Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Zweiter Band
Jules Verne

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II. Verwechselt

»Ich glaube nicht, daß er angekommen ist . . .«

»Warum wollen Sie das nicht glauben?«

»Weil in meiner Zeitung davon nichts gemeldet wird.«

»O, dann ist Ihre Zeitung nur schlecht unterrichtet, denn die Mittheilung findet sich in der meinigen ganz ausführlich.«

»Dann geb' ich mein Abonnement auf . . .«

»Woran Sie sehr recht thun würden . . .«

»Gewiß, denn es ist unverzeihlich, daß es einer Zeitung, wenn es sich um so wichtige Thatsachen handelt, an der nöthigen Information fehlt und daß deren Leser nicht einmal erfahren . . .«

»Ja, ja . . . wirklich unverzeihlich!«

Dieses Zwiegespräch entwickelte sich zwischen zwei Einwohnern von Cincinnati, die auf der hundertsechzig Toisen (312 Meter) langen Hängebrücke lustwandelten, welche nahe der Mündung des Laking den Ohio überspannt und die Hauptstadt mit ihren zwei, auf dem Gebiete Kentuckys liegenden Vororten Newport und Covington verbindet.

Der Ohio, »der schöne Strom«, trennt nämlich im Süden und Südosten den Staat gleichen Namens von Kentucky und Westvirginien. Im Osten begrenzt ihn eine grade nordsüdliche Linie gegen Pennsylvanien, im Westen eine solche gegen Indiana, im Norden eine westöstliche Linie gegen Michigan, bis auf die ziemlich große Strecke, wo er an den Eriesee stößt.

Überschreitet man die erwähnte Brücke, deren Eleganz mit ihrer Kühnheit wetteifert, so eröffnet sich dem Auge ein Ausblick nach der gewerbfleißigen Stadt, die sich am rechten Stromufer neun Meilen (14,5 Kilometer) bis nach den sie an dieser Seite einrahmenden Hügeln ausdehnt. Weiter schweift der Blick nach Osten zu über den Edenpark und eine Bannmeile mit Villen und kleineren Landhäusern, die unter üppigem Grün fast ganz verschwinden.

Den Ohio mit seinen europäischen Baumarten und Dörfern kann man treffend mit einem europäischen Strome vergleichen. In seinem Oberlaufe von dem Alleghany und der Monowghila, im Mittellaufe von dem Muskingum, dem Sicoto. den beiden Miami und dem Liking gespeist, und im Unterlaufe von dem Kentucky, dem Green River, dem Wabash, Cumberland, Tennessee und andern Nebenflüssen noch weiter verstärkt, ergießt er sich endlich bei Cairo in den Mississippi.

Immer plaudernd betrachteten die beiden Männer – deren Namen und gesellschaftliche Stellung nicht zu kennen, die Nachwelt vielleicht noch bedauern wird – durch die tausend Drahtseile der Brücke die Fährboote, die den Strom nach allen Seiten durchfurchten, die Dampfer und die Flußschiffe, die diesen hinauf- oder hinunterfuhren und dabei entweder den stromaufwärts gelegenen oder die beiden stromabwärts erbauten Viaducte passierten, mittelst derer Eisenbahnen die beiden Nachbarstaaten verbinden.

Uebrigens herrschte an diesem Tage, dem 28. Mai, auch zwischen andern, ebenso wie jene zwei unbekannten Leuten eine lebhafte Unterhaltung, ebenso in den Industrie- und Handelsquartieren, wie in den Werkstätten und Fabriken, deren man in Cincinnati fast siebentausend zählt – in allen Brauereien, Mehlgeschäften, Raffinerien, Schlachthäusern und auf den Märkten wie auf den Vorplätzen der Bahnhöfe, wo erregte und lärmende Gruppen zusammenstanden. Freilich schien es nicht so, als ob diese ehrbaren Bürger den obern Classen, den Gelehrten- oder Künstlerkreisen angehörten, die hier die Universitätscurse und die reichhaltigen Bibliotheken besuchen und in den werthvollen Sammlungen und Museen der Stadt ihren Studien obliegen. Das unruhige Treiben beschränkte sich vielmehr auf den niedrig gelegenen Theil der Stadt und erstreckte sich nicht nach den reichen Quartieren, den modernen Straßen, nach den Squares und den schattenkühlen Parks mit prächtigen Bäumen, darunter den Nußbäumen, nach denen Ohio den Beinamen Buckeye State bekommen hat.

