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Siebentes Kapitel.

Wie soll man die Angst beschreiben, die in dem Dorfe Werst herrschte seit dem Aufbruch des jungen Waldhüters und des Doktors? je mehr der schier endlosen Stunden verrannen, ohne daß sie zurückkehrten, desto größer und schmerzvoller wurde die Angst.

Schulze Koltz, Gastwirt Jonas, Magister Hermod und ein paar Bauern wichen nicht mehr von dem Straßen-Ueberbau, der ihnen den Fernblick zum Schlosse eröffnete. Jeder wollte die Steinmasse beobachten, jeder wollte feststellen, ob sich über dem Turm wieder Rauch zeigte oder nicht.

Es wurde kein Rauch wieder wahrgenommen: das litt keinen Zweifel, denn das Fernrohr stand unabänderlich auf die Turmesse gerichtet. Wahrlich! die zwei Gulden, die Frik für das Fernrohr bezahlt hatte, hatten sich gut bezahlt gemacht. Noch niemals war es dem Schulzen, der doch wie alle Bauern nicht gern Geld ausgab und lieber die Hand fest auf den Beutel drückte, um eine Zufallsausgabe so wenig leid gewesen wie um das Geld für das Fernrohr.

Als der Schäfer um halb eins von der Weide zurückkam, wurde er mit Fragen bestürmt, ob es was Neues, was Außergewöhnliches, was Uebernatürliches gebe?

Frik konnte weiter nichts sagen, als daß er, ohne irgend etwas Verdächtiges gesehen zu haben, gerade aus dem Tale der walachischen Sil heraufkäme.

Nach dem Essen, gegen zwei Uhr, bezog jeder wieder seinen Beobachtungsposten. Es wäre niemand eingefallen, zu Hause zu bleiben, am wenigsten aber, einen Fuß wieder in den »König Mathias« zu setzen, wo sich gespenstische Warnrufe vernehmen ließen. Daß Wände Ohren hatten, mochte hingehen, da sich solch Sprichwort nun einmal im Volksmunde festgenistet hat – aber daß Wände einen Mund haben sollten, prrrr! das ging über die Hutschnur.

Es war zufolgedessen nicht gerade erstaunlich, daß den braven Gastwirt die Furcht beschlich, sein Gasthaus möchte in Quarantäne getan werden, und daß aus seinem Herzen alle Ruhe wich. Womöglich sähe er sich noch in die Notwendigkeit versetzt, die Bude zuzumachen, sein Bier und seinen Schnaps allein zu trinken, weil die Kundschaft ausbliebe? und doch hatte er, um die Werster Bauern zu beruhigen, den »König Mathias« von oben bis unten einer gründlichen Untersuchung unterzogen, hatte alle Stuben durchsucht, alle Kisten und Truhen umgewendet, alle Ecken und Winkel seiner Gaststube – vom Keller bis zum Bodenraum, – abgesucht, kurz alles, alles gründlich visitiert, wo sich ein Bösewicht, um solchen schlechten Witz zu machen, hätte verstecken können. Aber nichts, nichts hatte er ausfindig machen können, auch auf der Giebelseite, die auf den Gießbach hinausblickte, war alles Suchen resultatlos geblieben. Daß jemand hätte einsteigen können, dazu waren die Fenster zu hoch, ganz abgesehen davon, daß man, um zur Hauswand zu gelangen, erst über den Bach hätte gelangen müssen. Was konnte das aber alles helfen? Furcht hat lange Beine, und ehe sich die alten Gäste bei Jonas wieder einfanden, ehe das Vertrauen zu seinem Gasthause, zu seiner Gaststube, zu seinem Rakju und Rosoglio bei den Leuten wieder einkehrte, konnte geraume Zeit verstreichen.

Geraume Zeit? – Irrtum! man wird es schnell erleben, daß sich diese betrübsame Aussicht nicht bestätigen sollte.

