Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Zweiter Band
Jules Verne

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V. Die Höhlen von Kentucky

Am 26. Mai war Lissy Wag auf dem Markte von Chicago – und die andern Plätze folgten diesem nach – sehr lebhaft »gefragt« und stieg im Curs sogar bis auf drei gegen sieben. Kam anfänglich keine Hausse zu ihren Gunsten zum Durchbruch, so lag das an der vielfach verbreiteten Befürchtung, daß ein junges Mädchen nicht hinlängliche Ausdauer besitzen werde, die Beschwerden der einander schnell folgenden Ortsveränderungen auszuhalten, und überdies verminderte ihre Erkrankung noch das wenige Zutrauen, das sie den Leuten einflößte.

Zur Zeit ließ die Gesundheit der fünften Partnerin indeß nichts zu wünschen übrig. Außerdem war der zweite Wurf von sechs Augen, die doppelt zu rechnen waren und womit sie nach Kentucky gewiesen wurde, für sie recht günstig gewesen. Einerseits belief sich die Fahrt dahin nur auf wenige hundert Meilen, und andrerseits nahm Kentucky auf der Karte das achtunddreißigste Feld ein. Lissy Wag hatte in zwei Sprüngen also mehr als die Hälfte der dreiundsechzig Felder überschritten. Es wird darum niemand wundernehmen, daß Jovita Foley triumphierend die ihrer Freundin zugetheilte gelbe Flagge schwenkte und daß sie diese schon auf den Millionen William J. Hypperbone's aufgepflanzt sah.

Angenommen, daß Lissy Wag sich dafür interessierte, was man sich von ihren Aussichten versprach, für die Sinnesänderung, die ihr die Gunst der großen Menge zugewendet hatte, so hätte sie wenigstens seit ihrer vorübergehenden Rückkehr nach Chicago nicht wenig stolz sein können.

Bekanntlich hatten Lissy Wag und Jovita Foley sich am 23. beeilt, aus Milwaukee wegzukommen, um da nicht mit dem geheimnisvollen X. K. Z. zusammenzutreffen, was sie ja genöthigt hätte, erstens den einfachen Einsatz zu erlegen und zweitens, ihren Platz dem siebenten Partner abzutreten, selbst aber die Partie von vorn anzufangen.

Die beiden Freundinnen trafen nämlich in der Hauptstadt von Illinois in blühendster Gesundheit ein, und da ihre Rückkehr von den Tageszeitungen gleich gemeldet worden war, stellten sich sofort auch einige Reporter in dem Hause der Sheridan Street ein.

Die Folge dieses Besuches war, daß der »Chicago Herald« noch am nämlichen Abend ein Interview veröffentlichte, aus dem hervorging, daß die zwei jungen Mädchen sich »in bester Form« befanden, denn jetzt verstand man meist beide unter der gelben Flagge, eine Anschauung, die der kleinen Närrin Jovita Foley natürlich nicht wenig gefiel. Trotz des Drängens Jovitas blieben sie volle fünf Tage in Chicago. Es wäre ja nutzlos gewesen, viele Hôtelausgaben zu machen, und erschien jedenfalls richtiger, im eignen Hause zu verweilen. Ja es wäre sogar am klügsten gewesen, ebenda bis zu dem Tage vorher zu warten, wo das Telegramm des Meister Tornbrock in Kentucky eintreffen sollte. Am 27. konnte sich Jovita Foley aber nicht mehr halten.

»Wann reisen wir denn ab?« fragte sie erregt.

