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III.

Immer näher kommt die dunkle Wolke,
Immer schwärzer wird ihr Nachtgewand.
Was birgt sie in ihrem Schooße?
– Bang und zitternd lauschet rings das Land.

Angstvoll und beklommen geht der Odem,
Harrend dessen, was da kommen wird.
Werden Blitze züngelnd niederzucken,
Tödten jäh die Heerde und den Hirt?

Wird zerstörend Hagel niederprasseln,
Wüste machen reiches Saatgefild?
Daß, wo jetzt noch Fluren blühend prangen,
Man nichts sieht als der Zerstörung Bild?

Nein, nicht Fluch, nicht Unglück, nicht Verderben
Birgt die Wolk' in ihrem dunklen Schooß!
Segen, Segen, lauter reicher Segen
Keimt und wuchs in ihr und wurde groß.

Wohl ward bange dem verzagten Herzen,
Als sie öffnete den schwarzen Mund.
Blitze zuckten, Donner krachend rollten,
– Doch Gewitter macht das Land gesund.

Leise rieselt danach Regen nieder,
Tränkend, segnend rings die durst'ge Flur, –
Menschenkind, kannst Gott Du nicht verstehen?
Aus dem Schmerz keimt Freude. Glaube nur!

Vier Wochen waren so verflossen, ein kalter Dezembertag lag auf der Erde; die Pastorin Stieg war ausgegangen, der Pastor reichte einem Sterbenden im Dorfe das heilige Abendmahl, die Kinder machten ihre Schularbeiten, – jetzt im Winter war die freundliche Diele verödet; Margareth kam eben zur Treppe herunter, da wurde die Thür geöffnet und der Postbote trat ein; sich den Schnee von den Füßen schüttelnd, überreichte er Margareth einen Brief. Diese warf einen Blick auf denselben, dann wurde sie leichenblaß und fing an zu zittern. Der Brief war aus Indien und von einer fremden Hand an den Pastor Stieg adressirt. Es war Margareth, als müsse sie den Brief öffnen, als würde er ihres Lebens Wohl und Wehe entscheiden, – aber nein, vielleicht betraf er sie gar nicht, o – kommt nur der Pastor nicht bald nach Hause? Sie wartete eine Weile, aber sie fühlte, daß all ihr Blut zum Herzen strömte und dasselbe heftig schlagen machte, daß die Stiche, welche einem nervösen Kopfweh, an dem sie litt, vorher zu gehen pflegten, sich bei ihr einstellten, daß sie diese qualvolle Ungewißheit nicht länger ertragen könne. So ging sie, ohne recht zu wissen, was sie that, den Brief in der Hand, nach dem Hause, wo, wie sie wußte, der Kranke wohnte, bei dem Pastor Stieg war. Der frühe Abend war schon hereingebrochen, matt blinkte ein Licht durch die Fensterscheiben, diese waren noch nicht ganz zugefroren, Margareth blickte in das Stübchen. Da lag der sterbende Mann im Bette halb aufgerichtet, seine Frau stützte ihn mit ihren Armen, seine Kinder und Pastor Stieg knieten an seiner Seite. Der Pastor betete, nur einzelne Worte drangen zu Margareth's Ohr: »Herr, erbarme Dich! Christe, erbarme Dich.« Lange litt sie es nicht an dem Orte, sie konnte auch den Todeskampf nicht mehr sehen, der Onkel kam noch nicht, mechanisch drückte sie den Brief an sich. Ihre Angst war zu einer furchtbaren Höhe gestiegen, sie wußte nicht mehr was sie that, fühlte es nicht, daß sie ohne Hülle in dem kalten Winterabend draußen war. »Mama ist todt, Mama ist todt!« das war der eine Gedanke, der allmählich alle anderen verschlang und ihr immer mehr zur furchtbaren Gewißheit wurde. So kam sie bei der Kirche vorbei, die Thür war geöffnet, denn eben läutete der Cantor die Sechs-Uhr-Vesper. Ohne zu wissen, was sie that, trat sie ein, nur ein matter Schein von Licht fiel noch durch die Bogenfenster und beleuchtete das große Kreuz auf dem Altar. Zu jeher andern Zeit würde Margareth sich gefürchtet haben, Abends allein in die Kirche zu treten, heute war dies Gefühl verschwunden, ja die Ruhe und Heiligkeit des Ortes brachte sie einigermaßen wieder zu sich, denn sie erinnerte sich an Den, dem dieses Haus gehörte und der auch in diesem Augenblicke auf sie niedersah. Sie ging bis zum Altar, dort kniete sie an den Stufen nieder, eine furchtbare Angst packte sie, sie wollte beten, aber nur die Worte, die sie eben gehört hatte, konnte sie herauspressen: »Herr, erbarme Dich! Christe, erbarme Dich!« Der Kopf war ihr heiß zum Zerspringen, sie kühlte ihn auf den kalten Steinen des Fußbodens und wiederholte halb bewußtlos, halb mechanisch nur immer: »Herr, erbarme Dich! Christe, erbarme Dich!« – So fand sie der Pastor, der von dem Cantor, welcher Margareth gehört hatte, beim Nachhauseweg in die Kirche geführt war.

