Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant.Zweiter Band
Jules Verne

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Achtzehntes Capitel.
Die Australischen Alpen.

Eine ungeheure Schranke versperrte den Weg nach Südosten. Es war die Australische Alpenkette, ein ungeheures Bollwerk, dessen Wälle sich launenhaft unregelmäßig fünfzehnhundert Meilen weit erstrecken und viertausend Fuß in die Wolken reichen.

Der bedeckte Himmel ließ nur durch eine dicke Nebelschicht Wärme auf den Erdboden dringen. Die Temperatur war daher erträglich, aber der Weg auf einem schon sehr unebenen Terrain schwierig. Die Bodenschwellungen in der Ebene traten immer deutlicher auf, und hier und da zeigten sich kleine, mit jungen, grünen Gummibäumen bewachsene Hügel. Weiterhin bildeten diese deutlich hervortretenden Anhöhen die ersten Stufen der großen Alpen. Man mußte fortwährend bergan und merkte dies wohl an der Anstrengung der Ochsen, deren Joch beim Ziehen des schweren Wagens krachte; sie keuchten laut, und die Muskeln ihrer Gelenke spannten sich, als müßten sie zerreißen.

Die Bretter des Gefährtes stöhnten unter den plötzlichen Stößen, welche Ayrton, so geschickt er auch war, nicht zu vermeiden vermochte; die Reisenden ergaben sich heiter in ihr Loos.

John Mangles und seine beiden Matrosen untersuchten einige hundert Schritt voraus den Weg; sie wählten die fahrbaren Stellen, um nicht zu sagen Pässe; alle diese Bodenerhebungen bildeten gleichsam Klippen, zwischen welchen der Wagen die beste Durchfahrt zu wählen hatte. Es war eine wahrhafte Schifffahrt durch unruhig aufgeregte Wogen.

Eine schwierige, oft gefährliche Aufgabe. Manchmal mußte Wilson mit dem Beil mitten durch das dichte Gestrüpp einen Weg bahnen. Der feuchte Thonboden gab unter den Füßen nach und der Weg verlängerte sich durch die Umwege, welche man durch tausenderlei unübersteigliche Hindernisse, wie große Granitblöcke, tiefe Schluchten, verdächtige Wasserlachen, zu machen genöthigt war. So hatte man gegen Abend kaum einen halben Grad zurückgelegt. Man lagerte am Fuß der Alpen, am Ufer des Flüßchens Cobongra, am Saume einer kleinen, mit vier Fuß hohen Sträuchern bedeckten Ebene, deren hellrothe Blätter das Auge erfreuten.

»Wir haben einen schlimmen Weg zu machen,« sagte Glenarvan, indem er die Bergkette betrachtete, deren Umrisse schon im Abendschatten verschwammen. »Alpen! Das ist eine Benennung, die zum Nachdenken veranlaßt.«

»Man muß doch den Anschlag etwas geringer machen, mein lieber Glenarvan,« antwortete Paganel. »Glauben Sie nicht, daß Sie eine ganze Schweiz zu durchreisen haben. Es giebt in Australien Grampian-Gebirge, Pyrenäen, Alpen, Blaue Berge, wie in Europa und Amerika, aber in verkleinertem Maßstabe. Dies beweist ganz einfach, daß die Einbildungskraft der Geographen nicht gar weit reicht, oder die Sprache für die Eigennamen sehr arm ist.«

»Also sind diese Australischen Alpen? . . .« fragte Lady Helena.