Nur wenige Tage verstrichen, so ereignete sich nämlich ein Vorfall, den niemand vermutet, erwartet oder gar vorausgesehen hätte und der die Dorf-Honoratioren nötigen sollte, ihre täglichen Zusammenkünfte, bei denen ein guter und kräftiger Schluck nie fehlen durfte, im »König Mathias« wieder aufzunehmen.

Aber um dies dem Leser verständlich zu machen, ist es notwendig, daß wir uns wieder nach dem jungen Waldhüter und seinem Kameraden, dem Doktor Patak, umsehen.

Nik Deck hatte, wie man sich besinnen wird, beim Abschiede der untröstlichen Miriota gelobt, sich mit seinem Ausfluge nach dem Karpathenschlosse zu tummeln, und wenn ihm kein Unglück zustieße, wenn sich die gegen ihn gerichteten Warnungen nicht verwirklichten, so rechnete er in den ersten Abendstunden zurück zu sein. Das ganze Dorf wartete also, und mit welcher Ungeduld! mit um so stärkerer Ungeduld, als doch niemand, weder die junge Dirne noch ihr Vater noch der Schulmeister voraussehen konnten, mit welchen Schwierigkeiten die Männer zu kämpfen haben würden, um vor Einbruch der Nacht bloß bis auf den Kamm des Orgall zu gelangen.

Hieraus erklärt sich, daß die schon tagsüber lebhafte Ungeduld alles Maß überschritt, als von Vulkan herüber, dessen Kirchuhr man in Werst ganz deutlich schlagen hörte, die achte Stunde klang. Was war bloß vorgefallen, daß Nik und der Doktor noch nicht wieder da waren? sie waren ja doch den ganzen Tag schon unterwegs! Sich früher, als sie wieder zurück wären, wieder nach Hause zu begeben, wäre keinem einzigen aus dem Dorfe in den Sinn gekommen. Aller Augenblicke meinte man, sie um die Ecke biegen zu sehen, die die Dorfstraße kurz vor dem ersten Hause machte.

Schulze Koltz war mit seiner Tochter bis an die Ecke gegangen, wo man den Schäfer als Posten aufgestellt hatte. Zuweilen meinten sie, Schatten in der Ferne, zwischen den Bäumen auftauchen zu sehen – bloße Einbildung! der Bergsattel war menschenleer wie sonst, denn nächtlicher Weile wagten sich nur selten Leute über die Grenze. Außerdem war es ja Dienstag abend – der »schlimme Abend«, an welchem Hexen und Kobolde, Strygen und Lamien ihr menschenfeindliches Wesen trieben – da ging, wenn es nicht unbedingt sein mußte, kein Siebenbürger aus dem Hause, geschweige denn über Land. Nik Deck mußte wirklich nicht recht im Kopfe gewesen sein, sich gerade solchen Tag zu dem Ausfluge auf die Burg hinauf auszusuchen. Im Grunde genommen traf hierbei ihn der gleiche Vorwurf wie jeden andern im Dorfe: an den Dienstag und seinen schlimmen Abend hatte eben in der Aufregung niemand gedacht.

Aber der untröstlichen Miriota kamen jetzt all diese Gedanken, und keinen wurde sie wieder los. Ach, welch furchtbare Bilder traten ihr vor die Augen! Im Geiste war sie ihrem Bräutigam von Stunde zu Stunde gefolgt, im Geiste war sie mit ihm durch den Urwald des Plesa geklettert, bis zum Orgall-Plateau hinauf – und jetzt, als es Nacht wurde, vermeinte sie ihn innerhalb der Wallmauer zu sehen, im Kampf mit den Gespenstern und Geistern, die im Karpathenschlosse hausten – als Spielball ihrer Ränke und Streiche – als Opfer ihrer Rache – eingesperrt in tiefem Verlies – vielleicht schon tot oder von Sinnen – –

Armes Dirndl! was hättest du darum gegeben, deinem Nik nachrennen zu können? Ach, das war nicht möglich! unter keinen Umständen möglich! Aber die ganze Nacht wollte sie wenigstens draußen auf der Straße seiner warten – und das litt wieder der Vater nicht, denn der Schäfer blieb draußen auf Posten, und das war ausreichend, – drum mußte sie mit dem Vater ins Haus hinein und in ihr Kämmerchen hinauf.