Wer sich durch die Menschenmengen drängte und auf deren Gespräche lauschte, hörte da etwa folgendes:

»Haben Sie ihn denn gesehen?«

»Nein; er ist gestern sehr spät am Abend angekommen, dann hat man ihn sofort in einen geschlossen Wagen gesteckt und sein Begleiter hat ihn . . .«

»Wohin denn gebracht?«

»Das weiß niemand, und es wäre doch so interessant, es zu wissen . . .«

»Freilich . . . freilich! Na, er ist ja nicht nach Cincinnati gekommen, um sich hier nicht zu zeigen. Ich denke, man wird ihn ausstellen . . .«

»Ja, übermorgen, sagt man, bei Gelegenheit der großen Ausstellung von Spring Grove.«

»Das wird ein schönes Gedränge geben!«

»Halb todttreten werden sich die Leute!«

Dieses Urtheil bezüglich des Helden des Tages wurde indeß nicht allseitig getheilt. Vorzüglich eine Menge Angestellte aus den großen Schlachthäusern, wo man alle körperlichen Eigenschaften höher als geistige Vorzüge, Größe, Umfang und Muskelentwickelung höher als die Intelligenz des Individuums zu schätzen pflegt, zuckten wie mitleidig die Achseln.

»Es wird wohl alles gehörig übertrieben sein,« sagte der eine.

»Wir werden hier wohl manchen haben, der ihm mindestens gleichkommt,« meinte ein andrer.

»Ueber sechs Fuß hoch, wenn man den Reklamen trauen darf . . .«

»Sechs Fuß, von denen keiner zwölf Zoll hat . . .«

»Na, das wird sich ja bald zeigen . . .«

»Er scheint aber doch gute Aussicht zu haben, alle seine Concurrenten zu schlagen.«

»Bah! Man prahlt vom Record halten . . . das lockt das Publicum heran . . . und schließlich sieht es sich betrogen . . .«

»Wir werden uns hier nicht anführen lassen . . .«

»Kommt er nicht aus Texas?« fragte ein stämmiger Bursche mit breiten Schultern und kräftigen, noch mit Blut aus dem Schlachthaus befleckten Armen.

»Graden Wegs . . . aus Texas,« antwortete einer seiner ebenso robusten Kameraden.

»Nun . . . warten wir das Weitere ab . . .«

»Ja, ja . . . ruhig abwarten. Es ist schon von auswärts so mancher hierhergekommen, der besser gethan hätte, zu Hause zu bleiben . . .«

»Zugegeben . . . Doch wenn er nun den Preis davonträgt? Möglich ist es immerhin, und gar so sehr erstaunen würd' ich darüber nicht!«

Man sieht, daß die Schätzungen weit auseinandergingen – im ganzen jedenfalls nicht zur besonderen Genugthuung John Milner's, der am Tage vorher in Cincinnati mit dem zweiten Partner, Tom Crabbe, eingetroffen war, welchen die Entscheidung der Würfel aus der Hauptstadt von Texas nach der von Ohio verwiesen hatte.

In Austin hatte John Milner ja zu Mittag am 17. Mai die telegraphische Mittheilung über die die indigoblaue Flagge – den berühmten Faustkämpfer aus Chicago – betreffende Auswürfelung erhalten.