»Gebirge in einer Miniatur-Ausgabe,« antwortete Paganel. »Wir werden über sie hinaus kommen, ohne es zu merken.«

»Sprechen Sie in eigenem Namen!« sagte der Major. »Nur ein zerstreuter Mensch kann eine Gebirgskette passiren, ohne es wahrzunehmen.«

»Zerstreut!« rief Paganel aus. »Aber ich bin nicht mehr zerstreut. Ich berufe mich auf die Damen. Seitdem ich den Fuß auf das Festland gesetzt, habe ich nicht mein Versprechen gehalten? Habe ich mich einer einzigen Zerstreutheit schuldig gemacht? Hat man mir einen Irrthum vorzuwerfen?«

»Keinen, Herr Paganel,« sagte Mary Grant. »Sie sind jetzt ein höchst vollkommener Mann.«

»Allzu vollkommen!« fügte Lady Helena lachend hinzu. »Ihre Zerstreutheit stand Ihnen so gut.«

»Nicht wahr, Madame?« erwiderte Paganel. »Wenn ich keinen Fehler mehr besitze, so bin ich im Begriff, ein Mensch zu werden, wie Jedermann. Ich hoffe also, daß ich binnen Kurzem irgend einen gehörigen Bock schieße, worüber Sie herzlich lachen werden. Sehen Sie, wenn ich nicht einen Verstoß mache, scheine ich aus meiner Rolle zu fallen.«

Am nächsten Tage, den 9. Januar, unternahm die kleine Truppe, ungeachtet der Versicherungen des zuversichtlichen Geographen, nicht ohne große Schwierigkeiten den Uebergang über die Alpen. Man mußte auf gut Glück vorwärts gehen, in enge und tiefe Hohlwege eindringen, welche zuletzt in einen Sack auslaufen konnten. Ayrton wäre ohne Zweifel sehr in Verlegenheit gewesen, wenn man nicht, nachdem man eine Stunde weit gestiegen, unversehens auf ein Wirthshaus, ein elendes »Tap«, auf einem der Bergpfade gestoßen wäre.

»Wahrlich!« rief Paganel aus, »der Besitzer dieser Schenke kann an einem solchen Orte nicht reich werden! Wozu kann es wohl dienen?«

»Uns auf unserem Wege die Auskunft zu geben, deren wir nöthig haben,« antwortete Glenarvan. »Laßt uns hinein gehen.«

Glenarvan trat, von Ayrton gefolgt, in das Wirthshaus ein. Der Besitzer des »Bush-Inn« – so besagte das Schild der Herberge – war ein grober Mann von widerwärtigem Aussehen, der sich als seinen Hauptkunden in Bezug auf Gin, Branntwein und Whisky betrachten mußte. Für gewöhnlich sah er kaum einige reisende Squatters oder Heerdenführer.

Er antwortete mit einer Miene übler Laune auf die an ihn gerichteten Fragen. Doch genügten diese Antworten, um Ayrton's Entschluß über seinen Weg zu bestimmen. Glenarvan belohnte die Mühe des Wirthes mit einigen Kronen, und war im Begriff die Schenke zu verlassen, als ein an die Mauer geklebter Anschlag seine Blicke auf sich zog.

Es war eine Bekanntmachung der Colonie-Polizei. Sie verkündete das Entweichen der Sträflinge zu Perth und setzte auf den Kopf Ben Joyce's einen Preis von hundert Pfund Sterling aus.

»Entschieden,« sagte Glenarvan zum Quartiermeister, »ist dies ein Elender, den man hängen sollte.«

»Vor Allem einfangen!« erwiderte Ayrton. »Hundert Pfund. Das ist eine schöne Summe, die er nicht werth ist.«

»Was den Schenkwirth anlangt,« fügte Glenarvan hinzu, »scheint er mir trotz seines Maueranschlages nicht sehr Vertrauen erregend.«

»Mir auch nicht«, versetzte Ayrton.

Glenarvan und der Quartiermeister kehrten zum Wagen zurück.