»O, wir haben ja Zeit genug,« antwortete Lissy Wag. »Bedenke doch, Zeit bis zum 6. Juni, und heut ist erst der 27. Mai. Das sind volle zehn Tage, und Du weißt doch, daß man nach Kentucky in vierundzwanzig Stunden kommen kann.«

»Ja freilich, Lissy. Wir haben uns aber nicht allein nach Kentucky zu begeben, auch nicht nach seiner Hauptstadt Frankfort, sondern nach den Mammuthhöhlen, einem der Wunder der Vereinigten Staaten und vielleicht aller fünf Erdtheile. Welch schöne Gelegenheit, diese Grotten zu besuchen, und welch ein herrlicher Gedanke des wackern Herrn Hypperbone, uns dahin zu schicken . . .«

»Das hat er nicht gethan, Jovita, sondern die Würfel mit ihren als zwölf geltenden Augen . . .«

»Ich bitte Dich . . . er wär' es also nicht gewesen, der die Mammuthhöhlen im Staate Kentucky ausgewählt hat? Ich würde ihm dafür Dank wissen, mein Leben lang, und auch so lange er immer leben möchte, wenn er nicht schon im Oakswoods-Friedhofe schlummerte! Freilich, wäre er nicht in der andern Welt, so könnten wir jetzt nicht um seine Hinterlassenschaft wettlaufen. Doch nochmals, wann reisen wir ab?«

»Sobald Du willst . . .«

»Also . . . morgen früh . . .«

»Einverstanden . . . indeß,« setzte Lissy Wag hinzu, »mir sollten doch wohl Herrn Marshall Field erst noch einen Besuch abstatten . . .«

»Ja, da hast Du recht, Lissy.«

Bei Gelegenheit dieses Besuchs überbot sich Marshall Field ebenso wie das Personal seiner Magazine fast in Glückwünschen und ermunternden Worten für die fünfte Partnerin und deren von ihr unzertrennliche Gefährtin.

Am folgenden Morgen entführte ein Schnellzug, auf einer Fahrt von hundertdreißig Meilen (209 Kilometer), die beiden Reisenden durch Illinois nach Danville, nahe der Westgrenze von Indiana. Am Nachmittag überschritten sie diese Grenze und verließen den Zug zur Zeit des Mittagsessens in Indianapolis, der Hundertzwanzigtausend Bewohner zählenden Hauptstadt des Staates.

An Stelle Jovita Foley's und ihrer Gefährtin hätte Harris T. Kymbale sicherlich einige Zeit darauf verwendet, diesen Staat etwas näher kennen zu lernen, wo man die Ausrottung der Eingebornen schon seit dem letzten Jahrhundert anfing und in dem französische Colonisten mehrfach Niederlassungen gegründet haben. Jovita Foley glaubte sich aber auf Indianapolis beschränken zu sollen, das der White River durchströmt, ehe er sich in den Wabash ergießt. Indianapolis ist übrigens eine der bestverwalteten Städte der Union, die sich vor allem durch größte Sauberkeit auszeichnet.

In dem recht guten Hôtel, das die beiden Reisenden bezogen, verwechselte man sie, als sie ihre Namen angegeben hatten, häufig miteinander, jedenfalls weil in dem großen, im Gange befindlichen Spiele Jovita Foley weit mehr eine Rolle zu spielen geschaffen schien, als die bescheidene Lissy Wag.

Am 29. um acht Uhr fünfzehn fuhren sie mit dem ersten Zuge nach Louisville, das am linken Ufer des Ohio an der Grenze zwischen Indiana und Kentucky, d. h. des Staates liegt, der am eifrigsten für die Aufhebung der Sclaverei eingetreten war. Um elf Uhr neunundfünfzig war ihre Reise beendigt.

