Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant.Zweiter Band
Jules Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Capitel.
Wimerra-River.

Am folgenden Morgen, 24. December, brach man mit dem Grauen des Tages auf. Die Hitze war bereits stark, aber erträglich, der Weg fast eben und dem Schritt der Pferde angemessen. Die kleine Schaar kam nun in einen ziemlich lichten Waldschlag. Am Abend, nach einer tüchtigen Tagereise, rastete sie an den Ufern des Weißen Sees, dessen Wasser salzig und nicht trinkbar ist.

Dort war Jacques Paganel gezwungen, einzugestehen, daß dieser See nicht weißer als das Schwarze Meer schwarz und das Rothe Meer roth, der Gelbe Fluß gelb und die blauen Berge blau seien. Doch stritt der Geograph heftig aus wissenschaftlichem Selbstbewußtsein, aber man ließ seine Beweisgründe nicht gelten.

Mr. Olbinett bereitete mit gewohnter Pünktlichkeit das Abendessen; darauf legten sich die Reisenden zur Ruhe, die einen im Wagen, die anderen im Zelt, und schliefen ungeachtet des kläglichen Geheuls der »Dingos«, der Schakale Australiens, unverzüglich ein.

Eine wunderschöne Ebene, ganz mit Chrysanthemum bedeckt, erstreckte sich jenseits des Weißen Sees. Am folgenden Morgen hätten Glenarvan und seine Gefährten beim Erwachen dem prachtvollen Schmuck, der sich ihren Blicken darbot, gern länger ihre Bewunderung gezollt, doch mußte man aufbrechen. In der Ferne verriethen einige kleine Höhen die Erhebung des Bodens. Bis zum Horizont standen Wiese und Blumen im röthlichen Frühlingsschmuck. Der blaue Schimmer der Flachsblume mit den feinen Blättern vermischte sich mit dem Scharlachroth einer dieser Gegend eigenthümlichen Distelblume. Reicher Blüthenschmuck zierte die Grasfläche und der salzhaltige Boden prangte von buntblühenden Kräutern, aus welchen eine vorzügliche Soda gewonnen wird. Paganel nannte die verschiedenen Gewächse bei ihrem Namen, und bei seiner Liebhaberei, Alles zu beziffern, theilte er mit, daß die australische Flora bis jetzt viertausendzweihundert Pflanzenarten in hundertundzwanzig Familien zähle.

Späterhin, nachdem der Wagen ungefähr zehn Meilen in größter Schnelligkeit zurückgelegt hatte, fuhr er rings umgeben von hohen Akazien-Mimosen und weißen Gummibäumen.

Das Thierreich hingegen war weniger ergiebig an Erzeugnissen. Einige Kasuare sprangen durch die Ebene, ohne daß man sich ihnen hätte nähern können. Indessen war der Major so geschickt, ein sehr seltenes Thier zu erlegen. Es war ein »Jabiru«, der Riesenkranich der englischen Colonisten. Dieser Vogel war fünf Fuß groß und sein schwarzer, breiter, kegelförmiger, spitz zulaufender Schnabel achtzehn Zoll lang. Der violette Purpurglanz seines Kopfes stach grell ab von dem glänzenden Grün seines Halses, dem blendenden Weiß seiner Brust und dem hellen Roth seiner langen Beine.

Man bewunderte den Vogel sehr, und der Major hätte die Ehre des Tages davongetragen, wenn nicht der junge Robert einige Meilen weiter ein unförmliches Thier tapfer erlegt hätte, das halb Igel, halb Maulwurf war, ein Wesen von unfertiger Gestalt, wie die ersten Thiere der Schöpfung. Eine dehnbare, lange, schlüpfrige Zunge hing aus dem zahnlosen Maule heraus und fing die Ameisen, welche seine Hauptnahrung bilden.

»Das ist ein Ameisenigel!« sagte Paganel. »Haben Sie je ein solches Thier gesehen?«

»Ein abscheuliches Thier,« antwortete Glenarvan.

»Abscheulich, aber merkwürdig,« versetzte Paganel; »außerdem ist's ein Australien eigenthümliches Product; man würde es in jedem andern Welttheil vergeblich suchen.«

Natürlich wollte Paganel das scheußliche Thier mitnehmen und beim Gepäck unterbringen. Doch war Mr. Olbinett so empört darüber, daß der Gelehrte darauf verzichtete, dieses Probeexemplar aufzubewahren.