Man wandte sich dem Punkte zu, wo der Weg nach Lucknow aufhört. Dort schlängelte sich ein schmaler Paß, der zu Umwegen nöthigte; man fing an bergauf zu steigen; ein mühsames Stück Arbeit. Mehr als einmal mußten die Reisenden aussteigen, und dem schweren Gefährt zu Hilfe kommen, indem sie es an den Rädern vorwärts schoben; oft, an gefährlichen Abhängen, mußte man es zurückhalten, die Ochsen abspannen, deren Zug bei plötzlichen Wendungen sich nicht entwickeln konnte; es that Noth den Wagen zu stützen, der rückwärts zu gleiten drohte; und öfter mußte Ayrton die Hilfe der Pferde in Anspruch nehmen, die vom eigenen Hinaufsteigen schon ermüdet waren.

Sei's nun in Folge dieser langen Anstrengung oder aus sonst einem Grunde, eins der Pferde fiel an diesem Tage. Es stürzte plötzlich nieder, ohne daß man irgend dieses Unfalls sich hätte versehen können.

Es war das Pferd Mulrady's, und als dieser es wieder aufrichten wollte, fand sich, daß es todt war.

Ayrton untersuchte das zur Erde gestreckte Thier und schien diesen plötzlich eingetretenen Tod nicht zu begreifen.

»Das Thier muß sich irgend ein Gefäß zerrissen haben,« sagte Glenarvan.

»Wahrscheinlich,« antwortete Ayrton.

»Nimm mein Pferd, Mulrady,« setzte Glenarvan hinzu, »ich werde mich zu Lady Helena in den Wagen setzen.«

Mulrady gehorchte, und die kleine Truppe setzte ihre anstrengende Bergfahrt fort, nachdem sie den Raben den Cadaver des Pferdes zurückgelassen.

Die Australische Alpenkette ist nicht sehr stark, und ihr Fuß hat kaum acht Meilen Breite.

Wenn also der von Ayrton ausgewählte Uebergangspaß auf der östlichen Rückseite auslief, konnte man binnen achtundvierzig Stunden über diese hohe Schranke hinaus sein. Dann würde bis an's Meer von unübersteiglichen Hindernissen, oder schwierigen Wegen keine Rede mehr sein.

Im Laufe des 11. erreichten die Reisenden den höchsten Punkt des Passes, ungefähr zweitausend Fuß hoch. Sie befanden sich auf einem freiliegenden Plateau, welches den Blicken eine weite Aussicht gestattete. Nach Norden zu spiegelten sich die ruhigen Gewässer des Omeo-Sees, mit buntem Gewimmel von Wasservögeln, und weiter hinaus die großen Ebenen des Murray. Im Süden entrollten sich die grünen Flächen von Gippsland, des goldreichen Terrains mit seinen hohen Wäldern, das einem Lande der Urzeit gleicht. Dort war die Natur noch die Herrin ihrer Erzeugnisse, des Laufes ihrer Ströme, ihrer großen, von dem Beil noch unberührten Bäume, und die damals noch seltenen Ansiedler wagten es nicht, gegen sie zu kämpfen. Es schien, als ob die Alpenkette zwei verschiedene Landstriche trenne, von denen der eine seine natürliche Wildniß beibehalten habe. Die Sonne ging jetzt unter, und einige durch röthliche Wolken schimmernde Strahlen belebten die Beleuchtung des Districtes Murray. Im Gegensatz hierzu verlor sich das Gippsland, welches hinter dem Bergschirm im Schatten lag, in unbestimmtem Helldunkel, und man hätte sagen können, der Schatten tauche diese transalpinische Region in eine frühe Nacht. Dieser Contrast ward von den Zuschauern auf ihrem Standpunkt zwischen diesen beiden Ländern lebhaft empfunden, und eine gewisse Gemüthsbewegung bemächtigte sich ihrer beim Anblick dieser fast unbekannten Gegend, welche sie bis an die Victorischen Grenzen durchwandern sollten.

