe. Der fragt nun zuerst, was für ein Gott in dem vorliegenden Klotz oder Stein wohnen soll? Der Hindu hat nämlich 333 Millionen verschiedene Götter, – doch wird ihm die Wahl nicht schwer, denn unter diesen sind mehrere Lieblingsgötter, d. h. die, von denen die h. Bücher (Schasters) erzählen, daß sie in den größten Sünden und Schanden gelebt haben, die sind am bekanntesten und werden am meisten gewählt. Und dieser Ganesch, auch Ganusa genannt, der Sohn des Schiwa, eines der drei obersten Götter, mit dem Elephantenkopf und dem Schmerbauche, ist so recht der Hausgott der Hindus geworden. – Wenn nun der Name dem Brahmanen genannt ist, so stellt er den Stein oder Klotz vor sich hin, oder wenn er zu groß ist und in der Erde stehen kann, so stellt er sich davor, zieht seine Schuhe aus, legt seine Oberkleider ab und nun fängt er an seine Zauberformel herzusagen, dann den angehenden Götzen einzuweihen und zu ölen und den Gott vom Himmel herab zu rufen und hinein zu bannen; dazu nimmt er etliche Blätter des h. Baumes in die Hand, berührt mit seinen zwei Vorderfingern Brust, Augen und Stirn des Bildes und spricht jedesmal die Worte: ›Der Geist des Ganesch (oder welchen Gott es nun vorstellen soll) steige herab und nehme Besitz von diesem Bilde.‹ Dann ist er fertig, und nun wird das Götzenbild angebetet, zuerst vom Priester, dann von dem, der es hat machen lassen, darauf von allen anderen Leuten. Wenn aber ein Hund, ein Weib oder ein Europäer es berührt, so wird es unrein und die Gottheit fährt heraus; ist das Bild von Thon, so muß es dann weggeworfen, ist es von Stein, so muß es wiederum geweiht werden.

Ach, lieben Kinder, wenn man das so mit ansieht, da möchte einem das Herz brechen vor Weh, daß sie die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes verwandelt haben in so ein Bild, und Glück, Heil und Seligkeit von einem Stein, Friede des Herzens und Vergebung der Sünden von einem todten Erdenkloß erwarten! O des armen, verblendeten Volkes! Gott sei Dank, daß wir Gottes Verheißung haben, die uns sagt, daß alle Heiden im Lichte des Wortes Gottes wandeln sollen, und daß es auch über Die, so im finstern Lande wohnen, helle werden soll!

Aber es wird Einem immer wieder so weh, wenn man einen Götzenladen sieht, denn die (ungeweihten) Götzen werden hier ausgestellt, wie in Deutschland die Töpfe und anderes Hausgeräth. Es giebt sogar förmliche Götzenfabriken, und Götzenhändler durchziehen mit ganzen Wagenladungen dieser Waare das Land; ja selbst in den öffentlichen Blättern preisen Götzenmacher ihre Fabrikate an. Den Schluß einer solchen Anzeige, die wir neulich in einer in Kalkutta erscheinenden Zeitung lasen, muß ich Euch doch herschreiben: ›Sollte irgend ein Frommer geneigt sein, von unserer Kunst Gebrauch zu machen, der beliebe uns nur ein genaues Bildniß seines Lieblingsgötzen zuzusenden und er darf versichert sein, daß derselbe aufs Pünktlichste und Schönste ausgeführt wird, wie er es immer wünschen mag. Sollte ein hölzerner oder aus Leimen gemachter Götze beschädigt sein, so machen wir uns anheischig, die Gottheit in ihrer ursprünglichen Gestalt in unvergänglichem Marmor geschmackvoll verbessert wieder herzustellen.‹ Nicht wahr, liebe Kinder, wenn's nicht so gar ernst wäre, so möchte man drüber lachen – aber traurig und rührend ist mir's oft, wenn ich sehe, wie die Leute diese Götzenbilder mit einer Sorgfalt abwarten und mit einer Treue bedienen, die wohl eines besseren Gegenstandes werth wäre. Sie werden mit schönen Kleidern und allerlei Zierrathen geschmückt, des Nachts im Tempel schlafen gelegt und Morgens wieder aufgeweckt; täglich aber werden von früh fünf Uhr an verschiedene › Pudschas‹ gemacht, d. h. die Götzen werden mit Wasser, Milch und Honig abgewaschen, auch mit geschmolzener Butter und duftenden Oelen gesalbt. Darnach werden sie mit Asche von Kuhdünger bestrichen (Ihr wißt doch schon, daß die Kuh ein sehr heiliges Thier in Indien ist?) Kuchen von Milch, gesottenem Reis und Oel nebst Blumenkränzen ihnen vorgesetzt und sie selbst mit solchen umhängt. Endlich wird Kampfer vor ihnen angezündet, eine große Trommel geschlagen und unter Musik ein Tanz vor den Götzen gemacht. So besorgt aber ist man für ihre Ruhe und Bequemlichkeit, daß man sogar ein Netz gegen die Muskitos über sie ausbreitet und in der Hitze ihnen mit einem Fächer kühle Luft zuwedelt.

