Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.

Die Bewohner des Siebenbürgerlandes und die Touristen, die über den Vulkansattel wandern, kennen vom Karpathenschlosse nur sein Aeußeres. Infolge der respektvollen Entfernung, in welcher die Furcht auch die tapfersten Leute von Werst und seiner Umgegend hielt, zeigte das Schloß den Blicken bloß den mächtigen Steinhaufen einer Burg in Trümmern.

Aber war die Burg im Innern so baufällig wie sich dem Aeußern nach schließen ließ? Nein. Unter dem Schutz ihrer festen Mauern waren die Baulichkeiten noch immer so fest, daß die alte Feudalfestung einer ganzen Garnison hätte Unterstand geben können. Franz hatte bloß einen einzigen Gedanken gehabt, in dieses Innere hinein zu dringen, und es war ihm geglückt. Ohne sich mit Gedanken über die Ausführbarkeit der Rückkehr zu befassen, ohne daß es ihm aufgefallen war, daß die Zugbrücke bloß niederzugehen schien, um ihn einzulassen, ohne daß er sich Unruhe machte darüber, daß sich das Tor, kaum daß er den Fuß hindurchgesetzt hatte, wieder schloß, daß sich die Zugbrücke, kaum daß er hinüber war, wieder senkte, rannte er die weite, gewölbte Galerie entlang, mitten in dichtester Finsternis, über den stellenweis so arg beschädigten Estrich, daß der Fuß allen Halt zu verlieren drohte. Franz hielt sich an die linksseitige Wand und suchte Stütze an einem Anstrich, dessen Salpeter-Ueberzug unter dem Druck seiner Hand wich. Außer dem in der Ferne widerhallenden eigenen Schritte drang kein Geräusch zu ihm. Im Rücken traf ihn ein lauwarmer Luftzug, untermischt mit etwas wie Moderduft.

An einem steinernen Pfeiler vorbei, der den letzten Winkel links stützte, gelangte Franz zum Eingänge eines merklich weit schmälern Ganges, dessen beide Wände er mit gespreizten Armen berührte.

So drang er vor, in gebückter Haltung, um zunächst festzustellen, ob der Gang in gradliniger Richtung laufe. Ungefähr 200 Schritte von dem Pfeiler im Winkel ab merkte Franz, daß der Weg links abbiege, um nach fünfzig weiteren Schritten völlig entgegengesetzt zu laufen. Franz versuchte seinen Gang zu beschleunigen; aber aller Augenblicke wurde er durch einen Bodenvorsprung, gegen den er rannte, oder durch weitere scharfe Biegungen aufgehalten. Von Zeit zu Zeit traf er auf eine Oeffnung in der Wand, durch die sich Seitenwege abzuzweigen schienen. Aber alles lag in undurchdringlicher Finsternis, und umsonst suchte er sich im Schoße dieses Labyrinths, eines richtigen Maulwurfbaus, zurechtzufinden.

Wiederholt sah er sich gezwungen, umzudrehen, weil er gewahr wurde, daß er sich in Sackgassen verlief. Was er vor allem fürchten mußte, waren Falltüren, die zufolge schlechten Verschlusses unter seinem Fuße weichen könnten, oder Verließe, aus denen es für ihn kein Entrinnen mehr geben möchte. Darum achtete er, sobald er auf hohl klingende Stellen im Estrich geriet, sorgfältig darauf, den Halt an der Wand zu behalten, drang aber nach wie vor mit einem Eifer vor, der ihm keinen Augenblick Muße zur Ueberlegung ließ.

Es stand für ihn außer Frage, daß zwischen dem Ausfalltor und den Burgbaulichkeiten eine direktere Verbindung vorhanden sein müsse. Zur Zeit als die Burg vom Geschlechte der Görz noch bewohnt war, bestand die Notwendigkeit nicht, sich durch diese endlosen Gänge den Weg zu suchen. Ein zweites Tor, dem Ausfalltor gegenüber, auf der andern Seite der Galerie, führte nach der Waffenkammer, in deren Mitte sich der Lugturm erhob; aber es war verbaut und Franz hatte nicht einmal die Stelle wahrnehmen können, wo er sich befand.