Man übernachtete auf dem Plateau selbst, und am folgenden Tage begann das Hinabsteigen. Es ging ziemlich schnell von Statten, doch überfiel ein außerordentlich heftiger Hagel die Reisenden und zwang sie unter den Felsen eine Zuflucht zu suchen. Es waren keine Hagelkörner, sondern wirkliche handgroße Eisstücke, welche aus den Gewitterwolken niederstürzten. Eine Schleuder hätte sie nicht mit größerer Gewalt werfen können, und einige tüchtige Verletzungen belehrten Paganel und Robert, daß es gerathen sei, sich diesen Würfen zu entziehen. Der Wagen wurde an mehreren Stellen durchlöchert, und wenig Dächer hätten diesem Hagel spitzer Eisstücke widerstanden, welche sich sogar in den Stamm der Bäume einbohrten. Man mußte das Ende dieses merkwürdigen Niedersturzes abwarten, wenn man nicht gesteinigt werden wollte. In einer Stunde war jedoch Alles vorüber, und die Truppe begann auf's Neue die abschüssigen Felsen hinabzusteigen, die von dem Abfluß des Hagels noch ganz schlüpfrig waren.

Gegen Abend fuhr der Wagen, sehr zusammengerüttelt und an verschiedenen Theilen des Gestelles zerbrochen, doch noch sicher auf seinen Holzrädern ruhend, die letzten Stufen der Alpen, zwischen großen, vereinzelt stehenden Tannen hinunter. Der Paß lief auf den Ebenen des Gippslandes aus. Die Alpenkette war glücklich überschritten und die gebräuchlichen Anordnungen für das Nachtlager wurden getroffen.

Am 12. bei Tagesanbruch nahm man die Reise mit einem Eifer wieder auf, der nicht zu verkennen war. Jeder hatte Eile, an's Ziel zu kommen, d. h. an den Stillen Ocean, an denselben Ort, wo die Britannia gescheitert war. Dort erst konnte man wieder auf die Spur der Schiffbrüchigen kommen und nicht in den wüsten Gegenden des Gippslandes. Auch drängte Ayrton Lord Glenarvan, dem Duncan den Befehl zu schicken, sich an die Küste zu begeben, um alle Nachforschungsmittel zur Verfügung zu haben. Seiner Meinung nach mußte man den Weg, der von Lucknow nach Melbourne führt, benutzen. Später würde dies schwieriger sein, denn die directe Verbindung mit der Hauptstadt fehlte dann gänzlich.

Dieser Rath des Quartiermeisters schien gut zu befolgen. Paganel war gleicher Ansicht, denn er glaubte ebenfalls, daß die Anwesenheit der Yacht unter solchen Umständen nützlich sein könne, und er fügte hinzu, daß, wenn der Weg nach Lucknow einmal hinter ihnen, jede Verbindung nach Melbourne abgeschnitten sei.

Glenarvan war unentschieden, und vielleicht hätte er den Befehl, den Ayrton so besonders verlangte, ertheilt, wenn nicht der Major diesen Vorschlag lebhaft bekämpft hätte. Er bewies, daß Ayrton's Anwesenheit bei der Expedition nöthig sei; bei Annäherung an die Küste sei er es, dem das Land bekannt sei; und, wenn der Zufall die Karawane auf die Spuren Grant's bringe, sei der Quartiermeister mehr als jeder Andere im Stande, sie zu verfolgen; endlich, er könne allein den Ort angeben, wo die Britannia zu Grunde gegangen.

Mac Nabbs stimmte also für die Fortsetzung der Reise ohne verändertes Programm. Er fand einen Verbündeten in John Mangles, der sich seiner Ansicht anschloß.

Der junge Kapitän bemerkte sogar, daß die Befehle Seiner Gnaden dem Duncan leichter zugehen würden, wenn man sie von der Twofold-Bai expedirte, als durch das Ueberbringen eines Boten, der zweihundert Meilen durch ein wildes Land reiten müsse.