An diesem Tage kamen die Reisenden dreißig Minuten über den hunderteinundvierzigsten Längegrad hinaus. Bis hierher hatten sie wenig von Ansiedlern gesehen. Das Land schien öde, von Eingeborenen war keine Spur, denn die wilden Stämme durchziehen mehr die endlosen, von den Nebenflüssen des Darling und des Murray bewässerten nördlichen Einöden.

Doch erregte ein merkwürdiges Schauspiel das Interesse der Gesellschaft Glenarvan's. Sie sollten eine jener unendlich großen Heerden zu sehen bekommen, welche kühne Speculanten aus den östlichen Gebirgen bis in die Provinz Victoria und nach Süd-Australien treiben.

Gegen vier Uhr Nachmittags signalisirte John Mangles drei Meilen vor ihnen eine ungeheure Staubsäule, die sich am Horizont entwickelte. Woher kam diese Erscheinung? Man konnte sich dieselbe nicht erklären, und Paganel war geneigt, sie für ein Meteor zu halten, für welches seine lebhafte Einbildungskraft schon eine natürliche Ursache suchte. Ayrton that jedoch seinen Vermuthungen Einhalt, indem er erklärte, diese Staubwolke komme von einer auf dem Zuge befindlichen Heerde. Der Quartiermeister täuschte sich nicht; das dicke Gewölk kam näher; man vernahm ein Concert von Blöken, Wiehern und Brüllen. Menschenstimmen in der Form von Schreien, Pfeifen, Schelten vermischten sich mit dieser Pastoral-Symphonie. Ein Mann trat aus der lärmenden Masse hervor. Es war der Hauptanführer dieser vierfüßigen Armee. Glenarvan ging auf ihn zu, und es entspann sich ohne weiteres ein Gespräch. Der Führer oder »Stockeeper«, war Besitzer eines Theiles der Heerde. Er hieß Sam Machell und kam in der That aus den Provinzen im Osten, um sich nach der Bai Portland zu begeben. Seine Heerde bestand aus zwölftausendundfünfundsiebenzig Stück, nämlich tausend Ochsen, elftausend Schafen und fünfundsiebenzig Pferden. Alle diese Thiere, die in den Ebenen der Blauen Berge im magern Zustande angekauft worden waren, sollten auf den gesunden Weiden Südaustraliens fett gemacht und dann mit großem Vortheil verkauft werden; denn Sam Machell gewann dabei zwei Pfund Sterling am Ochsen und ein halbes Pfund Sterling am Schaf. Es war also ein bedeutendes Geschäft! Aber welche Geduld, welche Energie, welche Kraft zur Ertragung der Anstrengungen gehörte dazu, diese störrische Heerde an ihren Bestimmungsort zu führen!

Sam Machell erzählte in wenig Worten seine Geschichte, während die Heerde ihren Zug zwischen den Mimosengebüschen fortsetzte. Lady Helena, Mary Grant und die Reiter waren abgestiegen und hatten sich in den Schatten eines großen Gummibaumes gesetzt, wo sie der Erzählung des Stockeepers zuhörten. Sam Machell war seit sieben Monaten unterwegs. Er machte ungefähr zehn Meilen täglich, und seine endlose Reise mußte noch drei Monate dauern. Um ihm bei seiner mühseligen Aufgabe zu helfen, hatte er zwanzig Hunde und dreißig Männer bei sich, unter denen sich fünf Schwarze befanden, die sehr geschickt waren, abirrende Thiere wieder aufzusuchen. Sechs Wagen folgten dem Heere. Treiber mit stockwhipps, Peitschen mit achtzehn Zoll großen Stielen und neun Fuß langen Riemen, bewaffnet, machten die Runde, um die oft gestörte Ordnung wiederherzustellen, während die leichte Kavallerie der Hunde um die Flügel des Heeres streifte.

Die Reisenden bewunderten die in der Heerde herrschende Ordnung. Die verschiedenen Racen gingen gesondert, denn wilde Ochsen und Schafe vertragen sich ziemlich schlecht; die ersteren wollen niemals dort weiden, wo die letzteren gezogen waren. Deshalb war es nöthig, die Ochsen an die Spitze zu stellen, und diese, in zwei Bataillone getheilt, marschirten voran. Dann folgten fünf Regimenter Schafe, commandirt von zwanzig Führern, und die kleine Schwadron der Pferde bildete den Nachtrab.

