Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant.Zweiter Band
Jules Verne

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Siebenzehntes Capitel.
Viehzüchter-Millionäre.

Nach einer unter 146°15' Länge ruhig verbrachten Nacht setzten die Reisenden, am 6. Januar um sieben Uhr Morgens, ihren Weg durch den weitausgedehnten District fort. Sie zogen immer gegen den Aufgang der Sonne und ihre Fußspuren bildeten auf der Ebene eine genau gerade Linie. Zweimal kreuzten sie die Spuren nach Norden ziehender Squatters, wodurch die hinterlassenen Eindrücke sich leicht verwirrt hätten, wenn nicht Glenarvan's Pferd die an zwei Kleeblättern erkennbare Marke von Black-Point dem Boden eingeprägt hätte.

Da und dort war das Land von launenhaften Uferflüßchen, mit Buchsbaum umgeben, durchzogen, deren Wasser bald versiegten. Sie verdanken ihren Ursprung den Gebirgsbächen aus den »Buffalos-Ranges«, einer Kette mittelhoher Berge, deren pittoreske Linie den Horizont begrenzte.

An einer solchen Stelle beschloß man zu übernachten. Ayrton trieb seine Bespannung an, und nach einem Tageszug von fünfunddreißig Meilen erreichten die Ochsen ziemlich ermüdet ihr Ziel. Unter großen Bäumen wurde das Zelt aufgeschlagen, und, da die Nacht schon hereinbrach, die Abendmahlzeit schnell abgemacht. Nach einer solchen Tagereise lag Jedem das Schlafen näher, als das Essen.

Paganel, der zuerst die Wache hatte, legte sich nicht nieder, sondern patrouillirte, das Gewehr auf der Schulter, hin und her, um sich des Schlafes besser zu erwehren.

Trotz mangelnden Mondscheins war die Nacht, Dank dem Glanze der Sternbilder Australiens, doch ziemlich hell. Der Gelehrte ergötzte sich, in diesem großen Buche des Firmamentes zu lesen, das immer offen und für Jeden, der es versteht, so überaus anziehend ist. Das tiefe Schweigen der schlummernden Natur wurde nur durch das Geräusch unterbrochen, welches die Spannketten an den Füßen der Pferde zeitweilig verursachten.

Paganel überließ sich ganz seinen astronomischen Betrachtungen und war weit mehr mit den Angelegenheiten des Himmelsgewölbes, als mit denen der Erde beschäftigt. Da drang aus der Entfernung ein Ton in sein Ohr, der ihn aus seinen Träumereien herauszog.

Er horchte aufmerksam und glaubte zu größter Verwunderung die Klänge eines Pianos zu vernehmen. Einige gebrochene langsame Accorde sandten ihre zitternden Schallwellen bis zu ihm hin. Es konnte keine Täuschung sein.

»Ein Piano in der Wüste!« sagte sich Paganel. »Das hätt' ich doch nimmermehr erwartet!«

Es war wirklich zu erstaunlich, und Paganel mochte lieber annehmen, daß ein fremdartiger Vogel Australiens hier die Töne eines Pleyel'schen oder Erard'schen Flügels nachahme.

In diesem Augenblicke aber vernahm man auch eine klangvolle Stimme. Der Pianist wurde von einem Sänger begleitet. Noch immer horchte Paganel voll Mißtrauen, bald aber mußte er die herrliche Melodie erkennen, die an sein Ohr schlug.

Es war Il mio tresoro tanto aus Don Juan.

»Potz Blitz!« dachte der Geograph, »so wunderbar auch die australischen Vogelarten sein mögen, nein, und wären es die musikalischsten Papageien der Welt, aber Mozart können sie doch nicht singen!«

Er hörte das herrliche Werk des Meisters bis zum Ende mit an. Die Wirkung dieser durch die helle Nacht tönenden reizenden Melodie war ganz unbeschreiblich. Lange genoß Paganel dieses unaussprechliche Vergnügen, dann schwieg die Stimme und rings war es wieder still, wie zuvor.