Als sie dort war, allein mit sich und ihren Gedanken, da flossen die Tränen, ohne Maß und ohne Ende – ach, sie liebte ihn doch so innig, so heiß, ihren braven lieben Nik, und mit um so dankbarerem Herzen, als Nik so ganz anders sie kennen gelernt und um sie geworben hatte, wie es sonst im Siebenbürgerlande Brauch und Sitte ist.

Alljährlich, am Tage von Peter und Paul, wird dort unten in den Karpathen die »Brautmesse« gehalten. Da kommen sämtliche junge Dirnen komitatweis zusammen. In ihren schönsten Karriolen, die mit den besten ihrer Pferde bespannt sind, kommen sie angefahren und bringen ihre Mitgift, selbstgesponnene, selbstgenähte, selbstgestickte Kleider, in buntfarbige Truhen verpackt, mit; die nächsten Anverwandten, Eltern und Geschwister, Vettern und Muhmen, auch Freundinnen und Nachbarinnen kommen mit ihnen mit. Dann kommen, aufs schönste herausgeputzt, im Sonntagsstaat und mit seidenem Gurt um den Leib, die jungen Männer, stolzieren auf der Messe umher, suchen sich die Maid aus, die ihnen gefällt, schieben ihr zum Zeichen des Verlöbnisses einen Ring über den Finger und drücken ihr ein Taschentuch in die Hand. Auf der Heimkehr von der »Brautmesse« wird dann die Hochzeit gefeiert.

Aber Miriota und Nik Deck hatten einander nicht auf solcher »Messe« gefunden. Ihr Verlöbnis war keine Zufallssache gewesen. Sie kannten einander von Kindesbeinen an und waren einander gut, seitdem sie in das Alter, in welchem sich die Geschlechtsliebe einstellt, getreten waren. Und doch, trotzdem sie einander so gut waren, hatte Miriota den Bräutigam nicht abhalten können, den verhängnisvollen Gang zum Karpathenschlosse hinauf zu unternehmen. Ach, welch eine schreckliche Nacht mußte die arme Miriota haben! sie konnte nicht Ruhe im Bett finden, sondern setzte sich ans Fenster und starrte auf die Straße hinaus bis in den hellen Morgen hinein – immer war es ihr, als hörte sie eine Stimme flüstern:

»Nikolaus Deck hat auf die Warnungen nicht gehört, nun hat Miriota keinen Bräutigam mehr!«

Es war nur Sinnestäuschung. Durch die Stille der Nacht drang keine Stimme. Der unerklärliche Vorgang in der großen Gaststube des »Königs Mathias« wiederholte sich im Schulzenhofe nicht.

Am andern Morgen in aller Frühe war die ganze Werster Bauernschaft auf den Beinen. Von dem Straßen-Ueberbau bis zu der Straßenbiegung am Bergfuße wogten die Leute hin und her, nach Neuigkeiten fragend und Neuigkeiten meldend. Es hieß, der Schäfer sei über eine Meile vom Dorfe aus nach dem Plesa-Walde unterwegs, ginge freilich nicht durch den Wald, sondern bloß am Saume hin, täte das aber ganz sicher nicht ohne Ursache. Man müßte abwarten, aber um schneller von ihm Kunde zu haben, sei der Schulze mit seiner Tochter und mit dem Gastwirte vor das Dorf hinausgegangen.

Nach einer halben Stunde sah man den Schäfer ein paar hundert Schritte weit die Straße heraufkommen, langsamen Schrittes, ein Umstand, der als schlimmes Anzeichen gelten durfte.

»Nun, Frik, was gesehen? was gehört?« rief ihm der Schulze schon von weitem entgegen.

»Nein; nichts gehört, und nichts gesehen,« erwiderte Frik.

»Nichts! nichts!« flüsterte das Mädchen mit Tränen in den Augen.