Sam Machell machte seine Zuhörer darauf aufmerksam, daß die Leiter der Armee weder Hunde noch Männer seien, sondern Ochsen, kluge »Leitochsen«, deren Ueberlegenheit von ihren Stammesgenossen anerkannt wird. Sie wandelten mit größter Würde voran, instinktmäßig den besten Weg einschlagend, und sehr bewußt ihres Rechtes, rücksichtsvoll behandelt zu werden. Man schonte sie auch, denn die Herde folgte ihnen ohne Widerstand. Wenn es ihnen beliebte anzuhalten, musste man ihnen nachgeben, und vergeblich hätte man den Marsch fortsetzen wollen, wenn sie nicht das Zeichen zum Aufbruch gegeben. So lange das Heer in der Ebene einherzog, war es gut, da gab es wenig Verwirrung, wenig Strapazen. Die Tiere weideten auf dem Wege, tränkten sich an den zahlreichen Flüsschen der Weideplätze, schliefen des Nachts, wanderten am Tage und sammelten sich friedlich auf den Ruf der Hunde. Aber in den großen Wäldern des Festlandes, durch die Eucalyptus- und Mimosengebüsche hindurch, gab es schon mehr Schwierigkeiten. Schwadronen, Bataillone und Regimenter mischten sich durcheinander, oder kamen von einander ab, und man brauchte lange Zeit, sie wieder zusammenzutreiben. Wenn unglücklicherweise ein Leitochse sich verirrte, musste man ihn um jeden Preis wiederfinden, wollte man die Gefahr einer allgemeinen Unordnung vermeiden, und oft brauchten die Schwarzen mehrere Tage zu diesen schwierigen Nachforschungen. Wenn starker Regen fiel, so weigerten sich die trägen Tiere vorwärts zu gehen, und bei heftigen Gewittern bemächtigte sich eine Panik voll Verwirrung der vor Schrecken toll gewordenen Thiere.

Doch der Stockeeper überwand durch Willenskraft und Tätigkeit diese stets wiederkehrenden Schwierigkeiten. Er zog immer weiter Meile für Meile; ließ Ebenen, Wälder und Berge hinter sich. Aber neben so vielen vorzüglichen Fähigkeiten war der große Vorzug der Geduld erforderlich. Einer standhaften Geduld, nicht allein für Stunden, Tage, sondern für Wochen, bedurfte es beim Uebergang über Flüsse. Hier sah sich der Stockeeper von einem Gewässer, das nicht gerade zu tief war, gehemmt; ein Hinderniß entstand einzig durch den Eigensinn der Heerde, die sich weigerte, hinüber zu gehen. Die Ochsen, nachdem sie an dem Wasser geschlürft hatten, kehrten um. Die Schafe flohen nach allen Richtungen auseinander, um nicht dem nassen Elemente Trotz zu bieten. Man erwartete die Nacht, um die Truppe an den Fluß zurückzutreiben, es gelang nicht. Man warf die Böcke mit Gewalt hinein, die Schafe machten keine Miene, ihnen zu folgen. Man versuchte die Heerde durch Durst zu zwingen, indem man ihr mehrere Tage das Wasser vorenthielt; sie trank nicht und ging dennoch nicht vorwärts. Man trug die Lämmer an's andere Ufer, in der Hoffnung, daß die Mütter auf ihr Geschrei nachkommen würden; die Lämmer blökten und die Mütter rührten sich nicht am jenseitigen Ufer. Dies dauerte manchmal einen Monat, und der Stockeeper wußte nicht mehr was er mit seiner brüllenden, wiehernden, blökenden Armee machen sollte. Dann plötzlich, eines Tages, ohne Grund, aus Laune, man weiß nicht wie, durchschwimmt eine Abtheilung den Fluß, und jetzt entstand eine neue Schwierigkeit, die Heerde zu verhindern, sich in Unordnung hineinzustürzen. Die Verwirrung reißt in ihre Reihen ein, und viele Thiere kommen in den Stromschnellen um.

Solche Einzelheiten hatte Sam Machell mitzutheilen. Während seiner Erzählung war ein großer Theil seiner Heerde in guter Ordnung vorbeigezogen. Es war Zeit, daß er sich an die Spitze seines Heeres begab, um die besten Weideplätze auszuwählen. Er verabschiedete sich also von Lord Glenarvan, bestieg ein ausgezeichnetes eingeborenes Pferd, welches einer der Männer am Zügel gehalten hatte, und bot Allen mit herzlichen Händedrücken Lebewohl. Nach einigen Augenblicken war er in einer Staubwolke verschwunden.

Der Wagen setzte in entgegengesetzter Richtung seine kurze Zeit unterbrochene Fahrt fort und hielt erst Abends am Fuß des Talbotberges an.

Paganel machte die richtige Bemerkung, dass nun der 25. Dezember sei, das von den englischen Familien so sehr gefeierte Christfest. Der Steward hatte es nicht vergessen, und ein erquickendes, unter dem Zelt aufgetragenes Abendessen trug ihm die aufrichtigen Lobsprüche der Theilnehmer ein.