Man hätte Jovita Foley nun getrost sagen können, daß Kentucky einen Besuch verdiene, weil es, vorzüglich seit Louisiana ihm die Mündungen des Mississippi abgetreten hat, einer der reichsten Staaten der Union sei, ihre Antwort hätte doch nur gelautet: Mammuthhöhlen! – daß es für Ackerbau und Viehzucht ganz besonders geeignet sei, die besten Pferde in ganz Amerika und den dritten Theil des Tabaks der Vereinigten Staaten liefere, sie hätte doch nur: Mammuthhöhlen! geantwortet, – daß es die größten Industriestädte längs des Ohio und Kohlengruben im Gebiet der Alleghanyberge besitze, sie hätte unverändert nur das Wort: Mammuthhöhlen! darauf erwidert. Völlig gefangen genommen von jenen berühmten Grotten, dachte Jovita Foley nicht einmal mehr an Covington und Newport, die beiden zu Kentucky gehörigen Vororte von Cincinnati, die schon Tom Crabbe und John Milner besucht hatten, nicht an Middlesborough, das auf bestem Wege ist, eine große Stadt zu werden, auch nicht an Frankfort, die heutige, oder an Lexington, die ehemalige Hauptstadt des Staates. Und doch ist die letztere so schön mit ihrem Netze breiter Straßen, ihrem grünen Laubwerk mit der köstlichen Kühle darunter, mit ihrer im ganzen Süden berühmten Universität und ihrem im besten Rufe stehenden Hippodrom, auf dem das erlesenste Pferdematerial der Neuen Welt zu starten pflegt. Was bedeutete freilich dieses Hippodrom bei seinem beschränkten Umfang gegenüber dem ungeheuern Rennplane der amerikanischen Republik, auf dem jetzt die Teilnehmer am Match Hypperbone unter den sieben Farben des Regenbogens um den großen Preis kämpften?

Am heutigen Nachmittag beschränkten sich die beiden Freundinnen darauf, die schönsten Bezirke von Louisville zu besuchen und die achthundertzwölf Toisen lange, den Ohio überspannende Brücke zu überschreiten, die die Stadt mit ihren zum Territorium Indiana gehörigen Vororten New Albany und Jefferson verbindet, mit denen zusammen sie zweimalhunderttausend Seelen zählt. Dagegen vermieden die beiden jungen Mädchen die Industrieviertel mit ihren zahlreichen Werkstätten, Tabakfabriken, Ranchwaarenzurichtereien, Spinnereien, Destillieranstalten, den Werften für den Bau von Flußschiffen und den Fabriken für den von landwirthschaftlichen Maschinen.

Louisville liegt übrigens auf einem Plateau mit fast senkrecht abfallender Wand etwa hundert Fuß über dem Ohio. Von der Stadt aus umfaßt der Blick deshalb den unregelmäßigen Verlauf des Stromes, den Canal, der dessen linkes Ufer begleitet, die Inseln Sand und Coose, die Bahnlinie, die ihn schneidet, und auch die schönen Fälle, die das brodelnde Wasser des Stromes bildet.

Sehr ermüdet, was Jovita Foley zwar ableugnete, Lissy Wag aber ehrlich zugestand, kehrten sie endlich gegen neun Uhr abends in ihr Hôtel zurück.

»Gute Nacht,« sagte Jovita Foley sich niederlegend.

»Und wann fahren wir weiter?« fragte Lissy Wag.

»Morgen früh . . .«

»So zeitig, Jovita, wo doch einige Stunden genügen, unser Reiseziel zu erreichen? . . . Wir haben ja noch Zeit . . .«

»Zeit hat man niemals, wenn es sich um die Mammuthhöhlen handelt!« antwortete Jovita Foley. »Schlaf nur recht ruhig, meine Liebe, ich werde Dich schon wecken.«

Wirklich führte der Zug schon am Morgen des 30. die beiden jungen Damen nach Süden zu hinweg – eine Strecke von etwa hundertfünfzig Meilen (230 Kilometer) bis zu den berühmten Grotten und durch eine ziemlich ebene, mit tiefen Wäldern bedeckte Landschaft, in der nur da und dort Getreidefelder und Tabakanpflanzungen sichtbar wurden.

Jenseits der kleinen Stadt Maufort, der einzigen, die in diesem Landestheile an der Bahnlinie liegt, thut sich das herrliche Thal des Green River auf. Dieser Nebenfluß des Ohio mit sehr klarem Wasser gleitet unter einer Decke von grünen Seerosen und von Pontederias mit gelben und blauen Blüthen dahin – das sind Farben, die an die Hermann Titbury's, Harris T. Kymbale's und auch Lissy Wag's erinnern.

