Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Zweiter Band
Jules Verne

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XII. Sensationelle Mittheilungen für die »Tribune«

Harris T. Kymbale hatte sich, wie wir wissen, in Person im Telegraphenamte von Olympia eingefunden, ehe noch die Mittagsstunde des 18. Juni ins Meer der Vergessenheit gesunken war. Er befand sich also, wenn auch von Ermüdung gelähmt und moralisch und physisch erschöpft, auf seinem Posten. Sein Zustand konnte wohl niemand, im Hinblick auf die unvergleichliche Leistung der Berufsradfahrer Will Stanton und Robert Flock, wundernehmen. Fast bewußtlos auf eine Bank im Schalterraume zusammengebrochen, hatte er gerade noch »Hier!« antworten können, als der Beamte die Worte: »Ein Telegramm für Harris T. Kymbale« ausgesprochen hatte.

Nach wenigen Minuten, wo er, dank eines kräftigen Getränkes aus Whisky und Gin, wieder etwas zu sich gekommen war, riß er die Depesche auf und las:

»Chicago, 8 Uhr 13.

Kymbale, Olympia, Washington.

Neun, durch fünf und vier, Süddakota, Yankton.

Tornbrock.«

Die Auswürfelung hatte also am 18. stattgefunden, obgleich sie, da eigentlich Hermann Titbury an der Reihe gewesen wäre, jetzt hätte achtundvierzig Stunden früher vorgenommen werden können, weil ja Titbury in New Orleans sozusagen angenagelt war und dort die vorgeschriebene Zeit über ausharren mußte, und wo sich das würdige Paar zum Tagespreise von zweihundert Dollars im Excelsior Hotel über seine Lage hinwegzutäuschen suchte. Meister Tornbrock und mit ihm die Mitglieder des Excentric Club hatten es aber für richtiger gefunden, die Stichtage nicht zu verändern, um den jedem Partner zugestandenen Zeitraum, in dem er von dem einen im andern Felde angekommen sein sollte, nicht zu verkürzen, und das entsprach sicherlich auch der Absicht William J. Hypperbone's.

Der Hauptberichterstatter der »Tribune« hatte wahrlich keine Ursache, sich über den letzten Würfelfall zu beklagen. Er brauchte daraufhin nicht erst nach dem ihm allzubekannten Theile des Bundesgebietes zurückzukehren, sondern hatte auf dem Wege nach Süddakota, mindestens dreizehnhundert Meilen von Washington, eine ihm neue Gegend zu durchfahren.

Außerdem ist zu beachten, daß Harris T. Kymbale, indem er das neununddreißigste Feld in Besitz nahm, nur noch hinter X. K. Z. in Minnesota als dem ersten, hinter Max Real in Pennsylvanien als dem zweiten, und hinter Lissy Wag in Virginien als der dritten zurückstand. Er behauptete damit also den vierten Platz vor dem Commodore Urrican, der in Wisconsin auf seine Abreise wartete. Hermann Titbury war noch für achtundzwanzig Tage in Louisiana festgehalten und Tom Crabbe gar verurtheilt, sich im Gefängniß von Saint-Louis die Zeit zu vertreiben, und vielleicht bis zur Austragung des Matches, wenn kein andrer Partner ihn dort ablöste.

Harris T. Kymbale gewann also, man kann zwar nicht sagen, seine ganze Zuversicht auf den schließlichen Erfolg wieder, denn diese hatte er niemals verloren, er erwies sich aber weit lebhafter, und seine Parteigänger nicht weniger. Freilich lagen noch drei Steine des Anstoßes auf seinem Wege: das Labyrinth von Nebraska, durch welchen Staat er schon einmal gekommen war, das Gefängniß von St. Louis und das Thal des Todes. Von diesen drei Fährlichkeiten waren X. K. Z. nur durch eine, Lissy Wag und Max Real noch durch zwei bedroht. Im Match Hypperbone spielte ja aber der Zufall eine so hervorragende Rolle. Die beiden einzigen Augenzahlen, die der Reporter zu fürchten hatte, waren zwölf, wodurch er wieder hätte nach Nebraska gehen müssen, und zehn – verdoppelt – wodurch er gezwungen worden wäre, Tom Crabbe im Gefängniß von Missouri seine Ehrerbietung zu erweisen.