»Margareth, mein Kind, was ist Dir?« fragte er angstvoll.

»Der Brief, Onkel, der Brief, – ich suchte Dich!« entgegnete sie matt, und übergab ihm das zerknitterte Blatt.

Wohl erschrak auch der Pastor, als er beim Scheine der trüben Laterne die fremde Handschrift sah; er wußte nun sogleich, was Margareth hierher geführt. Doch er besann sich, liebevoll stützte er das aufgeregte Mädchen, hüllte sie in seinen warmen Shawl und brachte sie so nach Hause, wo die Familie Margareth mit Angst vermißt hatte. Jetzt war diese bleich wie der Tod, sie hatte keine Sehnsucht mehr, den Inhalt des Briefes zu wissen, sie kannte ihn. Matt trat sie auf die Pastorin zu: »Meine Mama ist todt!«

»Nun, wir wissen es noch nicht, laß uns nur erst sehen,« tröstete der Pastor. Er erbrach den Brief, – aber was war es, das den starken Mann erbleichen und zittern machte?

Margareth trat näher. »Um Gotteswillen, – was macht Papa? Warum schreibt er nicht?«

»Er ist ermordet,« sagte tonlos der Pastor.

Margareth sah ihn starr an, als verstände sie ihn nicht: »Und Mama ist todt?«

Er nickte leise mit dem Kopfe. Margareth sah mit wirrem Blick von Einem zum Andern, als erwarte sie, daß ihr Jemand ein »Nein, es ist nicht wahr!« zuriefe, dann verwirrten sich ihre Gedanken, das Auge schloß sich, und lautlos sank sie in die Arme der Pastorin.

Während eine wohlthätige Ohnmacht ihre Sinne umhüllt, wollen wir den Brief lesen, der so schreckliche Nachrichten gebracht. Ein Freund von Margareths Vater, der Missionar L., schrieb folgendermaßen:

 

A., 31. Oktober 18..

»Im Herrn Jesu theurer Freund!

Gottes Gnade und Christi Trost sei mit Ihnen und Ihrem ganzen Hause! Ja Gott selber mag Ihnen und besonders der unglücklichen Tochter meines Freundes mit seinem Troste nahe sein, daß Sie die furchtbare Kunde, die ich Ihnen mitzutheilen habe, tragen können. Meine Hand zittert und mein Herz weint, wenn ich die Ereignisse der letzten Tage mir wieder zurückrufe, – doch ich will versuchen, Ihnen alles, was der Herr, des Wege in tiefen Wassern sind, über uns verhängt hat, ordentlich mitzutheilen, – möge Er Ihnen dann das rechte Wort geben, es der armen Margareth zu sagen.«

 