Als Wilson zur Ablösung Paganel's kam, fand er diesen in tiefes Träumen versunken. Paganel machte dem Matrosen keine Mittheilung; er behielt sich vor, Glenarvan am andern Morgen von dem Gehörten zu unterrichten, und verschwand unter dem Zelte.

Am andern Tage wurde die ganze Gesellschaft durch ein unerwartetes Gebell munter gemacht. Glenarvan erhob sich sogleich.

Zwei prächtige, hochfüßige »Pointers«, wahre Musterexemplare von englischen Vorstehhunden, sprangen am Saum eines kleinen Gehölzes hin und her. Bei der Annäherung der Reisenden wichen sie unter die Bäume zurück und verdoppelten ihr Bellen.

»Sicher ist hier eine Station in der Wüste,« sagte Glenarvan, »und auch Jäger müssen in der Nähe sein, denn das sind Jagdhunde.«

Schon öffnete Paganel den Mund, um von den Eindrücken der verflossenen Nacht zu berichten, als zwei jüngere Männer sichtbar wurden, welche zwei Racepferde von hoher Schönheit, ganz leibhaftige »Hunters« ritten.

Die beiden Gentlemen in eleganter Jagdkleidung machten beim Anblick der zigeunerartig gelagerten Gesellschaft Halt. Sie schienen sich zu fragen, was die Anwesenheit bewaffneter Männer in dieser Gegend bedeute, als sie auch die Damen bemerkten, welche eben den Wagen verließen.

Sofort stiegen sie von den Pferden und gingen, den Hut in der Hand, auf diese zu.

Lord Glenarvan schritt ihnen entgegen und nannte als Fremder zuerst seinen Namen und Stand. Die beiden jungen Herren verneigten sich, und Einer von ihnen, scheinbar der Aeltere, sprach:

»Mylord, würden diese Damen, Ihre Begleiter und Sie uns die Ehre erweisen, in unserer Behausung auszuruhen?«

»Meine Herren –?« sagte Glenarvan.

»Michel und Sandy Patterson, Eigenthümer der Hottam-Station. Sie befinden sich schon auf unseren Grundstücken, und haben nur eine Viertelmeile weit.«

»Meine Herren,« erwiderte Glenarvan, »ich möchte eine so zuvorkommend angebotene Gastfreundschaft nicht mißbrauchen . . .«

»Mylord,« nahm Michel Patterson wieder das Wort, »wenn Sie davon Gebrauch machen, so verpflichten Sie sich nur zwei arme Verbannte, die sehr glücklich sein würden, in ihrer Verlassenheit Ihnen ihre Honneurs machen zu dürfen.«

Glenarvan verneigte sich als Zeichen der Zustimmung.

»Mein Herr,« fragte da Paganel, der sich an Michel Patterson wandte, »darf ich mir die bescheidene Frage erlauben, ob Sie es waren, der in vergangener Nacht jenes himmlische Lied von Mozart sang?«

»Das war ich, mein Herr,« erwiderte der Gefragte, »und mein Bruder Sandy begleitete mich dabei.«

»So genehmigen Sie,« fuhr Paganel fort, »den aufrichtigsten Glückwunsch eines Franzosen, der ein leidenschaftlicher Bewunderer dieser Musik ist.«

Paganel bot dem jungen Gentleman die Hand, der sie liebenswürdig annahm. Dann zeigte Michel Patterson den rechtshin zu verfolgenden Weg. Die Pferde wurden der Fürsorge Ayrton's und der Matrosen anvertraut, die Reisenden aber begaben sich, von den beiden jungen Männern geleitet, plaudernd und bewundernd, zu Fuße nach dem Herrschaftshause der Hottam-Station.

Es war ein wirklich herrliches Besitzthum und mit der peinlichen Strenge altenglischer Parks in Ordnung gehalten. Unendliche, mit grauen Staketen umzäunte Wiesen erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Dort weideten Rinder zu Tausenden und Schafe zu Millionen. Viele Schäfer und noch mehr Hunde hüteten dieses lärmende Heer. Zu dem Gebrüll und Geblöke kam das Anschlagen der Doggen und das scharfe Knallen der Stockwips.