Noch vor der Mittagsstunde stiegen die beiden Freundinnen im Mammoth Hotel, einem Gasthause ersten Ranges ab, das sich fast am Eingange zu den Grotten inmitten der prächtigsten Umgebung erhebt.

Trotz der sie verzehrenden Neugier mußte Jovita Foley mit dem Besuche der Mammuthhöhlen bis zum nächsten Tage warten, da heute alle Führer bereits in Anspruch genommen waren. Dafür benutzte sie ihre Muße, in der Umgebung spazieren zu gehen, langhin durch das reizende Thal und an dem schattigen Ufer des Rio hinauf zu wandern, der sich, tausend Cascaden bildend, in den Green River ergießt.

Das Hotel ist ganz vortrefflich eingerichtet, das Wohlbefinden der hier zusammenströmenden Lustreisenden zu sichern. Es umfaßt mehrere Landhäuser im Schweizerstil, die verschiedenen Zwecken dienen und alle schön eingerichtet sind. Die jungen Mädchen erhielten hier ein nach dem Thale zu gelegenes Zimmer; sie waren offenbar – und das befriedigte vorzüglich die eine von ihnen – bereits mit Ungeduld erwartet worden.

Zu dieser Jahreszeit finden sich hier gewöhnlich sehr viele Ausflügler ein, die die Mammuthhöhlen besichtigen wollen; davon konnte sich Jovita Foley überzeugen, als der Klang des schrecklichen, in den amerikanischen Hotels gebräuchlichen Gongs die Gäste des Hauses nach dem Speisesaale gerufen hatte.

Der Gouverneur des Staates Illinois, John Hamilton, der ebenfalls als Tourist hier verweilte, ließ es sich nicht nehmen, daß Lissy Wag zur Rechten und Jovita Foley zur Linken von ihm sitzen mußten. Das genügte ja, um der zweiten den Kopf noch ein wenig mehr zu verdrehen.

Bereiteten übrigens der Gouverneur von Illinois, seine Begleiter und auch die übrigen Gäste der fünften Partnerin und ihrer Gefährtin einen so ehrenvollen Empfang, so wurden diese auch von den Damen, die zum Besuche der Mammuthhöhlen hierhergekommen waren, nicht minder herzlich willkommen geheißen. Die Actien Lissy Wag's hatten eben einen hohen Cursstand erreicht . . . ließ das nicht auf einen glücklichen Enderfolg hoffen? Muß man es da Jovita Foley, die ja ihren Theil an diesen Aufmerksamkeiten, diesem Wohlwollen hatte, nicht nachsehen, wenn sie sich mehr und mehr mit ihrer Lissy identificierte, da es dieser ja selbst nicht in den Sinn kam, ihr daraus einen Vorwurf zu machen?

Das geschmackvoll servierte, von einem französischen Koch bereitete Mittagsmahl war vortrefflich und reichlich, obwohl es nicht die große Zahl der in Amerika üblichen Schüsseln aufwies. Es bestand aus Gombosuppe (Gombo ist eine der Kapuzinerkresse ähnliche kleine Blume), aus Forellen, die ganz frisch aus dem hübschen Nebenflusse des Green River da geholt waren, wo er sich zu einer friedlichen Lagune erweitert, aus dem unvermeidlichen Roastbeef nebst den gebräuchlichen Saucen, aus zartem Schinken, dem nationalen Plumcake und aus Gemüsen und Früchten aller Art.

Von mehreren Tischgästen wurde den beiden Freundinnen auch in Champagner fleißig zugetrunken, und wenn sie mit dem schäumenden Weine auch ihre Lippen nur netzten, so beantworteten sie diese Höflichkeit doch stets mit einer graciösen Verneigung. Dann donnerten begeisterte Toaste auf den bevorstehenden Sieg der reizenden Favoritin im Match Hypperbone durch den gefüllten Saal.

Noch niemals hatte Jovita Foley an einer so festlichen Tafel theilgenommen. Uebrigens bewahrten Lissy Wag und sie selbst die würdigste Zurückhaltung, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß die eine alle Complimente mit ihrer natürlichen Bescheidenheit annahm, die lebhafte andre aber ihre innere Befriedigung darüber nicht verhehlte.