Die Regenzeit war in diesem Jahre ungewöhnlich früh vorbei und Missionar J., dessen Gattin in der letzten Zeit sehr leidend war, trat gleich nach Verlauf derselben eine Reise mit ihr an, von der er eine günstige Wirkung für sie erwartete. Eigentlich war's eine Missionsreise, denn dieser treue Jünger des Herrn arbeitete mit rastlosem Eifer im Weinberge seines Gottes, nicht ahnend, daß er zum Blutzeugen erwählt war. So reisten sie nach mehreren Götzenfesten, wo J. laut und klar das Wort Gottes predigte. Auf der Mela zu A. traf ich verabredetermaßen mit ihm zusammen, er war so gesund und frisch, wie nur je, während seine Gemahlin sehr am Fieber litt, viel im Zelte liegen und beim Weiterreisen stets im Palankin sich tragen lassen mußte. Die Mela zu A. war diesmal sehr besucht, viele Fakire bemerkten wir unter den Anwesenden, welche, bange, daß unsere Predigt ihrem fanatischen Götzendienst und ihrer traurigen Selbstanbetung Abbruch thun könnte, uns oft unterbrachen und auf alle Art zu stören suchten. Auf der anderen Seite hatten wir wieder selten so aufmerksame Zuhörer gehabt, als dies Mal. Viele waren so begierig, das Wort des großen parmeswer (Gottes) zu hören und Bücher von uns zu bekommen, daß wir am letzten Tage des Festes so umdrängt waren, als wir am Ufer des Ganges predigten, daß wir in ein Boot steigen und einige Schritte vom Lande abstoßen mußten; von da aus predigten wir weiter und J. war so erfreut, daß er, auf den großen Haufen Zuhörer deutend, mir freudig zurief: »Siehe da, das Feld ist weiß zur Erndte!« Am andern Tage war die Mela vorbei, aber wir Missionare alle, die wir hier gepredigt hatten, beschlossen, das h. Abendmahl mit einander zu feiern, ehe wir uns trennten. Das Zelt des Bruder I. wurde dazu bereitet, Frau J. stand auf und schmückte einen Tisch, den sie als Altar hergerichtet hatte, mit köstlichen Blumen. J. hielt die Predigt über die Worte: Ps. 110, 3. »Nach Deinem Sieg wird Dir Dein Volk williglich opfern im heiligen Schmuck; Deine Kinder werden Dir geboren wie der Thau aus der Morgenröthe.« Er sprach erst von den Heiden, ging aber bald zu uns über und hielt uns vorzüglich immer wieder vor, daß, nachdem Christus für uns gesiegt und uns besiegt habe, wir Ihm auch willig opfern müßten im heiligen Schmuck. Er wurde immer feuriger, zuletzt war seine Predigt nur noch ein Zwiegespräch zwischen ihm und dem Herrn: »Ja, Herr, nimm mich ganz hin, ich will Dir alles, was ich habe, sei's auch das Liebste, ich will Dir alle meine Neigungen, meine Begierden, mich selbst mit Leib und Seele opfern, hilf Du, daß kein Blutstropfen mehr in mir ist, der nicht gern für Dich fließen möchte, o Herr nimmst Du mir das Herz aus meinem Herzen (sein Gedanke dabei war wohl seine bleiche Frau), ich will Dir's opfern williglich. Und im heiligen Schmuck. In Deiner Kraft,« – aber ich kann's nicht wiedergeben, was er sagte, wir waren Alle auf's innigste bewegt und er schloß mit den Worten:

Christi Blut und Gerechtigkeit
Das sei mein Schmuck und Ehrenkleid,
Damit will ich vor Gott bestehn,
Wenn ich zum Himmel werd' eingehn.

Nun folgte die Beichte, Absolution und dann empfingen wir Leib und Blut des Herrn. »Das tröste, stärke und erhalte Dich zum ewigen Leben,« – o, wir ahnten nicht, daß der Morgenglanz der Ewigkeit so bald über zwei der Abendmahlsgenossen hereinbrechen sollte! Noch am selben Abend reisten die meisten Missionare ab, J. wollte am nächsten Morgen in der Frühe aufbrechen; wir saßen am Abend beisammen, der Herr war uns fühlbar nahe. »Mir ist es, als hätte ich zum letzten Mal das heilige Sakrament genommen,« äußerte Frau J.

»Fühlst Du Dich besonders matt und elend, meine Agnes?« fragte ihr Mann.

»Nein, ganz im Gegentheil; mir ist so leicht zu Muthe, auch das Fieber ist fort, ich glaube, ich werde morgen stundenweit gehen können! Aber ich bleibe doch nicht mehr lange hier,« fügte sie leiser hinzu, »und ich gehe gern. Bis jetzt war mir der Gedanke, Dich und Margareth zu verlassen, so schrecklich. Aber heute ist's mir, als könnte ich auch das alles hingeben. Ich weiß, Dich sehe ich beim Herrn wieder und Margareth auch; das habe ich mir von ihm erbeten. O, Du kannst nicht denken, wie Jesus jetzt bei mir ist und was er in den einsamen Stunden des Krankenlagers alles mit mir geredet hat. Er hat mir so viel von der Herrlichkeit des Himmels erzählt, daß es mir hier oft ordentlich dunkel und öde vorkommt.«

J. zog seine Frau an sich und sagte: »Selig sind, die da Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen.«

Sie drückte seine Hand an ihre Lippen und flüsterte: »O, ich danke Dir, daß Du mir ein so treuer Helfer bist, mir auch jetzt das Sterben leicht machst.«

Ich ging hinaus, sie hatten wohl ganz vergessen, daß ich mit ihnen im Zelte war. Aber mir war's, als müßten sie allein sein, als wäre dies vielleicht das letzte Gespräch zwischen Mann und Frau. Die Krankheit der Letzteren hatte jetzt in kurzer Zeit solche Fortschritte gemacht, und ihre großen Augen leuchteten heute in solchem überirdischen Glanze, daß es mir war, als gehöre sie eigentlich dieser Erde nicht mehr recht an.