Nach Westen zu wurde der Blick durch einen Saum von Gummibäumen begrenzt, der bei siebentausendfünfhundert Fuß Höhe den Gipfel des Hottam-Berges krönte. Lange Alleen immergrüner Bäume strahlten nach allen Richtungen aus. Da und dort drängten sich dichtere Gehölze von »grass trees« zusammen, Sträuche von zehn Fuß Höhe, die der Zwergpalme ähnlich, aber ganz in ihren langen und schmalen Blättern versteckt waren. Die Luft erschien geschwängert von dem Dufte von Lorbeerbäumen, deren weiße Blumensträuße, die jetzt in voller Blüthe waren, die feinsten aromatischen Gerüche ausströmten.

Mit den Gruppen dieser prächtigen einheimischen Bäume vermählten sich die hierher verpflanzten Erzeugnisse europäischer Klimata. Der Pfirsich-, Birnen-, Apfel- und Feigenbaum, die Orange und selbst die Eiche wurden von den Hurrahs der Reisenden begrüßt, und wenn diese noch nicht genug erstaunt gewesen wären, in dem Schatten heimatlicher Bäume zu wandeln, so wurde ihre Verwunderung doch durch den Anblick der Vögel erregt, die in den Zweigen hüpften, der »Satin-birds«, mit seidenartigem Gefieder und der »Sericules«, die halb mit Gold, halb mit schwarzem Sammet geschmückt erschienen.

Unter Anderen war ihnen zum ersten Male Gelegenheit geboten, einen »Leierschwanz« zu bewundern, nämlich einen Lyravogel, dessen Schwanzfedern die Form von Orpheus' schönem Instrumente bilden. Er floh zwischen dem baumartigen Farrenkraut daher, und wenn sein Schwanz die Zweige berührte, war man fast erstaunt, die harmonischen Accorde Amphion's nicht zu hören.

Lord Glenarvan begnügte sich indeß nicht, die Märchenpracht dieser in der Wüste improvisirten Oase zu bewundern. Er lauschte auf den Bericht der jungen Gentlemen. In England, inmitten der civilisirten Gesellschaft, hätte der Ankömmling seinem Wirthe zuerst mitgetheilt, wo er herkomme und wohin er gehe. Hier glaubten in Folge eines gewissen feinen Gefühles Michel und Sandy Patterson die Pflicht zu haben, sich den Reisenden, denen sie ihre Gastfreundschaft anboten, möglichst bekannt zu geben. Sie erzählten demnach ihre Geschichte.

Es war die aller jungen, intelligenten und strebsamen Engländer, welche nicht in dem Glauben befangen sind, daß sie der Reichthum der Arbeit enthebe. Michel und Sandy Patterson waren die Söhne eines Londoner Banquiers. Als sie zwanzig Jahre alt waren, hatte das Familienhaupt zu ihnen gesagt: »Hier, Ihr jungen Leute, ist eine Million. Nun geht in eine entlegene Colonie, gründet Euch eine nützliche Beschäftigung und schöpft die Lebenserfahrung aus der Thätigkeit. Habt Ihr gute Erfolge, desto besser; schlägt es Euch fehl, so schadet das nicht viel. Wir werden die Millionen nicht beklagen, die dazu dienten, Euch zu Männern zu erziehen.« Die beiden jungen Leute gehorchten. Sie erwählten in Australien die Colonie Victoria, um die väterlichen Banknoten anzulegen, und hatten keine Ursache, es zu bereuen. Nach drei Jahren war ihr Etablissement in schönster Blüthe.

Man zählt in den Provinzen Victoria, Neu-Süd-Wales und Süd-Australien mehr als dreitausend Stationen, die einen bewirthschaftet von Squatters, welche Viehzucht betreiben, die anderen von Settlers, deren Hauptthätigkeit die Bodencultur bildet. Bis zur Ankunft der beiden jungen Engländer war das beträchtlichste Besitzthum dieser Art das eines gewissen Jamieson, welches einen Flächenraum von hundert Hectaren bedeckte, und in einer Länge von fünfundzwanzig Kilometern an den Paroo, einen der Zuflüsse des Darling, grenzte.