Obwohl er über vierzehn Tage, vom 18. Juni bis zum 2. Juli, verfügen konnte, sich nach Süddakota zu begeben, wollte Harris T. Kymbale doch keinen Tag verlieren. Ohne einen Reiseplan abzuwarten, den ihm der zuvorkommende Secretär der »Tribune«, Bruman S. Bickhorn, jedenfalls noch nach Olympia schickte, entwarf er seine Reiseroute, und zwar in befriedigendster Weise, diesmal ganz allein.

Das Gebiet von Süd- und auch das von Norddakota ist von dem Washingtons durch zwei Staaten, Idaho und Montana, getrennt. Jener Zeit war die Northern Pacificbahn für den Verkehr eröffnet worden. Auf dem Wege durch Wisconsin, Minnesota, Norddakota, Montana und Idaho setzte sie Chicago und folglich auch New York mit der Hauptstadt von Washington in Verbindung. Von Olympia bis Fargo an der Ostgrenze Norddakotas rechnet man etwa dreizehnhundert Meilen (2092 Kilometer) und vierhundert (643 Kilometer) von Fargo bis Yankton im Süden von Süddakota, zusammen also eine Entfernung von siebzehnhundert Meilen (2735 Kilometer).

Die Züge der amerikanischen Eisenbahnen legen nicht selten tausend Meilen in zweiunddreißig Stunden zurück, ja es giebt sogar einzelne, die dazu nur vierundzwanzig Stunden brauchen. Hier mußte man aber mit der Überschreitung der Felsenberge rechnen und die Möglichkeit starker Verspätungen im Auge behalten. Harris T. Kymbale würde übrigens Muße genug haben, in Yankton, in Erwartung der »Ziehung« vom 2. Juli, auszuruhen. Es war von ihm also ein verständiger Beschluß, Olympia gleich am nächsten Tage zu verlassen.

Ungefähr vierhundert Meilen trennen die Hauptstadt Washingtons von den ersten Abhängen der Felsenberge, und zweihundertfünfzig Meilen die westliche Seite des Gebirgstocks von der östlichen – was demnach etwas über sechshundert Meilen zwischen Olympia und Helena, der Hauptstadt von Montana, ergiebt. Durch diesen nördlichen Theil der Vereinigten Staaten und bis nach Chicago verläuft die Northern Pacific fast parallel – doch um sechs Grade weiter nördlich – mit dem Grand Trunk. Da der Reporter zur Fahrt nach Süddakota vierzehn Tage zur Verfügung hatte, mußte er in Yankton lange vor dem Eintreffen des Telegramms ankommen, das ihm – davon war er überzeugt – wieder eine gute Stellung in der Partie sichern würde. Jedenfalls bot die Northern Pacificbahn den Vortheil, ihn durch Idaho, Montana und Norddakota zu führen und der »Tribune« interessante Berichte zur großen Befriedigung ihrer Leser zu gewährleisten.

Von Olympia aus bewegte sich der Zug erst in nordöstlicher Richtung nach Tacoma zu und dann in südöstlicher Richtung weiter, wobei er Hotspring, Clealum, Ellensburg, Toppenish und Pace-Pasco berührte und hier den Columbia überschritt.

Harris T. Kymbale hielt sich meist auf dem Perron seines Wagens auf und betrachtete die herrliche Gegend, deren Landschaftsbilder – man könnte fast sagen – mit jedem Telegraphenpfahle wechselten und die überreich an tiefen Schluchten war, worin rauschende Creeks aus den Cascadebergen herunterstürzten. Nicht minder war er entzückt von der sich bietenden Aussicht, als der Zug im Süden vom Mount Stuart über den Columbiafluß gekommen war, der von Norden nach Süden bis zu einer scharfen Biegung verläuft, jenseit der er, die Südgrenze Washingtons bildend, endlich in den Stillen Ocean mündet.