Diese Ansicht gewann die Oberhand. Es wurde entschieden, daß man warten wolle, bis die Twofold-Bai erreicht sei. Der Major beobachtete Ayrton, der ziemlich ärgerlich schien. Doch sagte er Nichts und behielt, seiner Gewohnheit zu Folge, seine Beobachtung für sich.

Die Ebenen am Fuß der Australischen Alpen waren flach, mit einer leichten Senkung nach Osten. Große Gruppen von Mimosen und Eucalyptus, mannigfach duftende Gummibäume unterbrachen hier und da die Einförmigkeit. Einige Creeks, einfache mit Binsen und Orchideen bedeckte Bäche, welche oft den Weg versperrten, wurden an seichter Stelle durchwatet. In der Ferne entflohen bei der Annäherung der Reisenden Schaaren von Trappen und Kasuaren. Ueber die Sträucher hinweg sprangen Kängurus wie eine Truppe beweglicher elastischer Gliedermännchen hinüber und herüber. Doch dachten die Jäger der Expedition kaum daran, sie zu jagen, und ihre Pferde waren gern einer größeren Anstrengung überhoben.

Außerdem lag eine dumpfe Schwüle über der Gegend. Eine starke Elektricität sättigte die Atmosphäre. Thiere und Menschen unterlagen ihrem Einflusse. Sie gingen mechanisch vorwärts, und die Stille ward nur durch den Ruf Ayrton's unterbrochen, der seine müden Thiere antrieb.

Von Mittag bis zwei Uhr passirte man einen merkwürdigen Wald von Farrnkräutern. Diese baumartigen, in voller Blüthe stehenden Pflanzen hatten bis zu dreißig Fuß Höhe. Pferde und Reiter gingen bequem unter ihren niedergehenden Zweigen durch. Unter diesen unbeweglichen Sonnenschirmen herrschte eine Kühle, über die sich Niemand beklagte. Jacques Paganel, der sich immer äußern mußte, verscheuchte mit seinen Auslassungen der Befriedigung Schaaren von Papageien und Kakadus. Es war ein Concert betäubenden Geplappers.

Der Geograph fuhr in seinen Ausrufungen des Entzückens fort, als seine Begleiter ihn plötzlich auf seinem Pferde schwanken und wie eine Masse niederstürzen sahen.

War es Folge einer Betäubung oder hatte die hohe Temperatur eine Beklommenheit verursacht? Man eilte auf ihn zu.

»Paganel, Paganel, was fehlt Ihnen?« rief Glenarvan aus.

»Was mir fehlt, lieber Freund? Ich habe kein Pferd mehr,« antwortete Paganel, indem er sich aus den Steigbügeln losmachte.

»Was! Ihr Pferd?«

»Todt, vom Schlage gerührt, wie das Mulrady's!«

Glenarvan, John Mangles, Wilson untersuchten das Thier. Paganel täuschte sich nicht, sein Pferd war plötzlich vom Schlage getroffen.

»Das ist sonderbar,« sagte John Mangles.

»Sehr sonderbar, in der That«, murmelte der Major.

Glenarvan gerieth durch diesen neuen Unfall in große Besorgniß. Er konnte in dieser Wüste keine neuen Pferde anschaffen; wenn nun unter den Thieren der Expedition eine Epidemie ausbrach, so war er sehr in Verlegenheit, wie er die Reise fortsetzen solle.

Leider sollte vor Ende des Tages das Wort »Epidemie« gerechtfertigt erscheinen. Ein drittes Pferd, das Wilson's, stürzte und, ein vielleicht noch ernsterer Umstand, einer der Ochsen gleichfalls.

Die Transport- und Zugmittel waren jetzt auf drei Ochsen und vier Pferde beschränkt.

Die Lage wurde bedenklich. Die Reiter konnten zwar absitzen und zu Fuß gehen. Viele Squatters hatten dies bereits in diesen wilden Regionen gethan. Wenn man aber den Wagen zurücklassen mußte, was sollte dann aus den reisenden Frauen werden? Konnten sie die hundertundzwanzig Meilen, welche sie noch von der Twofold-Bai trennten, zurücklegen?