Jetzt überragte die Station Hottam jene an Flächengehalt und Geschäftsumfang. Die beiden jungen Leute waren gleichzeitig Squatters und Settlers. Sie verwalteten ihr ungeheures Besitzthum mit seltener Geschicklichkeit, und, was noch schwerer wiegt, mit ungewohnter Energie.

Man sieht leicht, daß diese Station weit entfernt lag von den Hauptstädten, mitten in der wenig besuchten Einöde des Murray. Sie reichte von 146°48' bis 147° der Länge, das heißt, das Terrain war fünf Stunden lang und breit, zwischen dem Buffalo-Ranges und dem Hottam. An den zwei nördlichen Winkeln dieses gewaltigen Vierecks erhoben sich zur Linken der Berg Aberdeen, zur Rechten die Gipfel des High-Barven. Es war auch an schönen und buchtenreichen Gewässern kein Mangel, Dank den Creeks und den Zuflüssen des Oven-Flusses, der sich im Norden in das Bett des Murray ergießt. So vereinten sich also gleichmäßig Viehzucht und Bodencultur. Zehntausend Acker Land, die bewundernswürdig eingetheilt und nutzbar gemacht waren, vereinten die heimischen Ernten mit exotischen Erzeugnissen, während mehrere Millionen Thiere sich auf den grünen Weideplätzen nährten. Die Producte der Hottam-Station wurden auch auf den Märkten von Castlemaine und Melbourne zu hohem Course notirt.

Michel und Sandy Patterson schlossen eben diese Mittheilungen über ihr gewerbfleißiges Leben, als am Ende einer Kasuarbaum-Allee das Wohnhaus derselben sichtbar wurde.

Es war ein niedliches, in Holz- und Rohziegelbau ausgeführtes Gebäude, das unter Emerophilisbosquets versteckt lag. In elegantem Schweizerstyl errichtet, umzog es eine mit chinesischen Lampions geschmückte Veranda, gleich einem Impluvium des Alterthums. Die Fenster schützten noch vielfarbige Marquisen, die selbst im Blühen begriffen schienen. Es läßt sich nichts Coquetteres, und dem Auge Wohltuenderes, aber auch nichts Comfortableres denken. Auf den Rasenplätzen und in den dichteren Pflanzengruppen der Umgebungen erhoben sich bronzene Candelaber mit geschmackvollen Laternen; bei einbrechender Nacht erstrahlte der ganze Park in weißem Gaslicht, das aus einem kleinen Gasometer, der unter Laubgängen von Myalls und baumartigem Gesträuche verdeckt lag, gespeist wurde.

Uebrigens sah man hier weder Gesindewohnungen, noch Ställe, oder Wagenschuppen, überhaupt Nichts, was an den Betrieb der Landwirtschaft erinnerte. Alle diese Dependenzen, – ein vollständiges Dorf, welches aus mehr denn zwanzig Hütten und Häusern bestand, – lagen in der Entfernung einer Viertelmeile in einem Thalgrunde. Elektrische Drähte vermittelten die augenblickliche Verbindung zwischen diesem Dörfchen und dem Herrenhause, welch' Letzteres fern von allem Geräusche unter exotischen Bäumen versteckt erschien.

Bald war die Allee durchschritten; über ein leicht hingeworfenes eisernes Brückchen von höchster Eleganz, unter dem ein munterer Bach plätscherte, gelangte man in die reservirte Parkabtheilung. Ein Aufseher von stattlichem Aussehen erschien vor den Reisenden; die Pforten des Hauses thaten sich auf und die Gäste der Hottam-Station traten in die kostbaren von Steinen und Blüthen verdeckten Räumlichkeiten ein.