Der große Fluß ist in diesem Theile seines Laufes wenig schiffbar, da er viele Stromschnellen, wie die von Buckland, Gualquil, Islands und Priest, enthält. Von dessen andrer Seite an durcheilt die Locomotive die große columbische Wüste zwischen dem Salt Lake und dem Silkatkwa Lake, die fast ohne jede Wasserader ist und die noch heute die Waggon-roads (Fahrstraßen) erkennen läßt, welche früher stark benutzt wurden, als die jetzt auf kleine umschlossene Gebiete beschränkten Indianersippen der Lochnasen, Aleneherzen und Puyallups hier in voller Ungebundenheit hausten.

Idaho, das zum Becken des Columbia gehört und sich im Norden an Canada lehnt, ist noch jetzt an Wäldern und Weidegründen fast ebenso reich wie früher, bevor seine Placers (Goldfundstätten) ausgebeutet wurden. Sein Regierungssitz, Boise City am gleichnamigen Flusse, hat nur zweitausenddreihundert Seelen, und seine Hauptstadt, Idaho City, an dem Nebenflusse Snake, beherrscht durch ihren Handel und Verkehr den ganzen südlichen Theil des Staatsgebietes. Hier bilden Chinesen einen starken Bruchtheil der Bevölkerung, und neben diesen Mormonen, denen man actives Wahlrecht nicht zugesteht, so lange sie nicht eidlich versichern, auf Bigamie und Polygamie gänzlich verzichtet zu haben.

Jenseits von Idaho, in Montana mit seinen unbeschreiblich schönen Gegenden in den Felsenbergen, erfreute sich Harris T. Kymbale wiederum an den herrlichen Aussichten, trotzdem er durch die Naturschönheiten der Sierras von Neumexiko und Washington von solchen fast übersättigt sein mußte. Zwischen den Thälern und Schluchten dieses Gebietes, dem nur Meridian und Parallelkreis als geodätische Grenzen dienen, strömen Tausende von Rios, Creeks und wirklichen Flüssen nach Norden hin ab und Gewässern die umfänglichen, für Viehzucht besonders geeigneten Weidegründe des Landes. Die Viehzucht bildet neben dem Bergbau auch den Hauptreichthum Montanas, denn zum Ackerbau ist sein Klima schon zu rauh. Außerhalb der Bergregion gelegen, hat es noch mehrere, ziemlich bedeutende und von der Northern Pacific berührte Städte, wie Missoula, Helena und Butte, alle drei inmitten eines Erzgebietes, wo sehr viel Gold, Silber und Kupfer gewonnen wird.

Nach Ueberschreitung des Charles Forke River und nachdem die spitzen, wiederum von den Eagle Peaks überragten Gipfel des Wießner und des Stevens passiert waren, zog sich die Bahnlinie nach Helena, der Hauptstadt von Montana, hin.

Hier befand man sich in wilder Berggegend, und es bedurfte der den Amerikanern eignen Kühnheit, diese mit einem Schienenstrang zu überziehen. Im nördlichen Theile des Gebietes stellten sich dem weit größere Schwierigkeiten entgegen als da, wo, vierhundert Meilen südlicher, die Union Pacificbahn erbaut worden war. Da Harris T. Kymbale diese zweite bereits auf dem Wege von Omaha nach Sacramento befahren hatte, war es ihm leicht, jetzt Vergleiche zwischen beiden anzustellen.

Leider war das Wetter nicht schön und der Himmel sah recht drohend aus. Seit vierundzwanzig Stunden hatte die elektrische Spannung in der Atmosphäre ununterbrochen zugenommen. Schwere Gewitterwolken zogen vom Horizonte herauf, und Harris T. Kymbale konnte hier der Entwickelung eines jener mächtigen Meteore beiwohnen, die in Gebirgsgegenden besonders großartig auftreten.

