Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Am andern Tage gegen neun Uhr vormittags rüsteten sich Nik Deck – der Waldhüter – und Doktor Patak zum Aufbruch. Der erstere gedachte den Vulkansattel auf dem kürzesten Wege zu der verdächtigen Burg zu ersteigen.

Daß nach dem Erscheinen von Rauch über dem Turme und nach dem Erklingen der seltsamen Stimme in der Schenkstube die ganze Bewohnerschaft von Werst rappelköpfisch geworden war, wird niemand verwundern. Ein paar Zigeuner sprachen schon davon, die Gegend zu verlassen. In allen Häusern wurde von nichts anderm, und nur ganz leise, gesprochen. Wer hätte wohl abstreiten wollen, daß der Teufel, der »Schort«, bei der an den jungen Waldhüter gerichteten Warnung seine Klaue im Spiel gehabt habe? waren doch in der Gastwirtschaft an fünfzehn erwachsene, durchweg glaubwürdige Personen anwesend gewesen, als die Stimme erklang, und alle fünfzehn hatten die Stimme gehört! Da ließ sich doch nicht sagen, sie seien alle zusammen das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen! die Sache stand vielmehr bombenfest: Nik Deck war ausdrücklich und namentlich gewarnt worden, sich in das Abenteuer einzulassen, denn es drohe ihm dabei Unglück. Und doch rüstete sich der junge Waldhüter zum Aufbruch, noch dazu, ohne daß ihn irgend etwas dazu zwang! denn wenn auch Schulze Koltz in gewissem Grade Interesse daran hatte, das über dem Schlosse lagernde Geheimnis aufzuklären, wenn auch der Dorfbewohnerschaft daran liegen mußte, in Erfahrung zu bringen, was dort vorginge, so hatte man doch alles mögliche versucht, Nik Deck von der Ausführung seines Entschlusses abzubringen. Miriota hatte sich die Augen ausgeweint, ihn bei sich festzuhalten. War es nicht schrecklich, daß Nik Deck kurz vor der Hochzeit sein Leben in solche Gefahr setzte und seiner Braut, die ihn auf den Knieen bat, der warnenden Stimme Gehör zu leihen, so gering achtete?

Aber nichts vermochte den Waldhüter zu beirren, weder die Bitten und Vorstellungen der Freunde, noch die Tränen der Braut. Das setzte jedoch niemand in Verwunderung, denn jeder kannte den zähen Sinn des jungen Mannes, für den es in keiner Lage, unter keinen Umständen ein Zurück von einem gefaßten Entschlusse, von einer verlautbarten Absicht gab.

Als die Stunde zum Aufbruch geschlagen hatte, schloß der Jüngling die Braut noch einmal ans Herz, während die arme Dirne, rumänischer Sitte gemäß, zum Zeichen des Glaubens an die Dreieinigkeit sich mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger bekreuzigte.

Und Doktor Patak? Nun, angestellt hatte er noch alles mögliche, sich von dieser Last freizumachen, aber geholfen hatte es ihm nicht – alles, was sich dagegen sagen ließ, hatte er gesagt, alle erdenklichen Vorstellungen hatte er gemacht, auch hinter jenes durch die Geisterstimme so deutlich gegebene Verbot des Schloßbesuchs hatte er sich verschanzt. Aber nichts, nichts hatte gefruchtet.

»Die Warnung hat ja bloß mir gegolten,« hatte sich Nik Deck beschränkt zu antworten.

»Und wenn dir Unglück zustößt, Waldhüter,« hatte hierauf Doktor Patak geantwortet – »würde ich dann ohne Schaden davonkommen?«

»Ob mit oder ohne Schaden, Ihr habt doch versprochen, mit aufs Schloß zu gehen, und da ich hinaufgehe, wird Euch nichts weiter übrig bleiben, als Euer Versprechen zu halten.«

Die Werster Bauern begriffen, daß er sich durch nichts an der Ausführung seines Vorhabens hindern lassen werde, und hatten ihm deshalb recht gegeben, daß er auch den Doktor zur Erfüllung seines Versprechens anhielt. Besser war es doch ohne Frage, wenn sich Nik Deck nicht allein in dieses Abenteuer begab. Auch der Doktor, in der richtigen Erkenntnis, daß es kein Zurück für ihn gab, wenn er sich nicht um Ruf und Ansehen und Stellung bringen wollte, fand sich schließlich darein, aber voll angsterfüllten Herzens und fest gewillt, das kleinste Weghindernis, das sich bieten sollte, als Anlaß und Mittel zur Umkehr zu benutzen.