Nach einer Weile hörte ich sie Beide Frau J.'s Lieblingslied singen:

» Abide with me from morn till eve,
For without Thee I can not live.
Abide with me when night is nigh
And without Thee I dare not die.

(Bleibe bei mir, vom Morgen bis Abend,
Denn ohne Dich kann ich nicht leben.
Bleibe bei mir denn die Nacht ist dunkel
Und ohne Dich darf ich nicht sterben.)«

Am andern Morgen wollten wir uns trennen. J.'s wollten weiter reisen, ich nach unserer verlassenen Station zurückkehren. Frau J. lag angekleidet im Zelte, ihr Mann stand vor demselben und wollte dem in einiger Entfernung beschäftigten Diener einige Anweisungen geben, ich ließ eben mein Zelt abbrechen, – da stürzt ein scheußlich bemalter Fakir mit einer großen Keule hinter einem Baume hervor und versetzt dem ahnungslosen J. einen solchen Schlag auf den Kopf, daß derselbe lautlos zu Boden stürzt; ein zweiter furchtbarer Schlag zerschmettert ihm das Gehirn, und macht sein Blut weit umher spritzen. – Ich konnte diese Scene nicht sehen, – höre aber ein furchtbares Geschrei von den Dienern, die plötzlich alle nach J.'s Zelte stürzen. Ich eile auch dahin, – o, welch ein Anblick bot sich mir dar! Auf der einen Seite die Diener, welche einen wahnsinnig aussehenden Fakir greifen, auf der anderen der theure J. mit zerschmettertem Haupte, zur Unkenntlichkeit entstellt, und neben ihm kniet eine Frauengestalt, deren weißes Gewand von seinem Blute überströmt wird. Ich helfe ihr ihn in's Zelt tragen, – er war natürlich längst todt. Frau J. war bleicher fast als der Todte, aber vollkommen ruhig und gefaßt. Mit ihrem Halstuche banden wir den Kopf des Ermordeten zusammen, dann wuschen wir das Blut vom Gesicht, aber er war doch gräßlich entstellt. Frau J. küßte die liebe Leiche, dann kniete sie nieder und küßte sie wieder, – aber keine Thräne kam aus ihren Augen. Ich übergehe das Wehklagen der Diener, die Entrüstung der englischen Beamten, die nun aus der Stadt kamen. Schnell besorgte ich das Nöthige zur Beerdigung, welche in diesem heißen Klima noch am selben Tage stattfinden mußte; Frau J. war den ganzen Tag auf, das Fieber hatte sie verlassen, sie saß fortwährend neben ihrem Gatten, schmückte den theuren Entschlafenen mit Blumen und sprach sehr, sehr wenig; doch aus diesen wenigen Worten konnte man entnehmen, daß keineswegs Verzweiflung sie erfaßt hatte, daß sie diesen Todesfall als keine Trennung betrachtete. »Er muß nur einen Augenblick Schmerz gehabt haben und dann gleich gestorben sein,« äußerte sie einmal, und dann wieder: »Graben Sie das Grab so groß, daß noch ein Sarg hinein kann.« Sie bestand aber darauf, ihm das letzte Geleit zu geben, und ich mochte ihr nicht weiter widerstreben, ich fühlte, schaden konnte ihr der Gang nicht mehr. »Ich muß doch sehen, wo unser Gebein dem Auferstehungsmorgen entgegen schlummert,« sagte sie lächelnd, und auf meinen Arm gestützt ging sie zum Begräbnißplatz. Beim Rückweg ersuchte sie mich, hier zu bleiben, bis alles vorbei wäre, an ihrem Grabe dieselben Lieder singen zu lassen, die heute gesungen waren; dann bat sie mich, an Sie, geehrter Herr Pastor, zu schreiben, »meiner Margareth,« und hier zitterte ihre Stimme zum ersten Male, »hoffe ich noch selbst zu schreiben.«