Entschieden konnte Tom Crabbe von sich behaupten, daß er im Glück sitze, und selbst mit mehr Berechtigung als Max Real, obwohl dieser, dank der zu verdoppelnden Augenzahl, einen großen Schritt vorwärts gethan hatte. Für ihn hatte Meister Tornbrock zwölf Augen geworfen, die höchste Zahl, die mit zwei Würfeln zu erzielen ist. Da diese Zahl den Partner aber ebenfalls nach einem der Felder von Illinois brachte, hatte auch er sie doppelt zu nehmen, und Tom Crabbe machte damit also einen Sprung vom elften nach dem fünfunddreißigsten Felde.

Hierdurch wurde er nach den volkreichsten Landestheilen des Innern der Vereinigten Staaten gewiesen, wo es an schnellen und bequemen Verkehrsmitteln nicht mangelt, das Reisen also ganz anders erleichtert ist, als in den Grenzländern des Bundesgebiets.

John Milner wurde darum auch vor der Abfahrt von Austin vielfach beglückwünscht. Gleichzeitig erhöhten sich die Wetten, Tom Crabbe stieg im Curs, und zwar nicht allein in Texas, sondern auch in manchen andern Bundesstaaten, vor allen auf den Wettmärkten in Illinois, wo die Agenten ihn mit eins gegen fünf, also weit höher »placieren« konnten, als Harris T. Kymbale, den bisherigen Favoriten.

»Und schonen Sie ihn . . . schonen Sie ihn ja recht sorgsam!« empfahlen die Leute dem John Milner. »Vernachlässigen Sie nichts in der Voraussetzung, daß er eine meteoreisenfeste Gesundheit und eine Musculatur von Chromstahl habe! . . . Er muß ohne Havarie am Ziele anlangen!«

»Verlassen Sie sich auf mich,« erklärte darauf der Traineur. »In der Haut Tom Crabbe's steckt jetzt nicht dieser, sondern John Milner.«

»Und ferner,« fügten die Warner hinzu, »keine Seefahrt mehr, mag sie kurz oder lang sein, da die Seekrankheit geeignet erscheint, ihn leiblich und geistig aufzulösen.«

»O, das Uebel ist ja nicht von Dauer gewesen,« erwiderte John Milner. »Doch fürchten Sie nichts . . . zwischen Galveston und New Orleans gehen wir jetzt nicht zu Schiffe. Wir benutzen bis Ohio nur die Eisenbahn und legen wie Lustreisende täglich nur kurze Strecken zurück . . . wir haben ja vierzehn Tage vor uns, nach Cincinnati zu kommen.«

Diese Stadt war es bekanntlich, die nach der Bestimmung des Testators auf dessen Karte das fünfunddreißigste Feld bildete, und Tom Crabbe überholte damit, mit Ausnahme des Commodore Urrican, alle übrigen Mitspieler.

Ermuthigt, gehätschelt und geliebkost von seinen Parteigängern, wurde Tom Crabbe am genannten Tage nach dem Bahnhofe begleitet, in einen Wagen gehißt und, mit Rücksicht auf den Temperaturunterschied zwischen Texas und Ohio, sorgfältig in Decken gehüllt. Dann setzte sich der Zug in Bewegung und brauste graden Weges der Grenze von Louisiana zu.

Vierundzwanzig Stunden ruhten die Reisenden in New Orleans aus, wo sie noch wärmer als das erstemal empfangen wurden – eine Folge davon, daß sich die Cursnotiz des berühmten Boxers immer in aufsteigender Linie bewegte. Tom Crabbe war in allen Agenturen »gesucht« und »stieg« in allen Städten der Union. Ein Fieber war es, eine wirkliche Tollheit! Auf mindestens fünfzehnhunderttausend Dollars schätzten die Zeitungen die Summen, die auf den Kopf des zweiten Partners schon bei seiner Fahrt von der Hauptstadt von Texas nach der Metropole von Ohio gesetzt waren.

»Welcher Erfolg!« sagte John Milner für sich, »und welch ein Empfang wartet unser in Cincinnati! . . . Ein wahrer Triumphzug muß es werden . . . ich habe darüber so meine Gedanken.«

Auch Barnum berühmten Andenkens würde gewiß den Plan John Milner's getheilt haben, durch den dieser die Neugier des Publicums anreizen und auf Tom Crabbe lenken wollte.