Aller Luxus eines kunstliebenden und vornehmen Lebens bot sich ihren Augen. Eine mit decorativen Gegenständen von Turf- und Jagdgeräthen geschmückte Vorhalle führte in einen fünffenstrigen Salon. In diesem befanden sich ein Piano, auf welchem classische und moderne Musikstücke lagen; Staffeleien mit angefangenen Malereien; kleine Piedestale mit Marmorstatuen; an den Wänden einige Meisterwerke aus der Niederländischen Schule; reiche Teppiche, auf die der Fuß so sanft wie auf dichten Rasen trat; Tapeten mit zierlichen Episoden aus der Mythologie; an der Decke ein antiker Lustre; kostbare Fayencewaaren; tausenderlei schöne und geschmackvolle Nippgegenstände, die man in einer australischen Niederlassung nur mit höchstem Erstaunen sah, gaben ein vollkommen harmonisches Bild der Kunst und der Behaglichkeit. Alles, was zu gefallen, Alles, was die Langeweile eines freiwilligen Exils zu erheitern, Alles, was die Gedanken auf die Erinnerung europäischer Lebensgewohnheiten zu führen vermochte, war zur Ausstattung dieses feenhaften Salons verwendet, der den Besucher unwillkürlich in ein fürstliches Schloß von Frankreich oder England versetzte.

Die fünf Fenster ließen durch das feine Gewebe der Marquisen nur ein gedämpftes und schon durch den Halbschatten der Veranda gemildertes Tageslicht eindringen. Als Lady Helena sich diesen näherte, war sie ganz entzückt. Die Wohnung beherrschte von dieser Seite ein breites Thal, das sich bis zu dem Fuße der Berge im Osten erstreckte. Die Abwechselung von Wiesen und Wäldern, da und dort weite Lichtungen, die angenehm abgerundeten Hügel, und das Reliefbild des unebenen Erdbodens bot einen Anblick, der über jede Beschreibung ging. Keine andere Gegend der Welt möchte diesem Bilde zu vergleichen sein, selbst nicht das so berühmte Thal des Paradieses an den norwegischen Grenzen von Telemarken. Dieses ausgedehnte Panorama, in dem große lichtvolle und schattige Stellen abwechselten, änderte stündlich sein Aussehen, je nach Stellung der Sonne. Selbst die Phantasie konnte nichts Schöneres träumen, als diesen bezaubernden Anblick, der alle Wünsche des Auges befriedigte.

Inzwischen war auf Sandy Patterson's Anordnung von dem Küchenchef der Station schnell ein Frühstück hergerichtet worden, und kaum eine Viertelstunde nach ihrer Ankunft nahmen die Reisenden an einer verschwenderisch besetzten Tafel Platz. Ueber die Güte der Gerichte und der Weine war gar kein Wort zu verlieren; am meisten aber gefiel Allen, mitten unter dieser raffinirten Opulenz, die Freude der beiden jungen Squatters, welche ganz glücklich erschienen, unter ihrem Dache solche freigebige Gastlichkeit üben zu können.

Dabei wurde ihnen auch der Endzweck der Expedition bekannt gemacht, wobei sie den Nachforschungen Glenarvan's das lebhafteste Interesse widmeten. Auch den Kindern des Kapitäns flößten sie frohe Hoffnung ein.

»Harry Grant,« sagte Michel, »ist offenbar Eingeborenen in die Hände gefallen, da er in den Küstenansiedelungen nicht wieder aufgetaucht ist. Er kannte nach dem Zeugniß des Documentes seine örtliche Lage ganz genau, und wenn er da keine englische Colonie zu erreichen im Stande war, muß er in dem Augenblicke, wo er an's Land kam, von Wilden gefangen worden sein.«

»Genau dasselbe, was auch seinem Quartiermeister Ayrton widerfahren ist.«

»Aber Sie, meine Herren,« fragte Lady Helena, »Sie haben selbst nie von der Katastrophe der Britannia sprechen hören?«

»Niemals, Madame,« erwiderte Michel.