Aber wie viel habe ich da von den Götzen geschrieben, ich muß endlich aufhören; wenn ich nur das Eine dadurch bei Euch erreicht hätte, daß Ihr für uns hier in Indien betet, und daß Ihr, wenn die Heiden ihre todten Götzen so behandeln, ihre Treue und Sorgfalt nachzuahmen sucht an Denen, von denen der Herr Jesus gesagt hat: ›was ihr gethan habt dieser Geringsten Einem, das habt Ihr Mir gethan.‹ Nicht wahr, Ihr versteht, wie ich das meine? Schreibt mir doch einmal Alle, ob Ihr mich verstanden, und ob Euch die Sachen, welche ich hierbei schicke, Freude gemacht haben. Die Kiste wird hoffentlich sehr rasch in Eure Hände kommen; ein Bekannter von uns, der auf schnellstem Wege nach Deutschland reist, will so freundlich sein, sie mitzunehmen. Ich denke, Ende Oktober oder Anfang November habt Ihr sie, – dann werden Papa und ich auf einer Mela sein. Eine Mela ist nämlich ein großes Götzenfest, wo viele tausend Heiden zusammen kommen – und diese Gelegenheit will Papa gern wieder benutzen, um ihnen das Evangelium zu verkündigen. Da kommen sie an ihrem h. Fluß Ganges zusammen, sein Wasser ist nach aller Hindu Meinung so heilig, daß es dem darin Badenden alle Sünde abwäscht. Ja, die h. Bücher sagen, daß schon der Anblick des Ganges für heilsam gilt, einige Tropfen von seinem Wasser machen die Seele rein und durch öfteres Baden kann man, ich weiß nicht, für wie viele Millionen Jahre Seligkeit erlangen. Nach dem Ganges werden die Alten, die Kranken gebracht, Gangesschlamm wird ihnen in den Mund gestopft, sie liegen auf der bloßen Erde, am Tage den brennenden Sonnenstrahlen, in der Nacht der feuchten Kälte ausgesetzt, bis sie sterben. Niemand kümmert sich um sie; die sie hier hergebracht, meinen genug gethan zu haben, da sie ja nun im Angesicht der h. Mutter Ganga sterben. – Viele Verehrer der Ganga ersäufen sich in dem Strom, um nach dem Tode unfehlbar glücklich zu werden. In ein rohes Gewand gehüllt, einen Blumenkranz auf dem Kopf, setzt ein Solcher sich am Ufer eines Stromes nieder und sagt den Namen eines Götzen einige tausend Male her. Dann steigt er mit dem Brahmanen in ein Boot, das mitten in den Strom gerudert wird. Hier bindet man ihm einige leere Wasserkrüge an Hals und Schultern, die ihn anfangs über dem Wasser halten, allmählich aber sich füllend ihn in die Tiefe hinabziehen, während seine Freunde in der Nähe ein Freudengeschrei erheben. – Seht, Kinder, so wird der Hindu von Sünden rein und selig. – Und wenn nun schon der Ganges an sich heilig ist, wie viel mehr ist er es noch da, wo ein anderer heiliger Strom seine Fluthen mit ihm vereinigt? An solchem Vereinigungs-Punkte zweier Flüsse werden die besuchtesten Melas gehalten, und ein solcher ist auch das Ziel unsrer Reise. Wir werden wohl ziemlich lange ausbleiben, denn meine Gesundheit ist jetzt schwach, ich habe etwas am Fieber gelitten, und ein Luftwechsel soll mir durchaus nöthig sein; da wollen wir denn diese kalte Zeit benutzen, uns Stärkung für die zukünftigen heißen Tage zu holen. Schon wird unser Wagen gerüstet, unser Zelt, Geschirr und alles, was wir brauchen, aufgeladen, o, ich freue mich recht auf dieses Nomadenleben, Nachts im Zelte schlafen und jeden Tag den Ort wechseln! Ich möchte mich an allem Schönen, was