Dabei handelte es sich nicht, wie man vielleicht zu glauben versucht wäre, etwa darum, die Ankunft des Champions der Neuen Welt laut und mit großem Aufwand von Reclame anzukündigen, die besten Boxer von Cincinnati zu einem Zweikampf herauszufordern, aus dem Tom Crabbe voraussichtlich als Sieger hervorging, und dann seine Wanderfahrt fortzusetzen – obgleich John Milner nicht abgeneigt war, auch eine solche Vorstellung zu veranstalten, wenn sich dazu eine passende Gelegenheit darbot.

Er wollte sich in Cincinnati vielmehr in strengstes Incognito hüllen, wollte die große Menge der Spieler bis zum letzten Tage ohne Nachricht über ihren Favoriten lassen und womöglich den Glauben erwecken, daß dieser verschwunden sei und am entscheidenden 31. jedenfalls nicht an der bestimmten Stelle erscheinen werde. Dann wollte er ihn in einer Weise wieder auftauchen lassen, daß man sein Erscheinen begrüßen müßte wie das des Elias, wenn der Prophet jemals wieder vom Himmel herabsteigen sollte, um seinen Mantel von der Erde zu holen.

John Milner hatte nämlich durch die Zeitungen erfahren, daß am 30. des laufenden Monats in Cincinnati eine große Thierschau stattfinden sollte, eine Ausstellung, wo gehörnte und andre Vierfüßler durch Preise ausgezeichnet werden sollten, auf die diese einen großen Werth zu legen scheinen. Das war eine prächtige Gelegenheit, Tom Crabbe in Spring Grove auf der Thierschau auszustellen, wenn alle bereits verzweifelten, ihn je zu sehen, und noch dazu am Tage vorher, wo er sich im Postamte der Metropole zu melden hatte.

Natürlich fiel es John Milner gar nicht ein, mit seinem Gefährten über dieses Vorhaben zu sprechen. So fuhren denn beide, ohne jemand davon benachrichtigt zu haben, und aus Vorsicht erst von der nächsten Bahnstation außerhalb Orleans, wohin sie sich zu Wagen begeben hatten, nach Eintritt der Dunkelheit ab, so daß sich am andern Morgen die ganze Stadt verwundert fragte, was wohl aus ihnen geworden sein möge.

John Milner schlug auch nicht denselben Weg ein, den er früher eingehalten hatte, um sich von Illinois nach Louisiana zu begeben. Das Schienennetz ist übrigens im mittleren und östlichen Theile der Vereinigten Staaten so engmaschig, daß es die Eisenbahnkarten wie mit einem Spinnengewebe bedeckt. So durchmaßen denn, ohne sich zu übereilen, ohne daß die Anwesenheit Tom Crabbe's irgendwo geahnt wurde, in der Nacht fahrend und am Tage ausruhend und immer besorgt, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen, die indigoblaue Flagge und ihr Traineur die Staaten Mississippi, Tennessee und Kentucky und trafen am 20. mit Tagesanbruch in einem bescheidenen Hotel des Vorortes Covington ein. Von hier aus hatten sie nur noch den Ohio zu überschreiten, um auf dem Boden Cincinnatis zu stehen.

Bis hierher war der Plan John Milner's also glücklich in Erfüllung gegangen und Tom Crabbe unerkannt vor den Thoren der Metropole angelangt. Selbst die bestunterrichteten Tageszeitungen wußten nicht, was aus ihm geworden war – von New Orleans aus hatte man seine Spur verloren. – Der Leser dürfte sich wohl auch fragen, was die im Vorhergehenden wiedergegebenen Gespräche zu bedeuten hätten und was John Milner, wenn er sie mit anhören konnte, wohl gedacht haben möchte.