Nik Deck und Doktor Patak brachen also auf, und Schulze Koltz, Magister Hermod, Schäfer Frik und Gastwirt Jonas gaben bis zur Wegbiegung das Geleit. Dort wurde Halt gemacht. Von dort aus richtete Schulze Koltz zum letzten Male sein Fernrohr, das nicht mehr von ihm wich, auf das alte Schloß. Ueber der Turmesse zeigte sich keine Spur von Rauch; an dem hellen klaren Horizont des schönen Frühlingsmorgens hätte man ihn ohne Anstrengung sehen müssen. War hieraus zu schließen, daß sich die natürlichen oder übernatürlichen Schloßgäste aus dem Staube gemacht hätten, weil sie gesehen, daß sich der Waldhüter nicht vor ihnen fürchtete und ihrer Drohungen lachte? manche meinten es und erblickten hierin einen weiteren Grund, die Sache bis zur völligen Lösung und Aufklärung weiter zu betreiben.

Man drückte einander die Hände. Dann nahm Nik Deck den Doktor unter den Arm und verschwand in dem Winkel, den der Bergsattel bildete.

Der junge Waldhüter trug seine Uniform: das galonnierte Käppi mit breitem Schilde, die durch den Leibgurt gehaltene Joppe, im Gurt den Hirschfänger in der Scheide, dazu die bauschige Hose, die mit eisernen Nägeln beschlagenen Schaftstiefel, um die Hüfte die Patrontasche und über der Schulter die Büchse. Er stand mit Recht im Ruf eines sehr geschickten Schützen, und da es nicht ausgeschlossen war, daß man statt Geistern Grenzmarodeuren oder auch einem knurrigen Bären in den Weg lief, war es nur klug und weise, sich mit den nötigen Verteidigungsmitteln auszurüsten.

Was den Doktor angeht, so hatte er gemeint, sich mit einem alten Steinschloßgewehr auszurüsten, das bei fünf Schüssen drei Versager zum wenigsten hatte. Auch ein Beil führte er bei sich, das ihm sein Kamerad für den nicht unwahrscheinlichen Fall mitgegeben hatte, daß man sich Bahn durch das dichte Gestrüpp des Plesa hauen müsse. Mit dem breiten Bauernhut auf dem Kopfe, den dichtbeschlagenen Stiefeln und dem fest zugeknöpften groben Flauskittel war der Doktor im Grunde genommen für den Versuch schneller Flucht zu schwer equipiert, ließ aber trotzdem die Hoffnung, daß sich Gelegenheit dazu bieten werde, nicht fallen.

Beide Männer hatten sich außerdem, um sich die Möglichkeit einer Ausdehnung des Ausflugs offenzuhalten, mit einigem Mundvorrat versehen, den sie in ihrem Quersack trugen.

Sobald sie nun die Wegbiegung herum waren, wanderten sie ein paar hundert Schritt am rechten Nyad-Ufer hinauf. Hätten sie den Schlangenweg durch die Schluchten des Gebirgsstocks gehen wollen, so würden sie zu weit in westlicher Richtung abgekommen sein. Von größerm Vorteil wäre es gewesen, wenn sie am Bett des Gießbachs, der in den Bodenfalten des Orgall-Plateaus entspringt, hätten weiter gehen können, denn dadurch hätten sie ein reichliches Drittel vom Wege abgeschnitten. Aber weiter hinauf war von einem gangbaren Weg oder Pfade an diesem Gießbachbett keine Rede mehr, selbst für gewandte Kletterer nicht; sie mußten deshalb links abbiegen, in der Hoffnung, die Richtung zum Schlosse hin wieder zu gewinnen, sobald die untere Zone der Wälder des Plesa hinter ihnen wäre.