Das Gewitter schwoll bald zu erschreckender Heftigkeit an, zu einem jener »Blizzards«, die die Menschen in ihre Häuser geradezu einsperren. Auch die Reisenden wurden etwas unruhig, obwohl Eisenbahnzüge, selbst in voller Bewegung, wenig gefährdet erscheinen, da das elektrische Fluidum durch die Schienen gut abgeleitet wird. Die Häufigkeit der Blitze, die einander von Secunde zu Secunde folgten, der knatternde Donner, der in endlosem Rollen wiederhallte, die Blitzschläge, die Felsen und Bäume längs der Bahnlinie trafen, die in Lawinen herabpolternden losgelösten Stein- und Erdmassen, das Entsetzen der Thiere, der Büffel, Antilopen, schwarzen Bären und des Damwildes . . . alles das bot den Reisenden am Nachmittage des 20. ein gewiß unvergeßliches Schauspiel.

Damit bekam der Berichterstatter der »Tribune« nicht nur Gelegenheit, seinem Blatte mehrere hochinteressante Artikel zuzusenden, sondern auch noch eine ganz eigenartige, die Thierwelt der Felsengebirge betreffende Entdeckung mitzutheilen.

Gegen fünf Uhr und im tollsten Gewitter keuchte der Zug langsam eine sehr starke Steigung hinauf. Harris T. Kymbale war auf dem Perron stehen geblieben, während seine Reisegefährten auf den Polsterbänken im Waggon saßen. Da bemerkte er einen prächtigen Bären, einen Grizzly mit schwarzem Fell, der auf den Hintertatzen längs der Bahn hintrottete, doch durch den Kampf der Elemente, der ja auf die Thiere stets einen lebhaften Eindruck macht, geängstigt zu sein schien. Und siehe da, geblendet von einem Blitze, erhebt der Plantigrade (Plattfüßler) die rechte Tatze bis zur Stirn, um sich regelrecht zu bekreuzen.

»Ein Bär, der das Zeichen des Kreuzes macht!« rief Harris T. Kymbale. »Das ist doch nicht möglich! . . . Ich muß wohl falsch gesehen haben! . . .«

Nein, er hatte richtig gesehen, und wiederholt bekreuzigte sich der zottige Grizzly, wenn ihn ein heller Blitz erschreckte.

Nach Erreichung des Rückens der Steigung, rollte der Zug schneller weiter und ließ den Bären bald hinter sich zurück.

Sofort holte der Reporter sein Notizbuch heraus.

»Grizzly,« schrieb er hinein, »neue Art der Plantigraden. Macht während eines Gewitters das Zeichen des Kreuzes. Unter der Fauna der Felsengebirge als ›Ursus Christianus‹ zu bezeichnen.«

Diese Notiz enthielt dann der Brief, der am nächsten Tage von Helena an die Redaction der »Tribune« abging.

Nachdem die Locomotive noch an den Stationen Missoula, Bonita, Drummond und Garrison gehalten und einen langen Tunnel unter dem Rücken des Mullan passiert hatte, lief sie am Morgen des 21. in den Bahnhof von Helena ein.

Diese auf der Ostseite der Felsenberge in der Höhe von tausend Toisen und an einem zum Missouri abfließenden Bergstrome gelegene Stadt bildet einen bedeutenden Niederlagsplatz für die Grubenproducte der Umgegend und zählt vierzehn- bis fünfzehntausend Bewohner. Der Zug der Northern Pacific hielt hier nur wenige Stunden und rollte nach den vom Bette des Yellowstone und seiner zahlreichen Nebenflüsse durchschnittenen Ebenen hinunter.

In dieser Gegend hausten früher die Sippen der Flachköpfe, der Schwarzfüße, der Raben, Cheyennen, Modocs und Assiniboinen, die jetzt in verschiedene Enclaven zurückgedrängt sind, über deren Nachbarschaft sich die weiße Bevölkerung freilich nicht wenig beklagt.