Erst gegen zehn Uhr abends konnten beide ihr Zimmer wieder aufsuchen.

»Nun, was sagst Du dazu?« fragte Jovita Foley.

»Ich? . . . Gar nichts,« antwortete Lissy Wag.

»Wie, Dich hat die Aufnahme, die wir hier gefunden haben, ganz kalt gelassen? Dich hat die Art und Weise, wie der Herr Gouverneur uns behandelte, die Liebenswürdigkeit dieser Menge von Touristen, welche sicherlich alle auf uns wetten werden, gar nicht tiefer berührt?«

»Die armen Leute, die auf uns ihr Geld einsetzen!«

»Und Du hast kein Verlangen, ihnen dadurch, daß Du gewinnst, Deine Dankbarkeit zu beweisen?«

»Ich habe jetzt nur das Verlangen, bald zu schlafen,« erwiderte Lissy Wag, »und werde mich niederlegen, indem ich Dich ersuche, das Gleiche zu thun.«

»Schlafen? . . . Wäre nur das jetzt möglich?«

»Gute Nacht, Jovita!«

»Meinetwegen . . . Gute Nacht, Du kleine Millionennixe!« antwortete Jovita Foley, die schließlich doch wohl etwas mehr gethan hatte, als ihre Lippe an den Champagnerkelchen nur zu netzen. »Ach, ich möchte, es wäre schon morgen!« setzte sie noch leise gähnend hinzu.

Der nächste Tag kam in gewohnter Ordnung und begann mit einem schönen Sonnenaufgang, freilich zwei Stunden eher, als Jovita Foley sich erhob.

Lissy Wag konnte der dringlichen Aufforderung, das Lager zu verlassen und sich schnell anzukleiden, nicht widerstehen, und so waren denn beide um acht Uhr fertig, das Hôtel zu verlassen.

Die Besichtigung der gesammten Grotten von Kentucky – soweit sie bis jetzt bekannt und gangbar sind – erfordert etwa sieben bis acht Stunden. Der Hauptgang darin hat eine Länge von drei bis vier Lieues (1 Lieue de poste = 3898 Meter), der Inhalt der Höhlengruppe aber wird auf elf Milliarden Cubikmeter berechnet. Sie ist nach allen Richtungen von Hunderten von Gängen, Galerien, Durchgängen und Schluchten durchschnitten, und zwar, wir weisen wiederholt darauf hin, nur in dem bis jetzt durchforschten Theile.

Heute schrieb man den 31. Mai, und bis zum Morgen des 6. Juni hatte Lissy Wag also noch volle sechs Tage zur Verfügung. Gut angewendet, mußte diese Zeit genügen, auch die neugierigste Besucherin – und wäre es selbst die quecksilberne Jovita Foley – reichlich zufrieden zu stellen.

Man begiebt sich nach den Höhlen stets in größeren Gesellschaften und unter Leitung der erprobtesten Führer, die zu diesem Zwecke fest angestellt sind.

In warmhaltender Kleidung, denn in den tiefen Erdhöhlen herrscht eine ziemlich niedrige Temperatur, betraten die Touristen beiderlei Geschlechts um neun Uhr den Fußpfad, der, sich zwischen Felsmassen hinschlängelnd, nach den Grotten führt. So kamen sie nach der engen Oeffnung in einem Felsriesen, dem einfachen Eingange zu einer Art Stollen, den man in demselben Zustande, wie ihn die Natur einst schuf, belassen hat, und durch den hochgewachsene Menschen nicht eintreten können, ohne sich zu bücken.

Die Führer waren von Negern begleitet, die Grubenlampen und Fackeln trugen, welche sofort angezündet wurden, und unter dem Widerscheine des Lichts, das sich an tausend Facetten der Wände brach, erreichten die Besucher eine aus dem Gestein geschnittene Treppe. Diese Treppe mündet oben an einer breiteren Galerie, welche unmittelbar nach dem sehr geräumigen Saal der Rotunde hinführt.