»Und welcher Behandlung ist Ihrer Ansicht nach der Kapitän Grant, als Gefangener der Australneger, wohl ausgesetzt?«

»Die Australier sind nicht gerade grausam, Madame,« entgegnete der junge Squatter, »und Miß Grant darf in dieser Hinsicht ganz beruhigt sein. Man erzählt sogar häufigere Beispiele von einer gewissen Milde ihres Charakters, und einige Europäer haben lange Zeit unter ihnen gelebt, ohne je Grund gehabt zu haben, sich über Brutalitäten zu beklagen.«

»Unter Anderen King,« warf Paganel ein, »der letzte Ueberlebende von Burke's Expedition.«

»Nicht dieser kühne Forscher allein,« fuhr Sandy fort, »auch ein englischer Soldat, Namens Buckley, der im Jahre 1803 an der Küste von Port-Philippe entwichen war, wurde von den Eingeborenen aufgefangen und lebte dreiunddreißig Jahre lang mit ihnen.«

»Und nach dieser Zeit,« fügte Michel Patterson hinzu, »meldet uns eine der letzten Nummern der ›Australian‹, daß ein gewisser Morin nach sechzehnjähriger Sklaverei in die Mitte seiner Landsleute zurückgekehrt ist. Die Geschichte des Kapitäns wird auch die Seinige sein, denn gleich nach dem Scheitern der Peruvienne, im Jahre 1846, wurde er von den Einheimischen gefangen und in das Innere abgeführt. Also glaube ich, daß Sie berechtigt sind, das Beste zu hoffen.«

Diese Worte erfreuten die Zuhörer des jungen Squatters auf's Höchste. Sie bekräftigten die schon von Paganel und Ayrton gemachten Angaben.

Nach aufgehobener Tafel sprach man von den Deportirten. Die Squatters kannten die Katastrophe an der Camden-Brücke, aber eine Bande entsprungener Verbrecher flößte ihnen keine Unruhe ein. Die Uebelthäter konnten keinen Angriff auf eine Station von über hundert Menschen wagen. Uebrigens war auch anzunehmen, daß sie sich gar nicht in den Einöden des Murray-Gebietes umhertrieben, wo sie nichts auszurichten vermochten, und auch nicht nahe den Colonien von Neu-Süd-Wales, wo die Wege sehr gut überwacht sind. Das war auch Ayrton's Ansicht.

Lord Glenarvan konnte seinen liebenswürdigen Wirthen nicht abschlagen, diesen Tag auf der Hottam-Station zuzubringen. Die zwölf Stunden Verzögerung wurden zu zwölf Stunden der Ruhe; die Pferde und Ochsen erholten sich zu ihrem Vortheil in den bequemen Stallungen der Station.

Die Sache galt als abgemacht und die beiden jungen Leute legten ihren Gästen für den Tag ein Programm vor, das mit eifriger Freude angenommen wurde.

Zu Mittag stampften sieben kräftige Jagdpferde den Boden vor der Thür des Hauses. Ein für die Dame bestimmter eleganter Break, mit glänzender Ausstattung, gab seinem Kutscher Gelegenheit, seine Geschicklichkeit in der regelrechten Handhabung des »four in hand«Englischer Ausdruck für ein Viergespann. zu beweisen. Die Reiter, denen Rüdenknechte vorausgingen, und die mit ausgezeichneten Jagdflinten bewaffnet waren, saßen auf und galopirten neben dem Kutschenschlage, während die Jagdhundmeute lustig in dem Holze bellte.

Vier Stunden lang bewegte sich der Reiterzug in den Alleen und Gängen dieses Riesenparks, der so groß wie ein deutscher Kleinstaat war. Reuß-Schleiz oder Sachsen-Koburg-Gotha hätten darin vollständig Platz gefunden. Wenn man darin weniger Einwohnern begegnete, so wog das die Anzahl der Schafheerden vollkommen auf. Was das Wild betrifft, so hätte auch eine ganze Armee von Treibern nicht mehr vor die Gewehre der Jäger bringen können. So entwickelte sich denn bald auf der ganzen Linie ein wahres Pelotonfeuer zum Schrecken für die friedlichen Bewohner der Wälder und Wiesen. An Major Mac Nabbs' Seite that der junge Robert wahre Wunder. Der kühne Knabe war trotz der Abmahnungen seiner Schwester immer weit voran und im dichtesten Feuer. John Mangles übernahm es aber, über ihn zu wachen, und Mary Grant beruhigte sich dabei.