Nachdem der Zug sich über Loqart und Bozeman nach Südosten gewendet hatte, gelangte er bei Livingstone an den Yellowstone River, weiterhin nach mehreren Stationen, wie Lauri, mit einer Zweigbahn nach dem Nationalparke, Howard und Miles City, und ging dann von Montana nach Norddakota über und weiterhin nach der auf dem vierundsiebzigsten Längengrade liegenden Stadt Beach.

Die Northern Pacificbahn durchzieht Norddakota auf ungeheuern, in der Nachbarschaft der Heart Buttes und jenseit des Fort Lincoln etwas erhöht liegenden Ebenen. Schließlich erreicht sie den Missouri bei Edwinton, der Hauptstadt des Staates, der die zahlreiche deutsche Bevölkerung mit Vorliebe den Namen Bismarckstadt beilegt.

Von der Station Jamestown aus hätte Harris T. Kymbale nun eine direct nach Yankton führende Nebenbahn benutzen können. Es erschien ihm aber angenehmer, über Valley City, Oriska und Cassilton bis Fargo zu fahren, wo er am Morgen des 23. an der Westgrenze von Minnesota eintraf.

Hier, nahe der Grenze dieses Staates, befand sich augenblicklich, nach dem Auswürfeln am 10., der geheimnisvolle X. K. Z., der in der Hauptstadt Saint-Paul ruhig erwartete, daß ihn die »Ziehung« vom 24. . . . ja nach welchem Felde? . . . weisen würde. Jedenfalls in die Nähe des Ziels, wenn nicht gar an das Ziel selbst, was den Berichterstatter der »Tribune« trotz seiner Zuversicht doch schon im voraus unruhig machte.

Das von Minnesota 1861 abgetrennte Dakota zerfällt in zwei ziemlich gleichgroße Vierecke, deren eines südlich von dem andern liegt. Das sehr hochgelegene, doch wenig bergige Land unterscheidet sich wesentlich von seinem westlichen Nachbar. Seine weiße Bevölkerung hat sich der Mehrzahl nach in den südöstlichen Theil gezogen, wo sich der vorzügliche Boden zum Anbau von Tabak, Mais, Hafer und Gemüsen eignet, während der Norden von zahlreichen Binnenseen und Teichen durchsetzt ist. Der Missouri strömt in schräger Richtung hindurch bis jenseit Yanktons, von wo aus er sich nach Omaha hinunter wendet, während der Rothe Fluß die östliche Landesgrenze nach Minnesota zu bildet.Dieser Fluß trägt denselben Namen wie der Nebenfluß des Untern Mississippi, der schon früher erwähnt wurde.

Die Eisenbahn, die sich in Fargo gabelt, folgt eine Strecke weit diesem Flusse und führt nach Yankton, dem früheren Regierungssitz von Süddakota, den jetzt Pierre City bildet, durch dessen centrale Lage sich dieses den Verwaltungsgrundsätzen der Union gemäß mehr empfahl.

Ohne sich zu erkennen zu geben, verweilte Harris T. Kymbale in Fargo den ganzen Tag. Vielleicht hätte er, seiner touristischen Neigung folgend, einige Flecken am linken Ufer des Rothen Flusses und die ihnen gegenüberliegenden am rechten Ufer besucht, daran hinderte ihn aber ein ganz unerwarteter Zwischenfall.

Während er am Nachmittage in der Umgebung der kleinen Stadt lustwandelte, trat plötzlich ein Mann an ihn heran. Es war offenbar ein Amerikaner von etwa fünfzig Jahren und mittlerer Größe, der eine gebogene Nase, kleine blinzelnde Augen und im Ganzen ein wenig anziehendes Aeußere hatte.