Eine Stunde lang war der Graf so herumgeirrt, gespannten Ohres, ob sich irgendwo ein Geräusch hören lasse, und ohne daß er sich getraute, jenen Namen wieder auszurufen, den die Echos bis zu der höchsten Warte des Lugturms hinaustrugen. Ihm sank der Mut nicht, und nicht früher wollte er weichen, als bis ihm die Kraft völlig versagte und sich ihm kein unübersteigliches Hindernis gegenüber stellte.

Franz war aber schon am Ende seiner Kraft, ohne daß er sich dessen bewußt wurde. Seit seinem Aufbruch von Werst hatte er nichts gegessen. Er litt Hunger und Durst. Sein Schritt war nicht mehr fest, und die Beine versagten ihm. In der feuchten warmen Luft, die sein Kleid durchdrang, war ihm der Atem kurz geworden und schlug ihm das Herz wie rasend.

Es mußte fast 9 Uhr sein, als Franz, den Fuß vorsetzend, keinen Boden mehr fand. Er bückte sich, und seine Hand traf auf eine Stufe, die nach unten führte, dann auf eine zweite, dritte und so fort. Eine Stiege führte in die Kellerräume des Schlosses, vielleicht zu einem Ausgange.

Franz zögerte nicht, sie zu betreten. Er zählte die Stufen. Die Treppe lief in schräger Richtung zu dem Gange. 77 Stufen führten zu einem zweiten horizontal laufenden Gange, der sich in vielfältigen finsteren Ab- und Umwegen verlor.

Franz lief eine reichliche halbe Stunde und wollte schon, von der maßlosen Anstrengung wie zerschlagen, inne halten, als etwa 2-300 Schritte vor ihm ein leuchtender Punkt sichtbar wurde.

Woher kam dieser Schein? war es bloß eine natürliche Erscheinung, das Leuchtgas eines Irrlichts, das sich in der Tiefe entzündet hatte? oder war es bloß ein Licht, das von einem in der Burg Wohnenden getragen wurde?

»Sollte sie es sein?« flüsterte Franz.

Ihm fiel der erste Lichtschein ein, der ihm den Weg zur Burg hinein gewiesen hatte, als er sich zwischen die Felsen des Orgall-Plateaus verirrt hatte. Wenn es die Stilla war, die ihm von einem der Turmfenster aus geleuchtet hatte, so ließ sich wohl mutmaßen, daß sie jetzt wieder es war, die ihn durch die Kreuz- und Quergänge dieser unteren Schloßräume führte.

Kaum seiner noch Herr, bückte sich Franz und sah geradeaus, ohne sich zu rühren.

Ein Lichtschein weit mehr als ein Lichtpunkt schien am Ende des Ganges eine Art unterirdischen Gewölbes zu füllen.

Außer stande, sich noch auf den Beinen zu halten, kroch Franz auf allen Vieren an der Erde weiter und brach, nachdem er durch eine schmale Oeffnung gekrochen war, auf der Schwelle eines Grabgewölbes zusammen.

Dieses Grabgewölbe, verhältnismäßig gut erhalten und annähernd ein Dutzend Fuß hoch, dehnte sich in kreisrunder Form über einen fast gleichmäßigen Durchmesser. Dem zwischen zwei Säulen befindlichen Portal gegenüber befand sich eine zweite verschlossene Tür, an welcher die verrosteten Kuppen dicker Nägel die Stelle anzeigten, wo sich auf der Außenseite das Schloß befand.

Franz richtete sich auf, schleppte sich bis zu dieser zweiten Tür und suchte die schweren Beschläge zu lösen. Vergebliche Mühe!

Einiges baufällige Mobiliar stand in der Krypta: hier ein Bett oder vielmehr Schrägen aus altem Eichenholz, auf dem verschiedenes Bettzeug umherlag; dort ein Schemel mit gedrehten Füßen, ein mit eisernen Krammen an die Wand festgemachter Tisch. Auf dem Tische stand verschiedenerlei Gerät herum, ein großer Wasserkrug, ein Teller mit kaltem Wildpret, ein großes Stück Brot, das wie Schiffszwieback aussah. In einem Winkel spielte eine Fontäne, die von einem schmalen Wässerchen gespeist wurde, dessen Ueberschuß durch eine am Fuß eines der Pfeiler angebrachte Rinne seinen Abfluß erhielt.