da grünet und blühet unter diesem großen, blauen Himmelszelt so recht satt sehen und hören. Die Natur ist wohl in wenigen Ländern so schön wie in Indien, ja wohl, da, wo man den Menschen mit seinem Elend und mit seiner Qual nicht sieht! Vom Ganges denken wir uns dann nordwärts zu wenden, – auch vom Himalayah kann man sagen, was die arabischen Dichter vom Libanon rühmen: ›er trägt den Winter auf seinem Haupte, den Frühling auf seinen Schultern, den Herbst in seinem Schooße und den Sommer zu seinen Füßen.‹ Und in diesem reichen Lande wohnen so arme Leute, mit von Sünde und Leidenschaften zerrissenen Herzen! O, ich glaube, ich kann mich alle der Herrlichkeit doch nicht ganz freuen, so lange sie nicht Dem dient, der aller Himmel Himmel ist, – ja auch die Kreatur seufzet und sehnet sich mit uns immerdar, daß sie frei werden möchte vom Dienst der Sünde! Wohl uns, daß wir Alle diesem Ziele entgegen eilen. Ja, Margareth, zuweilen kann ich mich so recht herzlich nach der ewigen Heimath sehnen, nicht nur, weil ich jetzt so müde bin, sondern weil mir mein Vaterhaus droben immer bekannter wird, weil mir mein Heiland jeden Tag näher tritt und lieber wird, und ich mich danach sehne, verklärt zu werden und ohne Sünde Ihn zu schauen. Ich kann den Gedanken kaum fassen: hier Sünde überall, jede Handlung, jedes Wort, jeder Gedanke mit Sünde befleckt – und dann mit einem Male: licht und rein! Wenn ich mein Vaterunser bete, wird mir's oft so weh; Du Vater oben im Himmel und ich Dein Kind hier unten auf der Erde, im Thale des Elends, stehe mitten im Kampfe und kann nur aus der Tiefe zu Dir rufen. O, ich wäre so gern schon Ueberwinder, trüge die Krone auf dem Haupte, die Palme in der Hand, wäre so gern schon angethan mit dem weißen Kleide der Gerechtigkeit! Statt dessen ist Staub des Streits auf meinem Haupte, mein Kleid ist schmutzig und zerrissen von Sünde und Sündenkämpfen, die Harfe hängt an der Thränenweide. Aber Du hast gesagt: ›es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes,‹ nun bringe mich heim, wenn es Dein Wille ist. Meine Herzens-Margareth, ich sende Dir hier meinen theuersten Schatz, meine Bibel; ich habe Dir einige Worte hinein geschrieben, ich dachte, das Buch würde Dir noch ein wenig lieber sein, da Deine Mama es seit ihrem zehnten Jahre fortwährend in Gebrauch gehabt hat, – o Margareth, laß es Dir einen heiligen Ernst sein um's Seligwerden. Gieb Dich Christo ganz, wie Er sich ganz für Dich hingegeben hat. Ganz um Ganz! Trachte nach dem, was droben ist, – es ist ein schrecklich Ding, daß man alles, was man hat und besitzt, ohne Aufhören vergehen sieht und daß man doch daran hängen und kleben kann, ohne um sich zu sehen, ob es nicht etwas giebt, das nicht vergeht. Du weißt es, mein Kind, Dir ist gesagt, was dies eine Unvergängliche ist; eine Ahnung davon hat Jedermann und er ist nur darum unglücklich oder sucht Zerstreuung, weil er in sich die Idee einer Glückseligkeit fühlt, welche er in sich selbst nicht findet, und die er darum in äußerlichen Dingen sucht. Aber er sucht sie da vergebens, denn diese Glückseligkeit ist weder in ihm, noch in äußeren Dingen, sondern allein in Gott, – des Menschen Herz kann nicht eh' zur Ruhe kommen, bis es ruhet, Gott, in Dir.