Von hier aus verzweigen sich die vielfachen Seitengänge, deren gewundenen Verlauf man kennen muß, um nicht in die Gefahr zu kommen, sich zu verirren, wenn man etwa aus Sparsamkeit auf die Begleitung eines Führers verzichtet hatte. Es giebt nirgends ein verwickelteres Labyrinth, auch die von Lemnos und Kreta nicht ausgenommen.

Durch einen langen, schmalen Gang erreichten die Touristen hierauf einen der ausgedehntesten unterirdischen Räume der Mammuthhöhlen, der den Namen der Gothischen Kirche erhalten hat.

Der gothischen? . . . Zeigt dieses unterirdische Bauwerk wirklich den charakteristischen Spitzbogenstil der Gothik? – Damit ist es zwar nicht so genau zu nehmen, doch bleibt es trotzdem wunderbar schön mit den Stalagmiten und Stalaktiten, die von seinem Deckengewölbe herabhängen, durch die merkwürdig gewundenen Säulen, die das Dach tragen, durch die Gestaltung der aufeinandergeschichteten Felslager, deren Krystallgebilde im Lichte flimmern und durch die natürliche und doch so phantastische Vertheilung des Gesteins, das hier einen Altar mit allem liturgischen Schmucke, dort eine Empore mit einer Orgel darstellt, deren Pfeifen bis zu den Rippen der Deckenwölbung hinaufreichen, und dort wieder einen Balkon oder eine Art Kanzel bilden, von wo aus schon mehrfach zufällig anwesende Geistliche vor einer Gemeinde von fünf- bis sechstausend Gläubigen gepredigt haben.

Selbstverständlich theilte die Gesellschaft von Ausflüglern das Entzücken Jovita Foley's, und überall wurden unwillkürliche Ausrufe der Bewunderung laut.

»Nun, Lissy, bedauerst Du unsre Reise?«

»Nein, Jovita, hier ist es überraschend schön!«

»Sagst Du Dir aber auch, daß alles das das Werk der Natur ist, daß keine Menschenhand diese Grotten hätte aushöhlen können, daß wir uns tief in den Eingeweiden des Erdbodens befinden?«

»Ja – und ich erschrecke nur,« antwortete Lissy Wag, »bei dem Gedanken, daß man sich hier verirren könnte.«

»O, das glaub' ich Dir gern, mein Herzchen, Du siehst uns schon beide in den Mammuthhöhlen verloren, so daß wir das Eintreffen des Telegramms von dem guten Herrn Tornbrock verfehlen, nicht wahr, Schatz? . . .«

Eine halbe Lieue war schon von der Eingangsöffnung bis zur Gothischen Kirche zurückzulegen gewesen. Im weiteren Verlaufe des Besuches wurde es sehr häufig nöthig, sich zu bücken, zuweilen sogar durch die engen und niedrigen Gänge, die nach dem Saale der Gespenster führen, fast zu kriechen. Hier fühlte sich Jovita Foley aber schwer enttäuscht, da sie keine der geisterhaften Erscheinungen sah, die ihre Phantasie dieser tiefen, finstern Höhle angedichtet hatte.

Der Saal der Gespenster dient in Wirklichkeit als ein Platz zum Ausruhen. Er ist durch Fackelschein gut erleuchtet und enthält ein wohlversorgtes Büffet, wo schon das für die Bewohner des Mammoth Hotel bestimmte Frühstück bereit stand.

Dieser Saal sollte eigentlich das Sanatorium heißen, denn hierher begeben sich nicht selten Kranke, die der Atmosphäre der kentuckyschen Grotten eine besondre Heilkraft zuschreiben. Auch heute hatten sich deren wohl zwanzig versammelt, die sich jetzt an Tischen vor dem riesigen Skelet eines Mastodons niederließen, von dem die weiten Erdhöhlen jedenfalls den Namen Mammuth erhalten haben.