»Mein Herr,« begann der Mann, »wenn ich nicht irre, habe ich Sie aus dem Zuge der Northern Pacific aussteigen sehen . . .«

»Das stimmt, mein Herr,« bestätigte Harris T. Kymbale.

»Mein Name ist Hoggarth,« stellte sich das Individuum vor. »Len Hoggarth, Len William Hoggarth.«

»Nun, Herr Len William Hoggarth, bitte, was wünschen Sie von mir?«

»Sie wollen sich jedenfalls nach Yankton begeben?« fragte der Mann weiter.

»Ganz recht . . . nach Yankton.«

»So erlauben Sie, Ihnen meine Dienste anzubieten . . .«

»Ihre Dienste? . . . Wie soll ich das verstehen?«

»Gestatten Sie mir vor allem eine einfache Frage, geehrter Herr. Sie sind allein hierher gekommen? . . .«

»Allein?« fragte der Reporter etwas verwundert . . . »Allerdings . . . allein!«

»Ihre Frau Gemahlin ist nicht mitgekommen? . . .«

»Meine Frau? . . .«

»Nun . . . es läßt sich auch dann machen. Hier ist deren Anwesenheit nicht nothwendig, um eine Scheidung zu erreichen.«

»Eine Scheidung? . . . Sie meinen eine Ehescheidung, Herr Hoggarth?«

»Gewiß; ich erledige alle nöthigen Formalitäten für Ihre Scheidung.«

»Aber um sich scheiden zu lassen, muß man doch verheiratet sein, und Sie dürfen getrost glauben, daß diese Voraussetzung bei mir nicht zutrifft.«

»Wie? Sie sind gar nicht verheiratet und gehen doch nach Yankton?« rief Len Hogarth, der sich vor Erstaunen gar nicht fassen zu können schien.

»Nun sagen Sie mir, was sind Sie denn eigentlich, Herr Hoggarth?«

»Ich bin Zutreiber für Ehescheidungen und Zeuge bei solchen.«

»Dann bedaur' ich . . .« antwortete Harris T. Kymbale, »doch Ihre Dienste würden mir nicht nützen können.«

Der Reporter hätte sich über das Anerbieten des »ehrenwerthen« Len William Hoggarth übrigens gar nicht zu wundern brauchen. Wenn in Illinois Ehescheidungen schon etwas so Gewöhnliches sind, daß man den Reisenden zurufen kann: »Chicago, zehn Minuten Aufenthalt, Zeit genug, sich scheiden zu lassen!« so ist dort die Trennung einer Ehe doch noch von gewissen Bedingungen abhängig. In Süddakota aber verläuft die Sache ganz anders. Dieses ist vor allen das Land der Scheidungen und es bedarf hier nur der Bestätigung durch einen Zeugen, daß man daselbst sechs Monate wohnhaft gewesen sei, so kann man alle Erleichterungen bei einem solchen Schritte beanspruchen.

Dadurch entstand der Beruf des Zutreibers und Zeugen vor dem Manne des Gesetzes und für ihn. Diese Leute spüren die Clienten auf, zeugen zu ihren Gunsten, beschaffen für sie Stellvertreter, wenn sie nicht selbst erscheinen wollen und es vorziehen, die Sache durch Procuration abzumachen . . . kurz, sie sorgen für alle möglichen Erleichterungen. Uebrigens ist es mehr der Flecken Sioux Falls als Yankton selbst, der in dieser Hinsicht den Record hält.

»O mein Herr,« erwiderte auf jene letzten Worte Herr Hoggarth ausnehmend höflich, »ich bedaure unendlich, daß Sie nicht verheiratet sind!«

»Ich ebenfalls,« antwortete Harris T. Kymbale, »da ich hier eine so schöne Gelegenheit gehabt hätte, das Ehejoch wieder abzuschütteln.«

»Da Sie aber nach Yankton gehen, versäumen Sie ja nicht, sich dort vor drei Uhr einzufinden, um einem dann stattfindenden großen Meeting beizuwohnen.«