Es war zudem die einzige Seite, auf der sich zur Burg hinauf gelangen ließ. Zur Zeit als es noch vom Grafen Rudolf bewohnt wurde, war zwischen dem Schlosse, den Dorfschaften Werst und Vulkan und dem Tale der walachischen Sil der Verkehr aufrecht erhalten worden durch eine schmale Schneise, die in dieser Richtung durch den Wald geschlagen worden. Aber seit zwanzig Jahren verwachsen und verwildert, wäre es vergebliche Mühe gewesen, noch eine Spur von dieser Schneise zu suchen.

Als sie das tief in dem Boden lagernde Bett des von tosendem Wasser angefüllten Gießbachs verlassen wollten, machte Nik Deck kurzen Halt, um sich zu orientieren. Das Schloß war schon nicht mehr sichtbar. Erst wenn man über den Wald hinaus war, welcher sich staffelweis über die unteren Bergeshänge zog, wie fast überall in den Karpathen, ließ sich damit rechnen, daß es wieder in Sicht treten werde. Da es an jeglichem Merkpunkte fehlte, stand zu erwarten, daß es nicht leicht sein werde, sich ein richtiges Bild von Lage und Richtung zu machen. Bloß auf die Sonne blieb man angewiesen, deren Strahlen schon nach Osten hin die fernen Grate streiften.

»Nun siehst du doch, Waldhüter,« sagte der Doktor – »nicht mal ein Weg oder vielmehr nicht mal ein Steg mehr ist da!«

»Es wird schon einen geben,« entgegnete Nik Deck.

»Das läßt sich leicht sagen, Nik –«

»– und leicht machen, Patak.«

»So? du bist nach wie vor entschlossen –?«

Der Waldhüter begnügte sich mit einem Nicken des Kopfes und drang durch die Bäume vor. Der Doktor bezeigte hingegen große Lust, umzukehren. Da traf ihn aber von seinem Kameraden ein so energischer Blick, daß dem Feigling der Mut verging, seine Absicht auszuführen.

Eine letzte Hoffnung blieb demselben noch: daß es nicht mehr lange dauern würde, bis sich sein Kamerad in diesem Urwald, wohin ihn sein Dienst noch nie geführt hätte, verirrte. Aber er übte, indem er sich mit solchem Gedanken trug, jenen erstaunlichen Spürsinn, die Witterung oder, wenn man so sagen darf, jenes »animale« Vermögen, sich nach den geringsten Anzeichen zu richten, die die Natur bietet, wie z. B. Stand der Zweige nach dieser oder jener Himmelsrichtung, Bodenabgleichung, Baumrindenfärbung, die unterschiedliche, durch den Einfluß von Süd- oder Nordwinden bedingte Schattierung der Moose usw. usw. Nik Deck war in seinem Berufe ein zu großer Praktikus, um sich irgendwo im Walde zu verirren, ganz gleich ob er sich auf bekanntem oder unbekanntem Terrain befand. Er war so ganz der Bursche danach, einem Lederstrumpf oder einem Chingachgook in den romantischen Jagdgründen Coopers den Rang streitig zu machen.

Und doch war es mit gar großen Schwierigkeiten verknüpft, sich durch dieses Waldgebiet einen Weg zu öffnen. Ulmen, Buchen, auch Ahornbäume von der unter dem Namen »falsche Platanen« bekannten Art, stattliche Eichen bildeten den Bestand der ersten Region. Dann kam die Region der Birken, Fichten und Tannen auf den oberen Sätteln der linken Bergseite. Ein Staat diese Bäume mit ihren mächtigen Stämmen, ihren vom Jungsaft strotzenden Aesten, ihrem dichten Laube, das zu einem Dache verwachsen war, durch das kein Sonnenstrahl dringen konnte! Dazu das Unterholz, die Farrn- und Nesseldickichte, die Wurzeln und Knorren! An schnelles Vordringen unter solchen Umständen war absolut nicht zu denken, wenn auch Nik Deck nicht der Mann war, der sich an ein paar Hautrisse oder Brandwunden kehrte. Aber daran konnte den beiden Männern nicht gelegen sein, daß sie erst in den Nachmittagsstunden zum Schlosse hinauf gelangten. Wenn irgend möglich, wollten sie doch noch am selben Tage wieder nach Werst hinunter.