»Bei Tagesanbruch kamen eine Meile von hier zwei Männer in Sicht,« erzählte der Schäfer; »erst glaubte ich, es seien Waldhüter und Doktor – aber es war nicht an dem.«

»Weißt du, was das für Männer waren?« fragte Jonas.

»Zwei Fremde, die über die walachische Grenze wollten,« erwiderte Frik.

»Hast du mit ihnen gesprochen?«

»Ja.«

»Kommen sie zum Dorfe her?«

»Nein, sie wollen auf den Retjesat hinauf.«

»Also Touristen?« fragte Vater Koltz.

»So sehen sie aus, Schulze.«

»Und vom Schlosse herüber haben sie nichts bemerkt in der Nacht auf ihrem Marsche über den Vulkansattel?«

»Nein – weil sie noch auf der andern Grenzseite drüben waren,« versetzte Frik.

»Also gar keine Kunde von Nik?«

»Gar keine.«

»Ach Gott! mein Gott!« seufzte die arme Dirne.

»In ein paar Tagen werdet Ihr die beiden Leute ja selber ausfragen können,« bemerkte Frik noch, »denn sie beabsichtigen, ehe sie nach Klausenburg weiter wandern, in Werst Rast zu machen.«

»Wenn ihnen nicht Uebles von meinem Gasthofe berichtet wird,« dachte Jonas untröstlich; »sonst lassen sie es sich schwerlich einfallen, bei mir zu logieren.« Seit 36 Stunden plagte den wackern Wirt die Furcht, daß kein Reisender mehr im »König Mathias« einkehren und was verzehren werde.

Durch diese Fragen und Antworten zwischen Schulze und Schäfer war kein Licht in die Situation gebracht worden. Stand noch zu hoffen, daß die beiden Männer, die nun um acht Uhr früh des andern Tages noch nicht wieder zurück waren, überhaupt wiederkehren würden? – hieß es nicht schon seit langer, langer Zeit, daß niemand sich ungestraft dem Karpathenschlosse nähern dürfe? Nichtsdestoweniger war es von dringender Notwendigkeit, einen Entschluß zu fassen. Dem Waldhüter und dem Doktor mußte ohne allen Verzug zu Hilfe geeilt werden. Auf Gefahr, die man dabei liefe, durfte es nicht ankommen. Zum wenigsten mußte festgestellt werden, was aus dem Waldhüter und dem Doktor geworden sei. Das war Pflicht nicht bloß für die Verwandten und Bekannten, sondern für jeden Bauern im Dorfe. Nach mancherlei Debatten, Aufforderungen und Ausflüchten fanden sich endlich als tapferste drei zu dem Wagnis bereit: Schulze Koltz, Schäfer Frik und Gastwirt Jonas – sonst niemand. Schulmeister Hermod bekam plötzlich Reißen im Bein und mußte sich in der Schule auf zwei Sessel strecken.

Gegen 9 Uhr machte sich der Schulze mit dem Schäfer und dem Gastwirt auf den Marsch nach dem Sattel des Vulkans, natürlich alle drei wohlbewaffnet; an derselben Stelle, wie Nik Deck, bogen sie von der Straße hinein in den Wald; sie sagten sich nicht ohne Grund, daß Nik Deck, wenn er wieder nach dem Dorfe zurück unterwegs sei, doch sicher auf demselben Wege kommen würde, den er zum Hinweg benutzt hätte.