Hier endete der erste Theil der Besichtigung der Grotten, deren Besuch fortgesetzt werden sollte, wenn die Touristen erst noch in einer kleinen Kapelle, gleichsam einer Miniaturnachbildung der Gothischen Kirche, Halt gemacht hätten. Der Besuch endigt vor einem bodenlosen Abgrunde, in den die Führer angezündetes Papier zu werfen pflegen, um die schauerliche Tiefe zu beleuchten, vor dem Bottomleß-Pit, dessen ausgehöhlte Wand den sogenannten Teufelsstuhl bildet, an den sich – das Gegentheil wäre weit merkwürdiger – so manche Sage knüpft.

Nach dem immerhin ermüdenden Wege ließen sich die Touristen gar nicht bitten, wieder nach der Galerie zurückzukehren, die nach dem Eingange zu den Grotten führt, und hierher noch lieber, als nach einem andern Ausgange durch den Dom von Ammath, der zwar auch ziemlich in der Nähe des Hôtels liegt, doch nur auf langem Umwege zu erreichen ist.

Eine vorzügliche Mahlzeit und eine Nacht ungestörter Ruhe gaben den beiden Freundinnen für den morgigen Ausflug die nöthigen Kräfte wieder.

Der Besuch dieser wunderbaren Höhlen – ein Spaziergang durch die verzauberte Welt von Tausendundeiner Nacht – ohne dabei Dämonen oder Gnomen zu begegnen, lohnt übrigens reichlich die damit verbundene Anstrengung, und Jovita Foley gestand auch gerne zu, daß das sich hier bietende Schauspiel die Grenzen der menschlichen Phantasie überschreite.

Die energische kleine Person legte denn auch fünf Tage hintereinander Proben einer Ausdauer ab, woran die der andern Touristen, selbst die der Führer, nicht heranreichte; sie bestand darauf, alles zu sehen, was man bisher von den berühmten Grotten kannte, und bedauerte nur, nicht auch bis zu deren unbekanntem Theile vordringen zu können. Was sie aber that, konnte Lissy Wag nicht ausführen, und diese mußte deshalb schon am dritten Tage bitten, sie mit weiterer Anstrengung zu verschonen. Sie war ja auch erst unlängst ernstlich krank gewesen und durfte sich nicht zu viel zumuthen, um an der Fortsetzung der Reise nicht gehindert zu werden.

Die letzten Ausflüge machte Jovita Foley also ohne die Begleitung Lissy Wag's.

So besuchte sie noch die Höhle des Riesendomes, deren Decke sich in einer Höhe von fünfundsiebzig Toisen (146¼ Meter) ausspannt, das Sternenzimmer, dessen Wände mit Diamanten und andern Edelsteinen, die im Fackelscheine erglänzen, besetzt zu sein scheinen, ferner die Clevelandallee, deren Seiten wie mit feinen Spitzen und mineralischen Blüthen verziert sind, den Ballsaal mit seinen von einer weißlichen Ausschwitzung schneeähnlichen Mauern, die Felsenberge, eine Anhäufung von Felsblöcken und hohen Pics, bei deren Anblick man glauben möchte, daß die Bergketten von Utah und Colorado sich bis ins Innere der Erde fortsetzten, und endlich die Feengrotte mit ihren reichen, von unterirdischen Quellen gebildeten sedimentären Formationen, mit Bogen, Pfeilern, selbst einem riesenhaften Baume, einer Palme aus Stein, die bis zur Deckenwölbung dieses vier Lieues vom Haupteingange der Mammuthhöhlen gelegenen Saales emporragt.

Und welche nie verblassende Erinnerung mußte die unermüdliche Besucherin davon mitnehmen, als sie nach Durchschreitung des Portals des Domes von Goran in einem Boote den Lauf des Styx hinunterglitt, der sich wie ein Jordan der Unterwelt zuletzt in das Todte Meer ergießt. Wenn es wahr ist, daß im Wasser des biblischen Flusses kein Fisch leben kann, so liegt das anders bezüglich dieses unterirdischen Sees. Hier fängt man massenhaft Siredonen und Cypronidonen, deren optischer Apparat völlig verkümmert ist, wie der einzelner augenloser Arten, die in mehreren Gewässern Mexikos vorkommen.