Mit dem Beil in der Faust drang der Waldhüter mitten durch die dichten Dornhecken mit ihren Stachelbajonetten, auf einem Terrain vor, uneben, holperig, mit Wurzeln und Knorren durchwachsen, wo der Fuß keinen Halt fand, wo jeder Schritt vorwärts erkämpft werden mußte, wo man aller Augenblicke in Gruben und Löcher sank, die von nassem, keinem Winde zugänglichen Blätterlaub bis dicht an den Rand gefüllt waren. Myriaden von Samenkapseln zerplatzten wie Knallerbsen bei jedem Tritte der Männer, zum Entsetzen des Doktors, der jedesmal, wenn es zu prasseln anfing, Luftsprünge machte, entsetzt nach rechts und links guckte oder sich umdrehte, wenn ihm ein Nadelzweig ins Gesicht schlug oder ein Dorn sich an seiner Jacke festhing gleich einer Kralle, die ihn packen wollte. Nein! hier fand er keine Ruhe, hier war er seines Lebens nicht sicher, der arme Wicht – aber jetzt allein umzukehren, wäre ihm doch nie eingefallen, das hätte er sich nimmermehr getraut, im Gegenteil gab er sich jetzt alle Mühe, seinem Vordermann so dicht wie möglich auf den Fersen zu bleiben. Leicht war das für den kleinen, dicken Mann mit den kurzen Beinen und dem Spitzbauch ganz gewiß nicht, dem jungen, behenden, kräftigen Waldhüter gegenüber war er körperlich zu sehr im Nachteil; keuchend, pustend, ächzend, stöhnend drang er ihm hinterher in dies Wirrsal von Hochwald und Unterholz, oft außer stande, das Gleichgewicht zu bewahren, und auf die Hilfe des Kameraden angewiesen, um wieder auf die Beine zu kommen.

»Du erlebst es noch, Nik, daß ich mir Hals und Beine breche,« jammerte er in einem fort.

»Dafür seid Ihr ja Doktor!« versetzte dann Nik.

»Waldhüter, sei vernünftig! laß mit dir reden! gegen den Strom läßt sich doch nicht schwimmen.«

Paperlapapp! Nik Deck war schon weit vorauf, und der Doktor mußte alle Kräfte zusammennehmen, ihn einzuholen. Mit solchem Waldmenschen war nun einmal nichts anzufangen. Aber war denn auch die Richtung, in der sie vordrangen, richtig? gelangten sie zur Burg hinauf auf diesem Sattel? Sich hierüber Gewißheit zu schaffen wäre nicht leicht gewesen. Aber das Terrain stieg doch immer aufwärts und mußte demnach doch auch zur Waldgrenze führen. Diese von Nik Deck festgehaltene Ansicht bestätigte sich. In der dritten Nachmittagsstunde hatten sie den Wald hinter sich.

Von da ab wurde der Baumbestand dünner, und je näher die beiden Männer der Hochfläche kamen, desto größer wurden die Lichtungen und Schneisen. Hier kam auch der Gießbach wieder in Sicht zwischen Felsblöcken und Felsmauern. Entweder nahm also der Bach eine mehr nordwestliche Richtung, oder Nik Deck hatte ihn in schrägem Aufstieg »genommen« – ein Beweis für den jungen Waldhüter, daß er den rechten Weg eingeschlagen haben mußte, weil ja der Gießbach allem Anschein nach in den Bodenfalten des Orgall-Plateaus entsprang.

Eine Raststunde am Ufer des Bachs konnte der Waldhüter dem Doktor nicht abschlagen. Zudem forderte der Magen sein Recht nicht minder gebieterisch als die Beine. Die Rucksäcke waren ja gut gespickt und die beiden Kürbisflaschen bis zum Rande gefüllt mit kräftigendem Rakju. Wenige Schritte entfernt floß, über Kieselgrund gereinigt, frisches helles Wasser. Was konnte man weiter wünschen? Ausgepumpt hatte man genug, nun hieß es auch wieder mal einpumpen!

Seit dem Aufbruch hatte sich dem Doktor kein einziges mal Gelegenheit und Muße geboten, mit dem Waldhüter, der immer vorauf war, ein paar Worte zu wechseln. Jetzt aber, sobald sie am Bachrande saßen, hielt er sich schadlos für diese Entbehrung. War der Waldhüter, kerndeutsch gesagt, maulfaul, so war der Doktor Zungendrescher – hiernach darf sich niemand wundern, daß des Fragens kein Ende, des Antwortens kein Rat war.