John Mangles und Glenarvan, die sehr beunruhigt waren, untersuchten die noch überlebenden Pferde. Vielleicht konnte man neuen Unglücksfällen zuvorkommen. Nach geschehener Untersuchung ergab sich kein Zeichen von Krankheit oder auch nur von Hinfälligkeit. Die Thiere befanden sich vollkommen gesund und ertrugen tapfer die Reiseanstrengungen.

Glenarvan hoffte also, daß diese sonderbare Epidemie kein neues Opfer fordern würde.

Dies war auch Ayrton's Ansicht, der gestand, daß ihm diese plötzlichen Todesfälle unbegreiflich seien.

Man machte sich wieder auf den Weg. Die Fußgänger ruhten sich abwechselnd im Wagen aus. Am Abend wurde, wenn man auch nur zehn Meilen zurückgelegt hatte, das Zeichen zum Halt gegeben und das Lager errichtet. Die Nacht verfloß ruhig, ohne Störung unter einem großen Busch von Farrnkraut, zwischen denen ungeheure Fledermäuse, fliegende Füchse genannt, hin und her flatterten.

Der folgende Tag, der 13. Januar, war ein guter. Die Unfälle des vorigen Tages erneuerten sich nicht, und der Gesundheitszustand der Expedition blieb ein befriedigender. Pferde und Ochsen thaten munter ihren Dienst. Der Salon Lady Helena's war sehr belebt, Dank der großen Zahl der Besucher, die ein- und ausströmten. Herr Olbinett war sehr thätig, Erfrischungen zu reichen, welche bei dreißig Grad Hitze Bedürfniß waren. Ein halbes Fäßchen Schottisch Ale wurde ganz vertilgt, und man erklärte Barklay & Comp. für den größten Mann Großbritanniens, sogar über Wellington, der niemals solch gutes Bier gebraut hatte.

Ein so gut angefangener Tag schien auch gut enden zu wollen. Man hatte gute fünfzehn Meilen mitten durch ein ziemlich unebenes Land mit röthlichem Boden zurückgelegt. Alles ließ hoffen, daß man denselben Abend noch an den Ufern des Snowy übernachten würde, eines ansehnlichen Flusses, der südlich von Victoria sich in den Stillen Ocean ergießt.

Bald gruben die Räder des Wagens ihre Spuren in die weiten Strecken schwärzlichen angeschwemmten Bodens, zwischen wucherndem Grase.

Der Abend kam, und ein am Horizont sich deutlich abzeichnender Nebelstreif zeigte den Lauf des Snowy an.

Noch einige Meilen wurden mit aller Anstrengung gemacht. Hinter einer kleinen Bodenerhebung zeichnete sich ein Wald hoher Bäume ab, und dorthin richtete Ayrton das Gefährt über die im Schatten verlorenen Baumstämme. Er war schon eine halbe Meile vom Fluß über den Saum des Waldes hinausgekommen, als der Wagen plötzlich bis zur Hälfte der Räder einsank.

»Aufgepaßt!« schrie er den ihm nachfolgenden Reitern zu.

»Was giebt es denn?« fragte Glenarvan.

»Wir stecken im Morast«, antwortete Ayrton.

Mit Zurufen und dem Treibstachel regte er die Ochsen an, welche bis zur Mitte der Beine im Schlamm steckend, sich nicht bewegen konnten.

»Wir wollen hier übernachten,« sagte John Mangles.

»Das ist das Beste, was wir thun können,« erwiderte Ayrton. »Morgen, bei Tage, werden wir sehen, wie wir herauskommen.«

»Halt!« rief Glenarvan.