Während die drei Männer nun ihren Marsch unternehmen, wollen wir über die Vorgänge, die sich in ihrem Dorfe während ihrer Abwesenheit zutrugen, berichten. Während es, solange sie noch da waren, für unerläßlich erachtet wurde, daß Leute, die dazu Lust hätten, sich auf den Marsch nach dem Schlosse machten, um über Nik Decks und Doktor Pataks Ausbleiben Gewißheit zu schaffen, erachtete man es, sobald man sie aus dem Gesicht hatte, für eine Unklugheit sondergleichen, daß sich besonnene Männer in solches Wagnis stürzten, statt sich das Schicksal ihrer Vorgänger zu Herzen zu nehmen. Es könnte doch gar nicht anders kommen, als daß es ihnen nicht besser ginge wie den andern – während man jetzt bloß den Verlust von zwei Mitbürgern zu beklagen hätte, würde man am nächsten Morgen den Verlust von ihrer fünf zu beklagen haben – denn daß der Waldhüter und der Doktor bei ihrem wahnsinnigen Beginnen das Leben gelassen hatten, stand jetzt für jedermann außer Zweifel. Wozu wäre es nötig, daß nun auch Schulze, Schäfer und Gastwirt ihr Leben in Gefahr brächten? würde man vielleicht besser dran sein, wenn die Schulzentochter statt bloß um ihren Bräutigam auch noch um ihren Vater Tränen vergösse? wenn außer den vielen Freunden und Bekannten des Doktors nun auch alle Bekannten des Schäfers und alle Kunden des Gastwirts zu Leidtragenden würden?

Im Dorfe griff allgemeine Trostlosigkeit um sich, und daß sie bald aufhören würde, schien sich nicht erwarten zu lassen. Selbst wenn man nicht mit einem Unglück rechnete, das ihnen zustoßen könnte, ließ sich auf die Rückkehr des Schulzen und seiner beiden Kameraden vor Einbruch der Dunkelheit nicht rechnen.

Wie groß war mithin das Erstaunen, als man ihrer in der dritten Nachmittagsstunde weit draußen auf der Heerstraße ansichtig wurde. Wie schnell war Miriota, der die frohe Kunde ohne Verzug gemeldet worden war, auf dem Wege ihnen entgegen!

Es waren ihrer nicht drei, sondern vier, und der vierte ließ sich als der Doktor Patak erkennen.

»Nik – mein armer, armer Nik!« schrie das Dirndl – »ist denn Nik nicht auch da?«

Doch, doch! Nik war mit da – aber Nik lag auf einer Trage aus Baumzweigen, an der Jonas der Wirt und Frik der Schäfer gar schwer zu tragen hatten.

Miriota stürzte zu ihrem Bräutigam, neigte sich über ihn, schloß ihn in die Arme.

»Er ist tot,« schrie sie, »er ist tot!«

»Nein,« entgegnete der Doktor, »tot nicht – aber verdient hätte er es, tot hier zu liegen – und ich auch!«

Der Waldhüter lag nicht tot, sondern bewußtlos auf der Bahre, mit starren Gliedern, leichenblassem Gesicht und schwer nach Atem ringend, - und wenn aus dem Gesichte des Doktors nicht ebenso alle Farbe gewichen war wie aus dem seines Gefährten, so war der Grund einzig und allein in der Marschbewegung zu suchen, die ihm die alte rote Färbung wiedergegeben hatte.

Miriotas Stimme, so weich und herzzerreißend sie war, besaß die Kraft nicht, Nik Teck aus der Erstarrung zu wecken, in die er versunken war. Auf dem ganzen Wege zum Dorfe und bis ins Schulzenhaus hatte er noch kein einziges Wort gesprochen. Nach einer Weile schlug er aber dort die Augen auf, und als er sein Dirndl neben sich sah, da schlich ein Lächeln über seine Lippen; aber als er versuchte, sich aufzurichten, gelang es ihm nicht. Die eine Hälfte seines Körpers war gelähmt. Um aber Miriota nicht zu beunruhigen, sprach er, freilich mit recht, recht schwacher Stimme:

»Es wird nichts zu bedeuten haben – wird nichts zu bedeuten haben!«

»Nik – mein armer, armer Nik!« weinte das Dirndl.

»Bloß ein bißchen Ueberanstrengung, liebe Miriota, und ein bißchen zuviel Aufregung – unter deiner Pflege ist das – schnell vorbei –«

Aber dem Kranken tat Ruhe und Stille not. Darum ging der Schulze aus der Stube und ließ die Tochter mit dem jungen Manne allein, der sich keine emsigere Pflegerin hätte wünschen können. Es dauerte nicht lange, so lag er wieder in tiefer Betäubung.

Unterdes erzählte Wirt Jonas einer zahlreichen Zuhörerschaft, mit lauter kräftiger Stimme, damit ihn ja alle hörten, was sich seit ihrem Aufbruch zugetragen hatte.