»Reden wir eine Weile, Waldhüter,« hub der Doktor an – »aber im Ernst!«

»Ich höre zu,« antwortete Nik Deck.

»Ich denke, wenn wir hier Rast gemacht haben, ist's zu dem Zwecke geschehen, Kräfte zu sammeln?«

»Ihr trefft den Nagel auf den Kopf, Doktor.«

»Für den Rückmarsch nach Werst –«

»Nein, für den Marsch zur Burg hinauf.«

»Aber, Nik, nimm doch bloß Verstand an! sechs Stunden sind wir nun unterwegs und haben kaum die Hälfte der Strecke geschafft.«

»Ein Beweis dafür, daß wir keine Zeit verlieren dürfen.«

»Aber es wird ja Nacht, ehe wir zum Schlosse hinaufkommen; und daß du die Verrücktheit soweit treiben kannst, Waldhüter, ohne Tageslicht dich ins Schloß zu wagen, kann ich mir doch nicht denken. Wir werden also warten müssen, bis es Tag ist.«

»Dann warten wir eben.«

»Du willst also ein Vorhaben, das gar keinen Sinn hat, absolut nicht fallen lassen?«

»Nein.«

»Aber, um Jesu Christi willen! wir sind wie ausgemergelt, uns fehlt ein guter Tisch in einer guten Stube, ein gutes Bett in einer guten Kammer – und du willst dir einfallen lassen, die ganze Nacht im Freien zuzubringen?«

»Freilich, wenn uns was hindert, die Schloßmauer zu passieren –«

»Und wenn uns nichts hindert –?«

»Dann schlafen wir in den Turmgemächern.«

»In den Turmgemächern!« schrie Doktor Patak – »du bildest dir ein, Waldhüter, daß ich mich dazu verstehe, eine ganze Nacht im Innern dieser verfluchten Burg zu bleiben?«

»Ohne Zweifel, Ihr müßtet denn lieber allein im Freien nächtigen wollen.«

»Allein, Waldhüter? Das geht wider die Abmachung, und wenn wir uns trennen müssen, dann ist es mir lieber, wir trennen uns hier, denn von hier aus habe ich es doch näher zum Dorfe.«

»Die Abmachung, Doktor Patak, lautet, daß Ihr mir, soweit wie ich gehe, folgen müßt –«

»Bei Tage, ja! aber nicht bei Nacht!«

»Nun, es steht Euch ja frei, aufzubrechen. Bloß seht zu, daß Ihr Euch nicht verlauft.«

Das war es, was dem Doktor Angst machte: sich verlaufen! wie konnte er daran denken, auf sich selbst angewiesen, nicht heimisch in diesen Wäldern, ohne Kunde von diesen kreuz und quer laufenden Dickichten, den Weg nach Werst zurückzufinden? Und wenn ihn die Nacht überfiel? jedenfalls obendrein noch stockfinstre Nacht? die Aussicht, bei dem Abstieg der Sattel-Schroffen abzustürzen, war auch nicht verlockend; und da nach Sonnenuntergang nicht die Rede davon sein sollte, die Schloßmauer zu ersteigen, war es schließlich doch gescheiter, dem Waldhüter, wenn er davon nicht abgehen wollte, bis an den Fuß der Umwallung zu folgen. Indessen einen letzten Versuch, den Kameraden umzustimmen, wollte der Doktor doch noch wagen.

»Du weißt recht gut, Nikchen,« hub er an, »daß es mir nie einfallen wird, mich von dir zu trennen – und da du nun einmal drauf bestehst, nach dem Schloß hinaufzuklettern, werde ich dich nicht allein klettern lassen –«

»Gut gesprochen, Doktor! bloß meine ich, Ihr solltet auch daran festhalten.«

»Nein – noch ein Wort, Nikchen! kommen wir erst bei Nacht hinauf, versprichst du mir, daß keine Rede davon sein soll, noch den Fuß ins Schloß hineinzusetzen?«

»Was ich verspreche, Doktor, ist, daß ich nichts unversucht lassen will, hinein zu gelangen, daß ich keinen Fuß breit zurückweiche, bis ich nicht entdeckt habe, was oben vorgeht.«