Ohne Zweifel hielt er sich für berechtigt, eine überraschende Wirkung zu erwarten – ebenso bei der ganzen Bevölkerung Cincinnatis, die ja an seinem Erscheinen im Postamte am 31. Mai verzweifeln mußte, wie vorzüglich unter den Wettenden, die beträchtliche Summen auf ihn gesetzt hatten, wenn Tom Crabbe am Vortage des Datums, wo er sich im Postamte vorzustellen hatte und nachdem alle Echos der Vereinigten Staaten vergeblich um Nachricht über ihn befragt worden waren, inmitten der zahlreichen Besucher der Thierschau von Spring Grove auftauchte.

Wer weiß indeß, ob John Milner nicht besser gethan hätte, die beiden Wochen, über die er bei der Abreise aus Texas verfügte, zu einer Vorstellungsrundfahrt seines berühmten Schülers durch Ohio zu verwenden. Dieser Staat mit seinen drei Millionen siebenmalhunderttausend Einwohnern nimmt in der nordamerikanischen Republik ja die vierte Stelle ein. Er hätte also doch ein Interesse daran haben müssen, seinen Schüler ebenso als Theilnehmer am Match Hypperbone, wie als »Licht« in der Welt der Boxer von Stadt zu Stadt, von Flecken zu Flecken zu führen und ihn in den bedeutenderen Städten Ohios auszustellen. Deren giebt es viele, die auch recht wohlhabend sind, und Tom Crabbe hätte da den besten Empfang gefunden.

Versteifte sich John Milner nicht geradezu auf seinen Theatercoup, so hätte er gewiß daran gedacht, den vorzüglichen Boxer in Cleveland zu zeigen, in jener prächtigen Stadt am Eriesee, ihn auf der Euklidavenue, der schönsten aller Alleestraßen der Union, spazieren zu führen und mit ihm durch die breiten, regelmäßigen, von wunderschönen Ahornbäumen beschatteten Straßen zu lustwandeln. Die Stadt verdankt ihren Reichthum der Ausbeutung von Mineralölquellen, deren Becken mit ihrem Hafen, dem belebtesten am Eriesee, in Verbindung stehen. Der Handelsverkehr hier überschreitet den Werth von zweihundert Millionen Dollars. Von Cleveland hätte sich Tom Crabbe dann nach Toledo und nach Sandusky, ebenfalls zwei Binnenseehäfen und Sammelplätzen der Fischerflottillen, begeben müssen, und weiter nach den Industriecentren, die ihre Lebenskraft aus dem Ohio ebenso schöpfen, wie die Organe des menschlichen Körpers aus dem Blute der Pulsadern, nach Starbenville, Marietta, Gallipolis und vielen andern. Hier wäre auch noch Columbus, der Sitz der Regierung des Staates, zu nennen, eine neunzigtausend Seelen zählende Stadt mit prächtigen öffentlichen Gebäuden und außerdem einer der reichsten Niederlagsplätze für Bodenerzeugnisse, sowie der Mittelpunkt einer regen Metallindustrie und Kohlengewinnung.

Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß von hier aus Schienenstränge nach allen Richtungen ausstrahlen, nach den fruchtbaren Ackerbaubezirken, den Getreidefeldern, auf denen der Maisanbau vorherrscht, den Tabakpflanzungen und Weingärten, die anfänglich wieder verkümmern zu sollen schienen, aber fröhlich gediehen, als die europäischen Reben durch amerikanische ersetzt worden waren, nach den üppig grünen Ebenen und den Waldungen mit schönen Baumarten, wie Akazien, Zirbelkiefern, Zucker- und rothem Ahorn, Schwarzpappeln und Platanen mit einem Stammumfang von dreißig bis vierzig Fuß, die sich fast mit den riesigen Sequoias des Westens messen können. Das von der Natur mit so freigebiger Hand bedachte Ohio, einer der mächtigsten Staaten der Union, sendet darum auch von den fünfunddreißig Senatoren und hundert Abgeordneten seines eignen Gesetzgebenden Körpers zwei Senatoren und fünfundzwanzig Abgeordnete nach dem Bundescongreß.