»Einem Meeting . . . zu welchem Zwecke?«

»Es handelt sich darum, die gesetzlich vorgeschriebene Aufenthaltsdauer auf drei Monate zu verkürzen, wie in Oklohama, das uns eine recht schlimme Concurrenz macht. Das Meeting wird der ehrenwerthe Herr Heldreth leiten.«

»Wirklich . . . Herr Hoggarth? . . . Wer ist denn dieser Herr Heldreth?«

»Ein hochachtbarer Kaufmann, der sich schon siebzehnmal hat scheiden lassen, und man raunt sich zu, es werde auch noch öfter geschehen.«

»Herr Hoggarth, ich werde nicht verfehlen, rechtzeitig in Yankton zu sein.«

»Ich verlasse Sie also, mein Herr, und halte mich für die Zukunft zu Ihrer Verfügung.«

»Sehr schön, Herr Hoggarth, auch ich werde ein so verbindliches Angebot nicht vergessen.«

»Ja, man weiß doch nicht, was noch geschehen kann . . .«

»Gewiß nicht, Herr Hoggarth!« antwortete Harris T. Kymbale.

Damit verabschiedete er sich von dem Zeugen und gleichzeitigem Zutreiber für die Rechtsanwälte Dakotas.

Jetzt verlangte es ihn nur noch zu erfahren, ob das von dem »hochachtbaren« Herrn Heldreth geleitete Meeting sich für die unschätzbaren Erleichterungen, deren sich Oklohama erfreute, entscheiden und damit auch Erfolg haben werde.

Am nächsten Tage, am 24., um sechs Uhr des Morgens bestieg der Hauptberichterstatter der »Tribune« den Zug, der nach Süddakota abging.

Zwischen den beiden Staaten spannt sich ein sehr verwickeltes Netz von Schienenstraßen aus. Da es von Fargo bis Yankton aber nur zweihundertfünfzig Meilen weit ist, durfte Harris T. Kymbale jedenfalls darauf rechnen, vor der für das Meeting angesetzten Stunde in letzterer Stadt einzutreffen.

Zum Glück war die letzte Theilstrecke der Bahn zwischen der Station Medary und Sioux Falls eben fertig geworden und wurde heute dem Verkehr übergeben. Harris T. Kymbale sah sich infolgedessen nicht genöthigt, einen Theil des Weges zu Wagen oder zu Pferde zurückzulegen, wie bei seiner Reise nach Neumexiko und in Kalifornien.

Er überschritt also die nur gedachte Grenze zwischen beiden Staaten, und es war elf Uhr, als er, nachdem der Zug nahe dem kleinen Flecken Medary am Ufer des Big Sioux River zum Stehen gekommen war, alle Passagiere aussteigen sah.

Da wendete er sich an einen auf dem Bahnsteige dienstthuenden Beamten.

»Bleibt der Zug hier stehen?« fragte er.

»Ja, er geht nicht weiter,« belehrte ihn der Beamte.

»Wird denn die Strecke zwischen Medary und Sioux Falls City nicht heute eröffnet?«

»Nein, mein Herr!«

»Wann denn?«

»Morgen.«

Das paßte Harris T. Kymbale freilich gar nicht, denn jene beiden Stationen liegen gegen sechzig Meilen von einander, und wenn er einen Wagen miethete, kam er doch zu spät, um das Meeting unter dem Vorsitze des Herrn Heldreth zu besuchen.

Da bemerkte er auf dem Bahnhofe von Medary einen Zug, der zum Ablaufen in der Richtung nach Yankton bereit zu stehen schien.

»Nun . . . und der Zug dort?« fragte er.

»O, dieser Zug . . .« antwortete der Beamte in ganz eigentümlichem Tone.

»Wird der nicht abgehen?«

»Ja wohl . . . zwölf Uhr dreizehn.«

»Nach Yankton?«

»O . . . Yankton!« erwiderte der Beamte achselzuckend.