»Was oben vorgeht, Waldhüter?« rief achselzuckend der Doktor; »aber was soll denn oben vorgehen?«

»Das weiß ich nicht, werde es aber erfahren, da ich es mir vorgenommen habe.«

»Dazu muß man doch erst drin sein in diesem Teufelsschlosse!« erwiderte der Doktor, der sich am Ende seiner Gründe sah – »wenn ich nun aber nach den Schwierigkeiten schließen soll, die wir bis jetzt gehabt haben, und nach der Zeit, die bis jetzt draufgegangen ist, um bloß erst durch die Plesa-Wälder zu dringen, so wird wohl der Tag draufgehen, bis wir in Sicht des Schlosses –«

»Das glaube ich nicht,« entgegnete Nik, »denn auf der Höhe haben wir kein so undurchdringliches Dickicht mehr!«

»Aber schwer zu steigendes Terrain.«

»Das macht nichts, wenn es bloß passierbar bleibt.«

»Aber in der Umgegend des Orgall-Plateaus sollen, wie ich mir habe sagen lassen, Bären hausen.«

»Ich habe ja meine Büchse und Ihr Euer Steinschloßgewehr zur Wehr, Doktor.«

»Bei Einbruch der Nacht laufen wir aber Gefahr, uns in der Finsternis zu verirren.«

»Nein, denn wir haben jetzt einen Führer, der uns hoffentlich nicht im Stiche lassen wird.«

»Einen Führer?« schrie der Doktor, und fuhr in die Höhe, um einen ängstlichen Blick um sich zu werfen.

»Gewiß,« versetzte Nik, »den Gießbach! wir brauchen uns bloß an seinem rechten Ufer zu halten, um bis zu dem Plateau hinaufzugelangen, wo er entspringt. In zwei Stunden, wenn wir uns unterwegs nicht aufhalten, sind wir, denke ich, oben.«

»In zwei Stunden, aus denen schließlich sechs werden –«

»Seid Ihr fertig?«

»Soll es denn schon wieder weiter gehen, Nik? wir haben doch kaum ein paar Minuten gerastet –«

»Ein paar Minuten, die eine reichliche Stunde ausmachen – zum letzten Male, seid Ihr so weit?«

»So weit? wenn einem die Beine wie Blei am Leibe hängen? – Nikchen, du weißt doch, daß ich keine Waldhüterwaden habe! mir sind die Füße geschwollen – es ist grausam von dir, mich zwingen zu wollen, mitzulaufen, wenn ich nicht laufen kann –«

»Nun hört aber auf, Patak! das wird ja langweilig – meinetwegen lauft mit oder bleibt – glückliche Reise!«

Ohne sich länger aufzuhalten, machte er Kehrt.

»Um Jesu Christi willen, Waldhüter!« schrie der Doktor; »noch ein Wort, noch ein Wort!«

»Noch mehr Dummheiten anhören?«

»Aber, Nickchen! es ist doch schon spät – warum wollen wir denn nicht hier bleiben? warum uns nicht unter dem Schutz dieser Bäume lagern? warum nicht lieber mit Sonnenaufgang aufbrechen und weiter marschieren? Dann kämen wir doch früh am Morgen hinauf –«

»Ich sage Euch ja, Doktor, ich will die Nacht im Schlosse verbringen,« entgegnete Nik.

»Nein, nein!« schrie der Doktor, »das wirst du nicht, Nik! das werde ich zu hintertreiben wissen –«

»Ihr – Doktor?«

»Jawohl, ich, Patak! an deine Jacke will ich mich klammern; ziehen, reißen will ich dich, prügeln, wenn es nicht anders geht –«

Der arme Kerl! er wußte nicht mehr, was er sagte. Nik Deck würdigte ihn gar keiner Antwort mehr, hing die Büchse über die Schultern und machte ein paar Schritte zum Gießbachufer hin.

»Warte, warte!« schrie kläglich der Doktor – »solch ein Satanskerl! bloß noch einen Augenblick! mir sind ja die Beine ganz steif, kein Gelenk bewegt sich mehr –«

Aber sie kamen bald wieder in Gang, denn es blieb dem einstigen Krankenpfleger nichts weiter übrig als seine kleinen Beine in Gang zu setzen und dem Waldhüter nachzulaufen, der schon ein tüchtiges Stück vorauf war und sich gar nicht einfallen ließ, umzudrehen.