Im Unterholz hatten sie, der Schulze, der Schäfer und er, den Kletterpfad gefunden, den sich Waldhüter und Doktor ins Dickicht geschlagen hatten in der Richtung zum Schlosse hinauf. Zwei Stunden lang waren sie die Schrägen des Plesa hinaufgestiegen, bis zur Waldgrenze hatten sie bloß noch etwa eine halbe Meile gehabt, da waren zwei Männer vor ihnen aufgetaucht, der Doktor und der Waldhüter. Dem letztern versagten die Beine den Dienst, der andere war mit seinen Kräften zu Ende und eben am Fuß eines Baumes zusammengebrochen.

Soviel Fragen sie dem Doktor gestellt hatten, so wenig Antworten hatten sie bekommen, denn er stand noch zu sehr unter den entsetzlichen Eindrücken der letzten Stunden. Im Nu hatten die drei Männer aus Zweigen eine Bahre gemacht und Nik darauf gestreckt. Dann halfen sie dem Doktor auf die Beine und machten sich auf den Rückmarsch. Frik und Jonas trugen die Bahre, während der Schulze den Doktor stützte.

Wieso es gekommen war, daß sich der Waldhüter in so kläglichem Zustande befand, und ob er im Burginnern gewesen oder nicht, das wußte der Schulze nicht besser als der Wirt und der Wirt nicht besser als der Schäfer, denn der Doktor war noch immer nicht genug bei Besinnung und Kräften, um ihre Neugierde zu stillen.

Wenn aber Patak bislang noch nicht geredet hatte, so half ihm jetzt nichts mehr davon. Schockschwerenot, jetzt war er doch im Dorfe wieder in Sicherheit und im Kreise seiner Patienten, umringt von seinen Freunden! von den Wesen unten im Tal hatte er doch nichts mehr zu fürchten! und selbst wenn ihm dort oben ein Eid abgenommen worden, nichts von dem allen zu offenbaren, was er im Karpathenschloß gesehen, so legte ihm das Interesse seiner Mitmenschen die Pflicht auf, solchen Eid nicht zu halten.

»Aber, Doktor, so faßt Euch doch!« redete der Schulze ihm zu, »besinnt Euch doch! sammelt Euch doch!«

»Reden soll ich – was?«

»Im Namen Eurer Nachbarn und guten Freunde, im Namen Eurer Patienten, im Namen der gesamten Einwohnerschaft von Werst befehle ich Euch, Doktor, zu reden und dem Dorfe, dem Ihr angehört, seine Ruhe und Sicherheit wiederzugeben.«

Jonas kam mit einem guten Rakju, und dieser Schluck hatte die heilsame Wirkung, dem Doktor den Gebrauch seiner Zunge wiederzugeben. In abgerissenen Sätzen erzählte er nun folgendes:

»Wir sind aufgebrochen zu zweit, Nik und ich – Narren! hirnverbrannte Narren! – Fast einen Tag haben wir gebraucht, um durch diesen vermaledeiten Urwald zu dringen – erst gegen Abend sind wir vor die Burg gelangt – ich zittere noch jetzt, wenn ich daran denke – mein Leben lang werde ich zittern, wenn ich daran denke – Nik wollte in die Burg hinein – ja! die Nacht wollte er im Lugturm zubringen – was doch gerade soviel heißt, wie bei Beelzebub nächtigen wollen.«

Diese abgerissenen Sätze stieß der Doktor so schaurig tief aus seiner Brusthöhle herauf, daß es der Zuhörerschaft durch Mark und Bein ging.

»Ich habe nicht drein gewilligt – nein, ich habe nicht drein gewilligt – und was wäre vorgegangen, hätte ich mich Nik Deck gefügt? – Die Haare steigen mir zu Berge, wenn ich daran denke.«

So war es auch, ihm stiegen die Haare zu Berge, aber weil er sich – vielleicht ohne es wissen oder zu wollen – mit den Händen hineinfuhr.