Bei dieser Treibjagd wurden auch gewisse landeseigenthümliche Thiere, die Paganel bis jetzt nur dem Namen nach kannte, unter Anderen der »Wombat« und der »Bandicoot«, erlegt.

Der Wombat ist ein Pflanzenfresser, der sich einen Bau, ähnlich dem des Dachses, aushöhlt; er hat die Größe eines Schafes und giebt ausgezeichnetes Fleisch.

Der Bandicoot ist eine Art Beutelthier, das an List den Fuchs Europas übertrifft, und diesem in der Beraubung der Hühnerhöfe Unterricht ertheilen könnte. Dieses seinem Aeußern nach abschreckende, anderthalb Fuß lange Thier fiel von Paganel's Schuß, der es mit der Eigenliebe des Jägers ganz reizend fand. »Ein bewundernwerthes Thier«, sagte er.

Robert erlegte neben anderen tüchtigen Stücken Wild ein merkwürdiges Beutelthier, einer kleinen Fuchsart zugehörig, dessen schwarzes, weißgesprenkeltes Fell dem des Marders gleichsteht, und ein Opossumpärchen, welches sich in dem dichten Blätterwerk der großen Bäume versteckte.

Unter allen diesen Großthaten war indeß ohne Widerrede eine Kängurujagd das Interessanteste. Gegen vier Uhr trieben die Hunde eine Rotte dieser merkwürdigen Beutelthiere auf. Die Kleinen flüchteten eiligst in den Beutel der Mutter, und die ganze Gesellschaft entfloh in einer Reihe. Es giebt gar nichts Erstaunlicheres, als die enormen Sprünge des Känguru, dessen Hinterfüße zweimal länger als die Vorderfüße sind, und die es wie eine Feder aufschnellen.

An der Spitze der flüchtigen Truppe zog ein fünf Fuß hohes Thier, ein Prachtexemplar von »Macropus giganteus«, ein »Alter Mann«, in der Sprache der Bushmen.

Vier bis fünf Meilen weit wurde die Jagd unablässig fortgesetzt. Die Kängurus ermüdeten nicht, und die Hunde, welche nicht mit Unrecht ihre kräftige, mit einem spitzen Nagel bewehrte Tatze fürchten, bemühten sich nicht, ihnen näher zu kommen. Endlich hielt der Haufen, vom Laufen erschöpft, an, und der »Alte Mann« stützte sich, zur Abwehr bereit, gegen einen Baumstamm.

Einer der Jagdhunde, den sein Eifer zu weit trieb, stürzte bis zu ihm hin. Einen Augenblick später flog der arme Hund in die Luft und fiel mit aufgeschlitztem Bauche nieder.

Gewiß wäre die ganze Meute nicht mit dem mächtigen Beutelthiere fertig geworden. Man mußte also zu den Gewehren greifen, da nur die Kugeln allein jenes gigantische Thier überwinden konnten.

Ebendabei wäre Robert fast ein Opfer seiner Unvorsichtigkeit geworden. Um recht sicher zu schießen, näherte er sich dem Känguru so sehr, daß dieses mit einem mächtigen Satze auf ihn zusprang. Robert kam zum Fallen; man vernahm ein Jammergeschrei. Mary Grant streckte erschreckt, sprachlos, fast ohne sehen zu können, vom Break aus die Arme nach ihrem Bruder. Kein Jäger wagte auf das Thier zu schießen, da er den Knaben ebenso leicht treffen konnte.

Plötzlich aber stürzte sich, auf die Gefahr hin, selbst aufgeschlitzt zu werden, John Mangles mit offenem Jagdmesser auf das Thier und stieß es ihm in's Herz. Als dieser Feind abgethan war, konnte sich Robert, ohne Schaden genommen zu haben, erheben. Einen Augenblick darauf lag er in den Armen seiner Schwester.

 


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