Sie hat es nicht mehr gekonnt, inliegender Zettel ist das letzte Vermächtniß, das Frau J. ihrem geliebten Kinde schickt. Kaum im Zelte angekommen, brach das Fieber mit furchtbarer Gewalt aus und schüttelte den zarten Körper mit dämonischer Macht. Eine alte Dienerin hat sie treu gepflegt, ich war viel bei ihr, aber nur selten erkannte sie mich. Wider Erwarten lebte sie noch drei Tage, am Abend des vierten Tages ließ sie mich rufen, nahm meine Hand in die ihre, wollte sprechen, konnte aber nicht mehr. Sie wies nach oben, ich kniete an ihrem Lager nieder und betete, – da haben unter dem Gebet die Engel ihre Seele in Jesu Schooß getragen, ein Lächeln lag auf dem friedvollen Angesicht. Am andern Tage, heute, ist sie in ein Grab mit ihrem Gatten gelegt, vereint haben sie gelebt, vereint haben sie geliebt, vereint sind sie gestorben, vereint werden sie aus den Gräbern auferstehen, wenn an jenem großen Morgen das Feldgeschrei: »Lazare, komm heraus!« ertönen wird, vereint werden sie zur Rechten Gottes stehen, – o Margareth, daß Du dann an der Stelle nicht fehlen mögest! Gott tröste das arme Kind in seinem herben Schmerz! Sie wird wohl nun bei Ihnen bleiben, – die Mutter hat keine Bestimmungen über sie getroffen, früher war es ihr ein lieber Gedanke, daß Margareth, wenn sie nun heimgegangen, ihren Vater lieben und pflegen sollte; in den letzten schrecklichen Tagen hat sie wohl an ihre Seele, aber nicht mehr an irdische Dinge gedacht. Bitte, schreiben Sie mir, ob das liebe Mädchen bei Ihnen bleiben wird, ich werde hier alles ordnen und Ihnen seiner Zeit Bericht erstatten. Für heut kann ich nichts mehr schreiben, ich kehre morgen nach meiner einsamen Station zurück, die Gemeinde wird trauern und sich nicht trösten lassen, J.'s sind unbeschreiblich geliebt worden und wir haben viel an ihnen verloren, aber unser Verlust ist ihr sehr großer Gewinn. Gott segne Sie alle, besonders die arme Margareth wolle er selber an sein Herz nehmen und sie trösten; denn Menschentrost reicht hier nicht aus. Aber er wird's thun. Sind Seine Wege wunderlich, so sind sie doch selig, »was ich jetzt thue, das weißt Du nicht, Du wirst es aber hernach erfahren.«