Man muß gestehen, Herr Olbinett hatte sich wirklich selbst übertroffen. Seine Vorratskammer hatte einen Beitrag europäischer Gerichte geliefert, welche man selten in den australischen Wüsten antrifft. Ein Renntierschinken, Stücke eingepökelten Rindfleisches, geräucherter Lachs, ein Hafer- und Gerstenkuchen, Tee nach Belieben, Branntwein im Ueberfluß, einige Flaschen Portwein machten dies stattliche Mahl aus. Man glaubte sich in den großen Speisesaal von Malcolm-Castle, mitten in den Hochlanden Schottlands versetzt. Gewiß, Nichts fehlte bei diesem Fest, von der Ingwersuppe an bis zur Fleischpastete des Desserts. Indes glaubte Paganel noch die Früchte eines wilden Orangenbaumes, der am Fuß des Hügels wuchs, hinzufügen zu müssen. Es war der »Maccaly« der Eingeborenen; seine Früchte waren ziemlich ungenießbar, aber seine zerdrückten Kerne brannten im Munde wie Cayennepfeffer.

Der Geograph war aus Liebe zur Wissenschaft darauf versessen, sie so gewissenhafter Weise zu essen, daß er sich den Gaumen verbrannte und nicht mehr auf die Fragen antworten konnte, mit denen ihn der Major über die Eigenthümlichkeiten der Wüsten Australiens bestürmte.

Am folgenden Tage, den 26. December, begab sich nichts Erzählenswerthes. Man traf auf die Quellen des Norton-Creek und später auf den halb eingetrockneten Mackenzie-Fluß. Das Wetter blieb anhaltend schön, bei erträglicher Hitze; der Wind kam aus Süden und erfrischte die Atmosphäre wie der Nordwind in der nördlichen Hemisphäre, worauf Paganel seinen Freund Robert Grant aufmerksam machte.

»Ein glücklicher Umstand,« fügte er hinzu, »denn die Hitze ist durchschnittlich in der südlichen Hemisphäre viel größer als in der nördlichen.«

»Und warum?« fragte der Knabe.

»Warum? Robert,« antwortete Paganel, »hast Du denn nie sagen hören, daß die Erde im Winter der Sonne viel näher ist?«

»Ja wohl, Herr Paganel.«

»Und daß die Winterkälte nur von den schrägen Sonnenstrahlen herrührt?«

»Gewiß.«

»Nun wohl, mein Junge, aus eben diesem Grunde ist es in der südlichen Hemisphäre wärmer.«

»Das verstehe ich nicht,« antwortete Robert mit verwunderten Blicken.

»Denke doch nach,« versetzte Paganel. »Wenn wir in Europa Winter haben, welche Jahreszeit herrscht dann hier in Australien, bei den Antipoden?«

»Der Sommer,« sagte Robert.

»Nun gut, weil genau zu dieser Zeit die Erde sich der Sonne nähert . . . begreifst Du?«

»Ich begreife . . .«

»So ist der Sommer der südlichen Himmelsstriche wärmer, in Folge der Nähe der Erde an die Sonne, als der Sommer der nördlichen Gegenden.«

»Wirklich, Herr Paganel.«

»Also, wenn man sagt, die Sonne steht der Erde ›im Winter‹ näher, so gilt dies nur für uns, die wir den nördlichen Theil der Erdkugel bewohnen.«

»Daran hatte ich nicht gedacht,« antwortete Robert.

»Und jetzt geh', mein Junge, und vergiß es nicht mehr.«

Robert nahm diese kleine kosmographische Lection gern an und lernte bald, daß die Temperatur der Provinz Victoria durchschnittlich 74 Grad Fahrenheit (+23,33° hunderttheilig) betrage.

Am Abend lagerte die Truppe fünf Meilen jenseits des Lonsdalesees, zwischen dem Drummont-Berg, der sich im Norden erhob, und dem Dryden, dessen mäßig hoher Gipfel sich am südlichen Horizont abzeichnete.

Am folgenden Morgen, um elf Uhr, erreichte der Wagen die Ufer der Wimerra auf dem hundertunddreiundvierzigsten Meridian.