Die Nacht war nach einer kurzen Dämmerung schnell hereingebrochen, doch war die Hitze nicht mit dem Tageslicht verschwunden. Die Atmosphäre war mit erstickenden Dünsten erfüllt. Einige Blitze, blendender Widerschein eines entfernten Gewitters, leuchteten am Horizont.

Das Lager wurde eingerichtet. Man machte sich so gut als möglich in dem eingesunkenen Wagen Platz. Der finstere Dom der Bäume schützte das Zelt der Reisenden. Wenn sich der Regen nicht hereinmischte, waren sie entschlossen, sich nicht zu beklagen.

Nicht ohne große Mühe gelang es Ayrton, die drei Ochsen aus dem Schlammboden zu befreien. Die muthigen Thiere staken bis an den Bauch darin. Der Quartiermeister pferchte sie mit den vier Pferden ein und überließ niemand Anderem die Sorge für ihr Futter. Gewöhnlich verrichtete er diesen Dienst mit Einsicht, doch diesen Abend bemerkte Glenarvan, daß seine Sorgfalt sich verdoppelte, und er dankte ihm dafür, denn die Erhaltung des Gespannes war von großer Wichtigkeit.

Währenddessen nahmen die Reisenden ein ziemlich kurzes Abendessen ein. Hitze und Müdigkeit überwogen den Hunger, und sie hatten weniger der Nahrung als der Ruhe nöthig.

Lady Helena und Miß Grant zogen sich in ihre gewöhnliche Lagerstätte zurück, nachdem sie ihren Gefährten Gute Nacht gewünscht hatten.

Von den Männern schlichen sich einige in das Zelt, andere streckten sich aus Neigung auf das dichte Gras am Fuße der Bäume, was in diesen gesunden Ländern ohne Nachtheil ist.

Nach und nach sank Jeder in tiefen Schlaf. Die Finsterniß nahm unter einem großen Wolkenschleier, der den Himmel umhüllte, zu. Es regte sich kein Lüftchen, und das Schweigen der Nacht wurde nur durch krächzende Nachtvögel unterbrochen.

Gegen elf Uhr, nach einem schweren und ermattenden Schlafe, wachte der Major auf. Seine halbgeschlossenen Augen blendete ein unsicheres Licht, welches sich unter den großen Bäumen bewegte. Man hätte meinen können, es sei ein weißliches Tuch, sich spiegelnd, wie das Wasser eines Sees, und Mac Nabbs glaubte zuerst, es sei der erste Schein eines sich auf dem Erdboden fortpflanzenden Feuers.

Er stand auf und ging auf das Gehölz zu. Seine Ueberraschung war außerordentlich, als er sich einem rein natürlichen Phänomen gegenüber sah. Vor seinen Augen erstreckte sich ein ungeheures Feld mit Pilzen bedeckt, die ein phosphorisches Licht ausströmten.

Die leuchtenden Körperchen strahlten mit ziemlicher Stärke durch die Dunkelheit.Diese Erscheinung ist schon von Drummond in Australien bei Pilzen beobachtet worden.

Der Major, welcher kein Egoist war, stand im Begriff, Paganel aufzuwecken, damit der Gelehrte dies Naturwunder mit eigenen Augen feststelle. Ein Vorfall hielt ihn ab.

Der Phosphorschimmer erhellte das Gehölz auf eine halbe Meile weit, und Mac Nabbs glaubte am Rande des Scheines Schatten schnell dahingleiten zu sehen.

Täuschten ihn seine Blicke? War es ein Wahngesicht, dem er sich hingab?

Mac Nabbs legte sich auf die Erde, und nach genauer Beobachtung bemerkte er deutlich mehrere Männer, welche, sich bückend und wieder erhebend, auf dem Boden nach frischen Spuren zu suchen schienen.

Er mußte wissen, was diese Männer suchten.

Der Major zögerte nicht länger, und ohne seine Gefährten zu wecken, und auf dem Boden wie ein Wilder der Prairien dahinkriechend, verschwand er im hohen Grase.

 


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