Deuteten nicht diese Vorkehrungen darauf, daß in dieser Krypta entweder ein Gast – oder vielmehr ein Gefangener – erwartet wurde? war dieser Gefangene etwa Franz? und war er durch List hierher gelockt worden?

Franz schöpfte in dem Gedankenwirrsal, in welchem er lebte, gar nicht einmal solchen Argwohn. Von Mangel und Anstrengung erschöpft, verschlang er die auf dem Tisch stehende Speise und löschte seinen Durst aus dem Kruge. Dann ließ er sich quer über das große Bett fallen, auf dem ihm ein paar Minuten Ruhe seine Kräfte zum Teil wiedergeben konnten.

Aber als er seine Gedanken sammeln wollte, schien es ihm, als zerrannen sie wie Wasser, das er in der Hand halten wollte.

Sollte er also bis zum Anbruch des Tages warten, um seine Nachforschungen wieder aufzunehmen? Sollte seine Willenskraft derart gelähmt sein, daß er nicht mehr Herr seines Willens war?

»Nein!« sprach er bei sich, »ich will nicht warten – hin zum Turm! – ich muß noch in dieser Nacht auf den Turm!«

Plötzlich verlöschte die künstliche Helle, die von der im Gewölbe-Schlußstein eingelassenen Hängelampe ausgestrahlt war, und die Krypta war in völlige Finsternis getaucht. Franz wollte sich aufrichten. Es gelang ihm nicht. Seine Gedanken entschlummerten oder, richtiger gesagt, das Uhrwerk seines Gehirns stand plötzlich still. Es war eine merkwürdige Schlaf- oder vielmehr Starrsucht, eine gänzliche Vernichtung des Seins, die ihren Ursprung nicht in der Einlullung der geistigen Fähigkeiten hatte.

Wie lange dieser Schlaf gedauert hatte, konnte Franz beim Erwachen nicht feststellen. Seine Uhr war stehen geblieben. Aber die Krypta war neuerdings von künstlichem Licht überflutet.

Franz sprang vom Bett auf und tat ein paar Schritte nach der Richtung der ersten Türe. Sie stand nach wie vor offen. Er tat ein paar Schritte nach der zweiten Türe. Sie war nach wie vor geschlossen.

Er wollte überlegen. Aber das ging nicht ohne Mühe. Während sein Leib von den Anstrengungen des verflossenen Tages noch immer wie gerädert war, fühlte er, daß ihm der Kopf hohl und schwer zugleich war.

»Wie lange habe ich geschlafen?« fragte er sich – »ist es Nacht oder Tag?«

Im Innern der Krypta war keine Veränderung vor sich gegangen, außer daß das Licht wieder brannte und Speise und Trank erneuert worden waren.

War also, während Franz in diesem todesgleichen Schlafe lag, jemand in der Krypta gewesen? war es bekannt, daß er in die Tiefen der Burg gedrungen war? – und wenn er sich in der Gewalt Rudolfs von Görz befand, war er dann verurteilt zu allem Verzicht auf den Umgang mit seinesgleichen?

Das ließ sich nicht annehmen, – und dann stände es ihm doch frei zu fliehen, denn den Gang, auf dem er zum Ausfalltore gelangen könnte, würde er doch unbedingt wiederfinden und mithin auch den Weg aus dem Schlosse ins Freie.

Hinaus ins Freie? – Jetzt erst besann er sich, daß sich das Ausfalltor hinter ihm wieder geschlossen hatte.

Nun! dann würde er suchen die Wallmauer wieder zu finden und aus einer der Schießscharten den Weg ins Freie zu finden – aus der Burg mußte er wieder, und zwar binnen jetzt und einer Stunde längstens.

Aber die Stilla? sollte er darauf verzichten, bis zu ihr zu gelangen? – sollte er vom Schlosse weg, ohne sie Rudolf von Görz entrissen zu haben?

Ja! und was er allein nicht hatte vollbringen können, das würde er vollbringen mit Hilfe der Karlsburger Polizei, die Rotzko von Karlsburg nach Werft führen sollte – und sobald dieser Entschluß gefaßt war, galt es, ihn unverzüglich in Ausführung zu setzen.

Franz stand auf und begab sich zu dem Gange hin, auf dem er gekommen war, als sich hinter dem zweiten Portal der Krypta etwas wie Rutschen oder Gleiten oder Huschen wahrnehmen ließ.