Aber mein Brief wird zum Buche, wie oft habe ich ihn schon schließen wollen, und dann hatte ich Dir immer noch so viel zu sagen. Papa schreibt Dir und den lieben Stiegs noch selbst. Nun bete, daß uns Gott behüte und diese lange Reise zum Segen werden lasse.

Er räumt aus unsern Wegen weg
Des Unglücks scharfen Stein
Und schafft, daß unsre Bahn und Steg
Fein schlicht und eben sei'n.
Er führt uns über Berg und Thal.
Und wenn's nun rechte Zeit,
So nimmt Er uns in Seinen Saal
Zur ew'gen Herrlichkeit.
Alsdann werd' ich die letzte Reis'
Und schönste Heimfahrt thun,
Und nach dem sauren Erdenschweiß
In süßer Stille ruhn?« – –

Dieser Brief brachte eine eigenthümliche Wirkung auf Margareth hervor. Sie weinte bitterlich, und das so lebhafte und fröhliche Kind verfolgte von nun an eine unbestimmte Furcht, daß die Mama sterben könne. Sie mußte sehr krank sein, sonst, das wußte sie, hätte sie es gar nicht erwähnt, um so mehr, da sie denken konnte, wie ihr Kind in der weiten Ferne sich um sie ängstigen würde. Auch Stiegs konnten sich einer bangen Besorgniß nicht erwehren, – selbst der Umstand, den sie sich tröstend vorhielten, daß sie einen so langen Brief geschrieben, konnte sie nicht beruhigen, denn sie kannten die geistige Kraft von Agnes I., wußten, mit welcher Energie ihre Seele den Körper beherrschte, und daß sie wahrscheinlich erst im Tode die fleißigen Hände ruhen lassen würde. Auch der Brief von Margareth's Vater war nicht dazu gemacht, ihre Angst zu heben. Er erwähnte der Krankheit seiner Frau zwar nur mit wenigen, aber mit sehr ernsten Worten.

So schlugen die Herzen im Pfarrhause zu Burgdorf nicht ganz so fröhlich wie sonst; zwar zuweilen vergaß Margareth ihres Kummers, dann kehrte das alte Lächeln auf ihr Gesicht zurück, und ihr Mund sprudelte über von Witz und Laune. Alle bemühten sich, sie zu erheitern, selbst Marie, die bei fremdem Schmerz gar mitleidig war, trug das ihrige dazu bei, obgleich ihre Selbstsucht ihr immer wieder zuflüsterte: »das hast du gar nicht nöthig, du siehst ja, wie sich Alle schon um sie bekümmern.« Lilli war es sehr schwer, wenn jetzt Scherz und Lachen seltener im Pfarrhause waren, ihr Element war die Freude und jeder Schmerz war ihr peinlich, weil er diese verdrängte. Margareth ihrerseits, wenn sie ihren Kummer einmal vergessen hatte und fröhlich gewesen war, so machte sie sich hernach bittere Vorwürfe und beschuldigte sich der Lieblosigkeit gegen ihre Mama, daß sie deren Leiden hatte vergessen können.

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