– – Ueber das Pfarrhaus von Burgdorf kamen schwere Tage. Margareth war aus ihrer Ohnmacht erwacht, aber Fieberwahn hielt ihre Sinne gefangen. Der Doktor wurde gerufen, er sagte, daß ein tüchtiges Nervenfieber bevorstehe, verordnete die größte Ruhe; außer einer Wärterin durften nur die Eltern Margareths Stube betreten. Der Krankheit Heftigkeit nahm mit jedem Tage zu, oft konnten zwei Personen das schwache Kind kaum im Bette halten, dem das Fieber unnatürliche Kraft verlieh, und das durchaus zu seinen Eltern wollte. Bald war Margareth in ihrer Phantasie in Indien, bald in Deutschland, bald redete sie leise kosend mit ihrer Mama, bald sah sie mit Angst lauter Mörder um sich und »Blut, Blut!« schreiend, wollte sie fortstürzen. – Ja, es waren lange, angstvolle Tage und endlose Nächte, die die Pastorin an Margareths Bette durchwachte. Der Doktor gab wenig Hoffnung und oft dachte die Pastorin fast mit Freude daran, was die Eltern wohl sagen würden, wenn ihr Kind so bald zu ihnen käme? Aber dann wallte ihr mütterliches Herz wieder in Liebe auf für das verwaiste Kind, sie hätte es so gern noch hier behalten, um ihm alle Treue zu erweisen. – Die Kinder schlichen leise im Hause umher, der Gedanke, Margareth zu verlieren, war Allen schrecklich, und Marie war wirklich rührend in ihrer Sorgfalt, sie wenigstens mittelbar zu pflegen, indem sie für die Mutter that, was sie konnte, damit diese das Krankenzimmer nur wenig zu verlassen brauchte. Diese bange Zeit war für die Kinder jedenfalls eine Segenszeit, sie lernten so recht in der Praxis sich an den Herrn wenden und ihn um seine Hilfe bitten. So vergingen vierzehn Tage, und noch immer war in Margareths Zustande keine Veränderung eingetreten, das liebe heilige Christfest nahte heran, aber an die äußeren Vorbereitungen zu demselben dachte Niemand, das einzige irdische Geschenk, das Alle vom Herrn erflehten, war Margareths Leben. Da, am vierzehnten Tage, sagte der Doktor, ein lieber Freund der Stieg'schen Familie: »die Krisis ist eingetreten, nun wird sich's entscheiden, ob Leben oder Tod.« Er ließ seine Pferde ausspannen, denn er wollte an dem Krankenbette, das sich heut so leicht in ein Sterbelager verwandeln konnte, so viel als möglich bleiben. Vormittags phantasirte Margareth wieder sehr, bat die Anwesenden, ihr doch den Weg nach Hause zu zeigen, – dann kam eine völlige Erschlaffung und Abspannung über sie. Am Nachmittag schlief sie ein. »Wenn sie nun wieder erwacht, so erwacht sie zum Leben, aber um alles keine Störung,« sagte der Doktor weggehend. Die Pastorin setzte sich an's Bett, des Kindes Schlummer zu bewachen, im Hause war alles still, Ferdinand stand trotz der Winterkälte stundenlang vor der Hausthür, jeden Kommenden draußen abzufertigen. Margareth schlief lange, lange, die Pastorin beugte sich zuweilen über sie, um zu sehen, ob auch das Leben nicht entflohen. In der Nacht wurde ihr fieberhafter Schlaf ruhiger, – das war schon ein Zeichen, daß die Krisis vorüber. Gegen Morgen öffnete sie die Augen und sah etwas wirr umher. Sie erkannte ihre treue Pflegerin.

»Tante, wo bin ich?« sagte sie leise.

»Bei uns, mein Kind, in Burgdorf.«

»Aber warum liege ich denn in dieser Stube? Bin ich krank gewesen?«

»Ja, sehr krank und Du bist es noch. Doch nun sei ganz still, der Doktor hat gesagt, Du solltest gar nicht reden.«

Margareth schloß die müden Augen. Doch in ihrer Seele wurde es allgemach klar. Plötzlich stand die ganze furchtbare Wahrheit vor ihr; »Sind meine Eltern todt? Oder habe ich geträumt?«

»Still, still, liebes Kind,« beruhigte die Pastorin, »ein ander Mal sprechen wir mehr davon. – Ja, weißt Du, Deine Mama sehnte sich nach dem Herrn Jesu und da hat Er sie zu sich in Seinen schönen Himmel genommen; und sie wollte sich so schwer von Papa trennen, da hat er den auch rasch und schmerzlos heimgeholt.«

Margareth weinte. Die ersten Thränen seit langer Zeit. O, wie sie ihr so wohl thaten! Doch bald schlief das liebe Kind wieder ein.

Die Pastorin schlich leise hinaus, sie theilte den Ihrigen die frohe Kunde mit, da schlugen die Herzen höher, und Lächeln trat auf die ernsten Gesichter. Die traurige Ursache von Margareths Krankheit war nun in der Freude über ihre Genesung fast vergessen.

Aber diese Genesung ging langsam, sehr langsam vorwärts. Je mehr Margareth wieder zum Bewußtsein kam, je klarer trat auch der große Verlust, den sie erlitten, vor ihre Seele. In ihrer Krankheit hatte sie den ja nicht gefühlt, jetzt flössen ihre Thränen fast fortwährend, und auf dem blassen Gesichte malte sich ein so tiefer Schmerz, daß von einer Zunahme der Kräfte unter solchen Umständen wohl nicht die Rede sein konnte. Der Doktor schüttelte den Kopf: »das Nerverfieber hat sie überwunden, doch nun überwindet der Schmerz sie.« – Aber die Eltern erkannten klar, sollte eine leibliche Genesung eintreten, so mußte die geistige ihr vorangehen.

»Sieh, Margareth,« mit diesen Worten setzte sich eines Tages der Pastor Stieg an ihr Bette, »da ist der Zettel von Deiner seligen Mama, auf den sie ihre letzten Worte für Dich schrieb.«

Margareth griff hastig darnach, ihre Augen füllten sich mit Thränen.