Sicherlich ein Geräusch in langsamer Annäherung begriffener Schritte.

Franz lehnte das Ohr gegen die Türverkleidung, hielt den Atem an und lauschte.

Die Schritte schienen in regelmäßigen Pausen zu geschehen, ganz so, als ob jemand von einer Stufe auf die andere stiege. Kein Zweifel also, daß eine zweite Treppe vorhanden war, die die Krypta mit den Gängen im Innern in Verbindung setzte.

Um für jedes Ereignis gerüstet zu sein, zog Franz aus seinem Gurt das Messer und nahm es fest in die Hand. Sollte es etwa ein Diener des Barons sein, so wollte er sich auf ihn stürzen, wollte ihm die Schlüssel entreißen, wollte ihn außer stand setzen ihn zu verfolgen – dann wollte er zusehen, auf diesem neuen Ausgange den Weg zum Lugturm zu gewinnen – sollte es hingegen Rudolf von Görz selbst sein, und er den Mann in ihm genau erkennen, den er in dem Augenblicke gesehen hatte, als die Stilla auf der Bühne des San Carlo-Theaters zusammenbrach, – dann wollte er ihn ohne Gnade und Barmherzigkeit niederstechen.

Unterdes waren die Schritte bis zur äußern Portalschwelle gelangt. Franz wartete, ohne ein Glied zu rühren, daß das Portal sich öffnen solle. Es geschah nicht, aber eine Stimme von unsäglicher Milde und Süße drang zu seinen Ohren.

Die Stimme der Stilla – ja! – wenn auch abgeschwächt, so doch mit all ihrer lieblichen Modulationskraft, ihrem unaussprechlichen Reiz, das wunderbare Werkzeug jener herrlichen Kunst, das mit der Künstlerin gestorben zu sein schien.

Die Diva sang wieder die klagende Melodie, die Franz in Traum gewiegt hatte, als er in der großen Werster Gaststube saß und schlummerte:

Nel giardino de mille fiori,
Andiamo, mio cuore ...

Dieses Lied drang Franz bis in die tiefste Tiefe seiner Seele – er sog es in sich ein, er schlürfte es wie einen göttlichen Saft, während die Stilla ihn zum Kommen, zum Mitgehen aufzufordern schien:

Andiamo, mio cuore ... andiamo ...

Und doch öffnete sich das Portal nicht, ihm den Durchgang zu gestatten – er könnte also nicht bis zur Stilla hin gelangen, könnte sie nicht in die Arme schließen, könnte sie nicht aus der Burg reißen?

»Stilla! meine Stilla!« schrie er – und warf sich gegen die Tür, die all seinen Anstrengungen widerstand.

Schon schien der Gesang schwächer zu werden, – die Stimme zu verlöschen – und die Schritte schienen sich zu entfernen.

Auf den Knieen suchte Franz die Dielen aufzureißen, mit den Fingerspitzen suchte er die Beschläge an den Portalen zu lösen, und immer, immer rief er die Stilla, deren Stimme fast nicht mehr zu hören war.

Da schoß ihm ein gräßlicher Gedanke wie ein Blitz in das Gehirn.

»Von Sinnen!« schrie er – »von Sinnen ist sie, denn sie hat mich nicht wiedererkannt – hat mir nicht Antwort gegeben! Seit fünf Jahren hier eingesperrt – in der Gewalt dieses Menschen – meine arme Stilla – den Verstand verloren! den Verstand verloren – arme, arme, arme Stilla!«

Dann fuhr er in die Höhe, mit stieren Blicken, wüsten Gebärden und einem Kopfe wie Feuer so heiß – –

»Auch ich – auch ich spüre, daß es geschehen ist um meinen Verstand! daß ich verrückt werde, verrückt – verrückt wie sie –«

Mit Sätzen wie ein Raubtier in seinem Käfig durchraste er das Gewölbe.

»Nein!« rief er – »nein! ich muß den Kopf beisammen halten – ich muß hinaus aus der Burg – und ich werde den Weg hinaus finden.«

Mit einem Satze war er beim ersten Portal – es hatte sich geräuschlos geschlossen, ohne daß Franz es bemerkte, während er der Stimme der Stilla lauschte.

Vorher Gefangener im Burginnern, war er jetzt gefangen in dem Grabgewölbe.


 << zurück weiter >>