»Nik hat sich infolgedessen einverstanden erklärt, daß wir uns auf dem Orgall-Plateau lagerten – war das eine Nacht! Freunde, war das eine Nacht! – Probiert's doch mal, Ruhe zu finden, wenn Euch Gespenster und Geister keine Stunde Schlaf gönnen – nein, keine Stunde! – Da, mit einem Male tauchen feurige Ungetüme zwischen den Wolken hervor, richtige Balauris! – stürzen auf das Plateau herab, uns zu verschlingen –«

Aller Blicke richteten sich gen Himmel, um zu sehen, ob am Ende gar noch Gespenster hinter ihm her galoppierten.

»Und gleich darauf,« erzählte der Doktor weiter – »dröhnt die Kapellenglocke – die geschwungen wird – geschwungen –«

Aller Ohren spannten sich zum Horizont hin, und mehr denn einer von den Werster Bauern vermeinte es in der Ferne läuten zu hören, solchen tiefen Eindruck machte die Erzählung des Doktors auf seine Zuhörerschaft.

»Plötzlich,« schrie der Doktor, »plötzlich erfüllt gräßliches Gebrüll den Weltenraum – oder vielmehr Geheul, Geheul von allerhand wildem Getier – dann schießt grelles Licht aus den Fenstern des Lugturms – eine Höllenflamme bescheint das ganze Plateau bis zur Tannenregion – wir sehen uns an, Nik und ich – ja! diese entsetzliche Vision! – wir sehen beide aus wie die Leichen – wie ein paar Leichen, die einander Grimassen schneiden, während bleiches Höllenlicht sie beleuchtet!«

Ein greuliches Bild, das Doktor Patak jetzt zeigte mit seinem verzerrten Gesicht und seinen irren Augen – man meinte wirklich alle Ursache zu der Meinung zu haben, er komme aus jener andern Welt, in die er schon so viele seinesgleichen expediert hatte.

Man mußte ihn erst wieder zu Atem kommen lassen, denn weiterzuerzählen wäre er nicht imstande gewesen. Das kostete dem Wirt Jonas ein zweites Glas Rakju; aber es schien, als wohne diesem Getränk die Kraft inne, dem einstigen Krankenwärter den abhanden gekommenen Verstand teilweis wiederzubringen.

»Was ist denn aber nun eigentlich dem armen Nik passiert?« fragte Schulze Koltz.

Er hatte guten Grund, der Schulze, auf die Beantwortung gerade dieser Frage ganz besondere Wichtigkeit zu legen, weil ja der junge Mann in der großen Gaststube des »Königs Mathias« durch die Geisterstimme persönlich gewarnt worden war.

»Das steht mir noch fest in der Erinnerung,« antwortete der Doktor, »es war wieder Tag geworden – ich hatte Nik gebeten, seine Pläne fallen zu lassen, aber Ihr kennt ihn ja – mit solchem Dickkopf ist doch nichts anzufangen – er ist in den Graben hinuntergestiegen, und ich habe ihm folgen müssen, denn er hat mich hinter sich hergezogen – übrigens wußte ich gar nicht mehr, was ich machte – – Nik dringt nun vor bis unter das Ausfalltor, packt eine Kette von der Zugbrücke und klettert daran in die Höhe – bis zum Wallrande hinauf – in diesem Augenblick kommt mir das Bewußtsein wieder, die Situation wird mir klar – noch ist es Zeit, ihm Einhalt zu tun, diesem Wahnwitzigen, diesem – nun, warum soll ich's nicht sagen? – diesem Gotteslästerer – zum letzten Male befehle ich ihm, wieder herunterzukommen, umzudrehen, mit mir den Rückweg nach Werst einzuschlagen – »nein!« schreit er mich an – ich will fliehen, ja, Freunde! ich bekenne es, ich habe fliehen wollen – und wer von Euch an meiner Stelle hätte nicht den gleichen Gedanken gehabt! – aber umsonst versuche ich, die Füße vom Boden zu heben – sie sind wie festgenagelt, festgeschraubt, festgewurzelt – ich kann versuchen, was ich will, die Füße lösen sich nicht von der Erde – ich schlage um mich – alles umsonst –«