In demselben Augenblicke wurde der Mann aber vom Bahnhofsvorsteher abgerufen und konnte Harris T. Kymbale also keine weitere Aufklärung geben.

Uebrigens war das gar kein Personenzug, sondern er bestand nur aus zwei Gepäckwagen hinter einer Locomotive, die schon volle Dampfspannung zu haben schien.

»Meiner Treu,« sagte Harris T. Kymbale für sich, »das kommt mir gelegen, da die Strecke erst morgen eröffnet werden soll. Ein Güterzug . . . meinetwegen, wenn ich damit nur von Medary bis nach Sioux Falls komme. Kann ich mich in einen der Güterwagen unbemerkt einschleichen, so werde ich mich bei der Ankunft schon über die Sache erklären . . .«

Der vertrauensselige Reporter bezweifelte gar nicht, daß man seine Erklärungen mit großer Zuvorkommenheit aufnehmen werde, wenn er sich unter Angabe seines Namens und Standes als einer der berühmten Partner des Match Hypperbone entpuppte und sich erbot, den Fahrpreis für die reglementswidrige Beförderung zu erlegen.

Harris T. Kymbale's Absicht wurde nicht wenig dadurch begünstigt, daß der Bahnhof von Medary jetzt fast menschenleer war. Alle Reisenden schienen es eilig gehabt zu haben, ihn zu verlassen. Auf dem Perron befand sich nur ein einziger Beamter, und blos der Maschinenführer und Heizer schaufelten ruhig große Mengen von Steinkohle in die Feuerbüchse der Locomotive.

Ohne bemerkt zu werden, konnte Harris T. Kymbale in den zweiten Güterwagen schlüpfen und sich in Erwartung der Abfahrt in einer Ecke verbergen.

Um zwölf Uhr dreizehn setzte sich der Zug mit einem sehr starken Ruck in Bewegung.

Zehn Minuten lang rollte der Zug immer an Geschwindigkeit zunehmend dahin und erlangte schließlich eine wahrhaft unheimliche Schnelligkeit.

Merkwürdigerweise gab der Locomotivführer beim Passieren von Stationen nicht einmal ein Signal mit der Dampfpfeife.

Harris T. Kymbale erhob sich und guckte vorsichtig durch ein kleines Fenster hinaus.

Auf der Locomotive, die mächtige Rauch- und Dampfwolken ausstieß, sah er weder Führer noch Heizer.

»Was hat denn das zu bedeuten? fragte er sich. Sollten beide gar heruntergestürzt sein . . . oder wäre die verwünschte Locomotive wie ein Pferd aus dem Stalle allein davongelaufen?«

Plötzlich stieß der Reporter einen Schreckensruf aus.

Auf dem nämlichen Geleise brauste, jetzt kaum noch eine Viertelmeile entfernt, ein andrer Zug mit gleicher entsetzlicher Schnelligkeit heran . . .

Wenige Secunden später erfolgte ein fürchterlicher Zusammenstoß. Die beiden Locomotiven hatten sich mit unbeschreiblicher Gewalt ineinander eingekeilt, die Güterwagen waren zertrümmert, und sofort trat auch noch eine grauenerregende Explosion ein, die die Reste der beiden Dampfkessel in alle Winde verstreute.

Das Krachen dieser Explosion begleiteten aber tausendstimmige Hipps und Hurrahs einer Menge von Personen, die zu beiden Seiten der Bahnlinie, doch in genügender Entfernung standen, um durch den furchtbaren Zusammenstoß nicht gefährdet zu werden.

Es waren Neugierige, die sich das auf ihre Kosten veranstaltete Schauspiel des Zusammenprallens zweier in vollster Schnelligkeit dahinsausender Bahnzüge geleistet hatten . . . gewiß eine echt amerikanische Unterhaltung!

Auf diese Weise also wurde die Theilstrecke der Bahnlinie zwischen Medary und Sioux Falls City, dem amerikanischen Ehescheidungsparadiese, mit einem Knalleffekt ohnegleichen eingeweiht.

 


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