Das sind die unvergleichlichen Wunder dieser Grotten, die bis jetzt nur einen Theil ihrer Geheimnisse enthüllt haben. Wer weiß, welche Merkwürdigkeiten sie noch enthalten, und vielleicht entdeckt man dereinst gar eine ganze, nie geträumte Welt in den Eingeweiden der Erde.

Endlich schlugen die letzten Stunden der fünf Tage, die Jovita Foley und ihre Gefährtin bei den Mammuthhöhlen zubringen sollten. Am 6. Juni mußte die Depesche im Comptoir des Hôtels selbst eintreffen. Bei dem Interesse, das die hier wohnenden Touristen der fünften Partnerin entgegenbrachten, verging der Vormittag des nächsten Tages gewiß unter fieberhafter Spannung . . . einer Ungeduld, von der Lissy Wag vielleicht als einzige nicht gar viel empfand.

Bei der Tafel am heutigen Abend wiederholten sich die Toaste des ersten Tages nur umso lauter und wärmer. Urkräftig erschallten die Hurrahs, als John Hamilton, entsprechend der von den Gouverneuren geübten Gepflogenheit, Frauen in ihren Generalstab aufzunehmen, Lissy Wag zum Oberst und Jovita Foley zum Oberstlieutenant in der Miliz von Illinois ernannte.

Fühlte sich die immer bescheidene eine der neuen Officiere durch so viel Ehren etwas bedrückt, so nahm die andre diese entgegen, als hätte sie schon ihr Leben lang die Uniform getragen.

»Nun, Fräulein Oberst,« rief Jovita Foley, als beide sich ziemlich spät nach ihrem Zimmer zurückbegeben hatten und sie militärisch grüßte, »sagen Sie, mache ich meine Sache recht?«

»Das ist die reine Thorheit,« antwortete Lissy Wag, »und ich fürchte, es wird ein schlechtes Ende nehmen . . .«

»Willst Du schweigen, meine Liebe, oder ich vergesse, daß Du meine Vorgesetzte bist, und verletze den nöthigen Respect!« Damit gab sie der Freundin einen herzlichen Kuß, legte sich nieder und träumte natürlich sofort, daß sie zur »Generalin« ernannt worden sei.

Schon um acht Uhr am nächsten Morgen belagerten die Insassen des Hôtels das Zimmer mit dem Telegraphenapparat in Erwartung der durch Meister Tornbrock von Chicago abzusendenden Depesche.

Es wäre zu schwierig, die Erregung der theilnahmsvollen Menge zu schildern, die die beiden Freundinnen umringte. Wohin sollte das Schicksal sie verschlagen? . . . Würden sie vielleicht nach dem äußersten Ende Amerikas geschickt? . . . Gewannen sie einen größeren Vorsprung gegenüber ihren Mitbewerbern? . . .

Eine halbe Stunde später ertönte die Glocke des Apparats.

Es kam eine Depesche für Lissy Wag, Kentucky, Mammoth Hotel, Mammuthhöhlen.

Da entstand eine tiefe, man möchte sagen, religiös feierliche Stille innerhalb und außerhalb des Telegraphenzimmers.

Und welches Erstaunen, welche Enttäuschung, ja welche Verzweiflung, als Jovita Foley mit bebender Stimme den Inhalt des Telegramms vorlas.

»Vierzehn, durch zu verdoppelnde sieben Augen, zweiundfünfzigstes Feld, Saint-Louis, Staat Missouri.

Tornbrock.«

Das war das Feld mit dem Gefängnisse, wo Lissy Wag unter Zahlung des dreifachen Einsatzes bleiben mußte, bis ein nicht weniger unglücklicher Partner sie durch Besetzung ihres Platzes erlöste!

 


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