»Warte, mein Kind, ich will Dir vorlesen, was darauf steht.« Er beugte sich über sie und Beide lasen: Offb. Joh. 21, 7. »Wer überwindet, der wird es alles ererben.«

»Das ist ein köstliches Vermächtniß!« sagte der Pastor nach einer Pause. »Weißt Du wohl, was Deine Mama mit »Ueberwinden« gemeint haben mag?«

»Ich denke, sie wird gemeint haben, ich soll die Sünde überwinden, – nicht wahr, Onkel?« erwiderte Margareth.

»Gewiß. Aber was verstehst Du denn eigentlich unter Sünde, mein Kind?«

»Alles was Gott verboten hat und was ihm mißfällt!«

»Nun, sage einmal, meine theure Margareth, was meinst Du, würde wohl Heinrich mein Wohlgefallen haben, wenn er mit irgend einer Anordnung, die ich getroffen hätte, und die ihm weh thäte, so unzufrieden wäre, daß er lange Zeit darüber klagte und murrte? Würde ein solches Betragen mir, seinem Vater, nicht im höchsten Grade mißfällig fein müssen?«

Margareth schwieg, sie sah ihren Onkel an und ihr ausdrucksvolles Auge sagte, daß sie ihn verstanden. Doch seine Worte kamen ihr fast kalt und hart vor, wäre sein Blick nicht so mild und gütig auf sie gerichtet gewesen, so würden seine Worte sie empört haben. Aber konnte er, der so liebevoll war, sie verletzen und kränken wollen, oder Unmögliches von ihr fordern? Nimmermehr! Sie sagte daher nur leise: »Ach Onkel, ich kann aber nicht anders, ich muß immerfort weinen.«

»Deinen Thränen zürne ich nicht, mein Kind, ich habe oft mit Dir geweint. Aber dennoch glaube ich, wird Dein Schmerz zur Sünde wider Gott. Denke doch, Er, der Dich viel mehr liebt, als Deine Eltern Dich lieben konnten, würde Er sie Dir genommen haben, wenn es nicht für sie und für Dich gut wäre? Er hat keine Freude daran, seine Menschenkinder zu plagen; wenn er schlägt, so hat er seine oft verborgenen, aber wunderbar herrlichen Absichten dabei. Er will uns selig machen, Margareth, darauf zielen alle seine Führungen, nun sträube Dich nicht, ergieb Dich seinem Willen; überwinde Deinen Schmerz; weil Dein bester, Dein himmlischer Vater ihn Dir schickt, darum mußt Du ihn williglich annehmen, nicht trostlos weinen, sondern still und fröhlich sein. Sieh, mein Kind, Deine Eltern sind so selig, daß sie nicht wieder in dies Leben zurückkehren würden, wenn sie auch könnten. Lies nur einmal das ganze 21. Kapitel der Offb. Joh., aus dem Deine Mama Dir den köstlichen Spruch schrieb, da steht es, welche Herrlichkeit sie ererbt haben. Und zu einer gleichen bist Du berufen, »Du sollst es Alles ererben,« aber nur, wenn Du überwunden hast.«

»Lieber Onkel, ich glaube, ich kann nur nicht, ich bin so sehr traurig.«

»Nein, Margareth, Du kannst nicht. Aber es steht geschrieben: »Bittet, so werdet ihr nehmen,« nun, bitte nur den Herrn um Kraft, und Er wird Dir alles geben, was Dir fehlt.«

»Darf ich Dich wohl noch eins fragen?« sagte Margareth schüchtern.

»Gewiß, so viel Du willst.«

»Sieh, Onkel, wenn ich ja einmal einen Augenblick nicht an Papa und Mama gedacht habe, da, als ich die Brüder und Schwestern wieder sah und so, – dann habe ich mir hernach so bittere Vorwürfe gemacht und gemeint, es sei ein Unrecht gegen sie, wenn ich nur einen Augenblick an etwas anderes dächte.«

»Nimmer, mein Kind, – da bist Du in großem Irrthum. Vergessen sollst und wirst Du Deine Eltern nie, Du sollst sie in dankbarem Kinderherzen tragen, aber sie Dir nur als selige Erben und als Erlöste vorstellen. Dann wird das Andenken an sie Dir kein Schmerz mehr sein, wird Dich nicht unfähig machen zu Deinen täglichen Geschäften, die Gott Dir hier auf Erden aufträgt.