Der eine halbe Meile breite Fluß floß in blauen Streifen zwischen zwei hohen Reihen von Gummi und Akazienbäumen. Einige prachtvolle Myrthenbäume reckten bis fünfzehn Fuß in die Höhe ihre langen, niederhängenden, mit rothen Blüthen verzierten Zweige. Tausende von Vögeln, Goldammern, Zeisigen, goldgeflügelte Tauben, der geschwätzigen Papageien nicht zu vergessen, flatterten in dem grünen Gezweig umher. Auf der Oberfläche des Wassers belustigten sich ein paar schwarze Schwäne, die so scheu waren, daß man ihnen nicht nahe kommen konnte. Dieser seltene Vogel der australischen Flüsse verlor sich bald bei den geschlängelten Krümmungen der Wimerra, welche launisch durch diese anmuthige Landschaft stoß. Indessen hielt der Wagen auf einem Rasenteppich, dessen Ränder auf das reißende Gewässer herabhingen. Es gab kein Floß, keine Brücke. Dennoch mußte man hinüber, und Ayrton ging, um zum Hinüberfahren eine Furth zu suchen. Eine Viertelmeile aufwärts schien ihm der Fluß weniger tief, und er beschloß, hier an's andere Ufer überzusetzen.

Verschiedenes Sondiren zeigte an, daß das Wasser nur drei Fuß hoch sei, deshalb konnte der Wagen es unternehmen, an dieser seichten Stelle ohne Gefahr hinüber zu fahren.

»Es giebt kein anderes Mittel über diesen Strom zu kommen?« fragte Glenarvan den Quartiermeister.

»Nein, Mylord,« antwortete Ayrton. »Mir scheint dieser Uebergang nicht gefährlich; so werden wir uns aus der Verlegenheit ziehen.«

»Sollen Lady Glenarvan und Miß Grant den Wagen verlassen?«

»Keineswegs. Meine Ochsen gehen sicher, und ich nehme es auf mich, sie auf dem richtigen Wege zu erhalten.«

»Dann vorwärts,« antwortete Glenarvan, »ich vertraue mich Ihnen an.«

Die Reiter umgaben das schwerfällige Gefährt, und man fuhr entschlossen in den Fluß hinein. Gewöhnlich werden die Wagen, wenn sie durch eine Furth gehen, mit einem Ring leerer Tonnen, die sie über dem Wasser erhalten, umgeben; hier fehlte aber dieser Schwimmgürtel. Man mußte sich deshalb den scharfen Sinnen der vom klugen Ayrton geführten Ochsen anvertrauen. Dieser leitete von seinem Sitze aus das Fuhrwerk; der Major und die beiden Matrosen durchschnitten den reißenden Strom einige Klaftern voraus; Glenarvan und John Mangles hielten sich zu beiden Seiten des Wagens, bereit den reisenden Damen zu Hilfe zu kommen. Paganel und Robert beschlossen die Reihe.

Alles ging gut bis in die Mitte der Wimerra. Dort war der Grund tiefer und das Wasser stieg bis über die Radspeichen. Die aus der Furth gedrängten Ochsen konnten den Boden verlieren und die schwankende Maschine mit sich reißen. Ayrton bewies muthige Hingebung; er stieg in's Wasser und es gelang ihm, an die Hörner der Ochsen geklammert, sie auf den rechten Weg zurückzubringen.

In diesem Augenblick erfolgte unversehens ein Ruck; es krachte und der Wagen neigte sich bedenklich auf die Seite; das Wasser drang an die Füße der Damen; der ganze Apparat kam aus dem Geleise, ungeachtet sich Glenarvan und John Mangles an die Wagenleitern anklammerten. Es war ein Moment höchster Angst. Glücklicherweise brachte ein heftiger Zug an der Halskette das Gefährt dem jenseitigen Ufer nahe. Die Füße der Ochsen und Pferde fanden unter sich einen aufwärts steigenden Bodengrund, und bald befanden sich Menschen und Thiere sicher am andern Ufer, sehr zufrieden, wenn auch durchnäßt.

Nur das Vordertheil des Wagens war von dem Stoß zerbrochen, und das Pferd Glenarvan's hatte die Vorderhufen verloren. Dieser Unfall erforderte eine sofortige Ausbesserung. Man sah sich ziemlich verlegen an, als Ayrton zuletzt vorschlug, bis an die Station Black-Point, zwanzig Meilen nördlich, zu gehen und von dort einen Hufschmied zu holen.

»Gehen Sie, gehen Sie, mein guter Ayrton,« sagte Glenarvan. »Wie viel Zeit brauchen Sie hin und zurück?«

»Fünfzehn Stunden vielleicht,« antwortete Ayrton, »mehr aber nicht.«

»Gehen Sie also, und in Erwartung Ihrer Rückkehr werden wir am Ufer der Wimerra lagern.«

Nach einigen Minuten verschwand der Quartiermeister auf dem Pferde Wilson's hinter dichtem Mimosengebüsch.

 


 << zurück weiter >>