Durch allerhand Gebärden mühte sich der Doktor, die Verzweiflung eines Menschen zum Ausdruck zu bringen, der die Beine nicht setzen kann, weil sie am Boden festsitzen, der sich vorkommen muß wie ein Fuchs, der ins Fangeisen geraten ist. Dann fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Im selben Augenblick gellt ein Schrei in der Luft – ja, was für ein Schrei! – aus Niks Munde ist der Schrei gedrungen – seine Hände haben die Kette losgelassen – und er stürzt hinunter auf die Grabensohle, wie niedergeschmettert von unsichtbarer Hand!«

Daß der Doktor die Dinge genau so erzählt hatte, wie sie geschehen waren, und daß seine Phantasie, so getrübt sie auch war, nichts hinzugesetzt hatte, steht fest. Genau so wie er sie schilderte, waren die Wunder geschehen, deren Schauplatz während letzter Nacht das Orgall-Plateau gewesen war.

Was nach Nik Decks Sturz passiert war, wurde erzählt wie folgt:

Der Waldhüter liegt ohnmächtig und Doktor Patak vermag ihm nicht zu helfen, denn er ist mit den Stiefelsohlen an den Boden genagelt, und seine geschwollenen Beine können nicht aus den Stiefeln heraus – plötzlich wird die unsichtbare Kraft, die ihn gekettet hält, jäh gebrochen, seine Beine lösen sich, er stürzt zu dem Kameraden hin, und – eine Tat hohen Mutes von solchem Gesellen – näßt ihm das Gesicht mit seinem Taschentuch, das er ins Wasser des Abzugskanals getaucht hat. Dem Waldhüter kehrt das Bewußtsein zurück, aber der linke Arm, die ganze linke Seite sind ihm gelähmt von der schrecklichen Erschütterung, die er erlitten hat – aber mit Hilfe des Doktors gelingt es ihm, sich aufzurichten, den Klettersteig zur Kontreskarpe hinaufzuklimmen, den Rückweg zum Dorfe einzuschlagen – – Nach einstündigem Marsche werden die Schmerzen im Arm und in der Seite so heftig, daß er stehen bleiben muß – der Doktor will sich eben allein auf den Weiterweg machen, um Hilfe aus dem Dorfe zu holen – da kommen Vater Koltz, Jonas und Frik auf dem Plateau in Sicht – gerade zur rechten Zeit!

Was mit dem Waldhüter vorgegangen, und ob seine Verletzung schwerer Art ist, darüber sich auszusprechen, vermied Doktor Patak, obwohl er sonst in der Regel eine erstaunliche Sicherheit bekundete, wenn es sich um ärztliche Behandlung handelte.

»Ist jemand von einer natürlichen Krankheit befallen,« begnügte er sich in dogmatischem Tone zu erklären, »so ist das schon ein ernster Fall; handelt es sich aber um eine übernatürliche Krankheit, die einem der Schort in den Leib jagt, so gibt es auch keinen andern Rat als zu warten, bis es dem Schort beliebt, die Krankheit wieder aus dem Leibe zu jagen.«

Da es an jeglicher Diagnose auf diese Weise fehlte, konnte solche Prognose für Nik Deck nicht gerade beruhigend sein, Zum großen Glück waren diese Worte kein Evangelium, und wollte man all die Aerzte zählen, die sich seit Hippokrates und Galienus geirrt haben und noch täglich irren, und die »studierter« waren als Patak, der Werster »Dorfbarbier«, so reichten Hunderttausende von Menschenleben dazu nicht aus. Der junge Waldhüter war ein kräftiger Bursche, und bei seiner kerngesunden Konstitution stand wohl zu hoffen, daß er sich wieder »herausmachen« werde, auch ohne Dazwischenkunft und gütige Beihilfe des Gottseibeiuns, unter der Bedingung freilich, daß er sich nicht allzu strikt nach den Vorschriften und Rezepten des einstigen Quarantäne-Pflegers richtete.


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