Gestehe es Dir nur, liebe Margareth, in Deinem Schmerz suchst Du nur Dich, Du beweinst Dich, denn Deine Eltern kannst Du nicht beweinen, die einen so glücklichen Tausch gemacht haben, Dein Schmerz ist eigentlich nichts weiter als Selbstsucht.«

Margareth lag eine Weile still da. Offenbar kämpfte sie mit sich selbst. Die Worte des Onkels verletzten sie, doch war sie zu aufrichtig, einer erkannten Wahrheit nicht sofort Raum zu geben. Sie sah, daß er Recht hatte und reichte ihm die Hand.

»Onkel, bitte, bete mit mir, daß ich überwinde,« bat sie. Der Pastor kniete am Bette nieder, auch das Waisenkind faltete seine Hände und sie beteten zu Gott um Kraft in Allem weit zu überwinden um Deswillen, der sie geliebt hatte.

Von diesem Tage an ging es vorwärts mit Margareth. Der Pastor wußte wohl, was er that, als er sie so hart anfaßte. Sie war eine starke Natur, wenn sie ihren Willen auf etwas richtete, so führte sie dies meist mit Beharrlichkeit aus. Bis jetzt hatte sie ihren Schmerz als höchst berechtigt, ihre Thränen als selbstverständlich betrachtet. Zum ersten Male wurde ihr nun beides in einem andern Lichte gezeigt. Sich selbst überlassen, hätte sie vielleicht diesen Schmerz gehegt und gepflegt als ein theures Gut, hätte, um den Todten eine Treue zu bewahren, sich gegen die Lebenden schwer versündigt und noch geglaubt, ein verdienstlich Werk vor Gott mit so todter Treue zu thun, – nun hatte ihr Gottes Wort gezeigt, daß dieser übermäßige Schmerz nicht nur keine Tugend, sondern Sünde war, und nun säumte sie nicht, bis auf's Blut dagegen zu kämpfen. Wohl Dir, Margareth, wer überwindet, der wird es alles ererben!

Es war ein Fest, als Margareth an einem Februartage wieder aufstand und sie selbst lachte über ihre Ungeschicklichkeit, wie sie es nannte, denn wie ein kleines Kind mußte sie wieder stehen und gehen lernen. Aber gar frauenhaft kam sie Allen in dem feinen, weißen Häubchen vor, – ihr schönes kastanienbraunes Haar hatte sie in der Krankheit ganz verloren, – dann war aber auch ein gewisser Ernst in ihrem ganzen Benehmen, fast möchte man sagen, eine Würde, – selbst wenn sie lachte, war sie nicht mehr das fröhliche Kind, – das schwere Leid hatte sie früh zur Jungfrau reifen lassen.

Und für alle Hausbewohner war der bange Winter ein Segen geworden, ja, der Vater hatte damals wohl Recht gehabt, als er sagte: »im kalten Winter wird der Herr Christus geboren.« Die Eltern fühlten es an ihrem Herzen, daß das Leid sie näher zum Herrn getrieben hatte, Heinrich war's ebenso, Ferdinand hatte etwas von seiner Unstetigkeit verloren und Marie, obgleich der böse, schwarze Wurm sich immer noch im Herzen regte, ja jetzt, als nun Margareth wieder in den täglichen Kreis trat, und allein der Gegenstand allgemeiner Liebe und allgemeinen Interesses war, mehr als je sein Haupt erhob, hatte doch Erfahrungen von der Liebe des Herrn, und daß er Gebet erhöret, gemacht. Am wenigsten von Allen war wohl Lilli von dem Hauch des heiligen Geistes, der durch das Haus wehte, berührt worden. Sie hatte wie unter einem schweren Druck während der Zeit gelegen, jetzt warf sie ihn ab und war wieder das sorglose, liebenswürdige, fröhliche Kind von früher, dessen Bedürfniß es war, Allen zu Liebe zu thun, was es ihnen an den Augen absehen konnte.

Frau von Heß hatte oft geschrieben und sich sehr theilnehmend gezeigt; jetzt wollte sie gern ihre Nichte für immer, da sie kinderlos war, in ihr Haus aufnehmen. Margareth erschrak. Aber höflich lehnten Pastors dies Anerbieten ab, es war ja der Eltern Wille gewesen, daß ihr Kind bis nach der Einsegnung in Burgdorf bleiben sollte, später mußte sie dann auf einige Zeit nach Berlin gehen, und was weiter geschehen würde, – nun dies lag noch in weiter Ferne, und jetzt sollte darum noch nicht gesorgt werden.

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