Es war vier Uhr. Die Sonnenstrahlen streiften den First des Plesa, hinter dessen gewaltiger Felsmasse sie bald verschwinden mußten, und beschienen bloß noch schräge die obern Zweige der hohen Bäume. Nik Deck hatte alle Ursache zur Eile, denn in solchem Unterholz wird es im Handumdrehen stockfinster, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist.

Der Weg war steil und mühsam. Das scharfe Gestein, das den Boden durchsetzte, machte die Füße wund. Ueber hohe, den Aufstieg sperrende Blöcke mußte geklettert werden, und dazu fehlte es dem Doktor an der notwendigen Schenkelkraft, Behendigkeit und Sicherheit in der Beherrschung der Glieder. Was der Waldhüter allein in einer Stunde bezwungen hätte, dazu waren zufolge der Unbeholfenheit seines »Anhängsels« ihrer drei nötig, denn aller Augenblicke mußte er warten, bis ihn der Doktor eingeholt hatte, oder helfen, wenn er über einen zu hohen Block mit seinen kurzen Beinen nicht hinüber konnte. Bloß eine Furcht beherrschte den Doktor, eine schreckliche Furcht: daß er am Ende gar mitten in dieser unheimlichen Einsamkeit allein zurückbleiben müsse.

Indessen winkte ihnen, sobald sie auf den Sattel des Plesa gelangten, mancherlei Erleichterung; die Bäume standen nicht mehr in geschlossenen Gliedern, sondern nur noch in vereinzelten Gruppen; auch ihr Umfang und ihre Höhe wurden geringer. Zwischen den Baumgruppen kamen die Gebirge in Sicht, die sich in scharfen Linien am Horizonte zeichneten und aus dem Abendnebel aufragten. Der Gießbach, von dessen Ufer der Waldhüter nicht gewichen war, war zum schmalen Rinnsal zusammengeschrumpft: ein Zeichen, daß seine Quelle nicht mehr weit sein konnte. Wenige hundert Fuß über den letzten Terrainfalten rundete sich das gekrönte Plateau des Orgall.

Endlich, nach einem letzten Anlauf, der dem Doktor den letzten Rest seiner Kräfte nahm, war das Plateau genommen. Nik Deck spürte die Anstrengung kaum. Aufrecht, ohne ein Glied zu rühren, verschlang er dieses Karpathenschloß, in dessen Nähe er noch nie geweilt hatte, mit den Blicken. Eine krenelierte Mauer, durch einen tiefen Graben geschützt, über den eine Zugbrücke führte, die aber aufgezogen und gegen ein Ausfalltor gelehnt war, dehnte sich vor ihm in der Runde. Rings um diese Mauer, auf der gesamten Fläche des Orgall-Plateaus, war alles still und einsam, verlassen und öde.

Ein Rest von Tageslicht gewährte die Möglichkeit, das Gesamtbild der Burg zu erfassen, die sich im abendlichen Dämmerschein in wirren Umrissen zeigte. Ueber der Brüstung war niemand zu sehen, auch auf der obern Plattform des Lugturms nicht, auch auf der rings um das erste Stockwerk laufenden Terrasse nicht. Um die wunderliche, von Jahrhunderte altem Rost zerfressene Wetterfahne ringelte sich kein Rauchfaden.

»Nun, Waldhüter,« fragte Doktor Patak, »wirst du nun gelten lassen, daß es unmöglich ist, über diesen Graben zu kommen und dieses Ausfalltor zu öffnen?«

Nik Deck gab keine Antwort. Er machte sich klar, daß es sich nicht umgehen lasse, vor den Schloßmauern zu rasten. Wie hätte man auch bei solcher Finsternis in den tiefen Graben steigen und an der steilen Wand auf der andern Seite hinauf klimmen sollen, um auf solchem Wege ins Innere zu dringen? Entschieden war es am gescheitesten, bis zur Frühdämmerung, die ja nicht mehr fern war, zu warten und bei Tagesanbruch das Weitere zu unternehmen.

Zum großen Verdruß des Waldhüters, aber zur höchsten Befriedigung des Doktors ließ sich kein anderer Entschluß fassen.


 << zurück weiter >>