Hierzu kommt noch eine ausgebreitete Viehzucht und ein lebhafter Viehhandel des Landes, der die Schlachthäuser von Chicago, Omaha und Kansas reichlich versorgt, was die Lebhaftigkeit seiner Märkte erklärt und damit auch die der Ausstellung von Rindern, Schafen und Schweinen, die am 30. dieses Monats abgehalten werden sollte.

An eine solche Kreuz- und Querfahrt, die John Milner nicht wenig aufgehalten hätte, war aber nicht zu denken. Tom Crabbe wird, auch in bedeutenderen Städten, nicht auftreten. Er ist ohne Unfall und Beschwerde nach Art eines Vergnügungsreisenden an der Grenze von Kentucky angekommen. Während seines Aufenthalts in Texas hat er sich vollkommen erholt und seine frühere Körperkraft wiedererlangt. Auch unterwegs hat er nichts davon verloren, er ist in »bester Form», und welch ein Triumph muß es werden, wenn er vor den Leuten in Spring Grove erscheint!

Am nächsten Tage wollte John Milner, doch wohl verstanden, ohne Begleitung seines neugierigen Genossen, einen Gang durch die Stadt machen.

»Tom,« sagte er zu diesem, bevor er das Hotel verließ, »ich lasse Dich zurück und Du wirst mich hier erwarten.«

Da es nicht danach aussah, als wollte ihn John Milner wegen seiner Absicht erst befragen, hatte Tom Crabbe darauf nichts zu antworten.

»Du wirst unter keinerlei Vorwand aus dem Zimmer gehen,« setzte John Milner hinzu.

Tom Crabbe wäre jedenfalls ausgegangen, wenn man es von ihm verlangt hätte; jetzt wurde ihm das Gegentheil empfohlen, folglich blieb er, wo er war.

»Sollte ich länger ausbleiben,« fügte John Milner noch hinzu, »so wird man Dir Dein erstes Frühstück bringen, dann das zweite, hierauf auch den Lunch, später das Mittags- und ebenso das Abendessen. Ich werde das Nöthige bestellen und Du brauchst Dich wegen Deiner Nahrung nicht zu sorgen.«

Nein, sicherlich, Tom Crabbe würde sich deshalb keine Sorge machen und unter diesen Umständen die Rückkehr John Milner's geduldig abwarten. So schleppte er denn seine gewaltige Masse nach einem großen Rocking-chair, setzte sich hinein und versenkte sich, leicht schaukelnd, in das Nichts seiner Gedanken.

John Milner begab sich nach dem Bureau des Hauses hinunter, bestimmte die Reihenfolge der stoffreichen Speisen, die seinem Begleiter aufgetragen werden sollten, ging durch das Hotelthor, wendete sich durch die Straßen von Covington dem Ohio zu, überschritt diesen mittelst einer Dampffähre, landete an seinem rechten Ufer und durchwanderte nun, die Hände wie ein Spaziergänger in den Taschen, das Handelsviertel der Stadt.

Hier ging es, wie John Milner sofort wahrnehmen mußte, äußerst lebhaft zu. Kam er an ein paar Leuten vorbei, so bemühte er sich wohl, etwas von dem, was diese sprachen, zu erlauschen. Uebrigens zweifelte er gar nicht daran, daß sich hier alle Welt schon mit dem bevorstehenden Eintreffen des zweiten Partners beschäftigte.

So schlenderte denn John Milner von einer Straße zur andern zwischen sichtlich erregten Leuten hin und blieb gelegentlich in der Nähe von Ansammlungen solcher stehen, die sich da und dort vor Kaufladen oder auf freien Plätzen gebildet hatten und in lebhaften Erörterungen begriffen waren. Auch Frauen befanden sich darunter, und diese verstehen es, ihren Gedanken lauten Ausdruck zu geben, in Amerika mindestens ebenso gut, wie in sonst einem Lande der Alten Welt.

John Milner fühlte sich recht befriedigt, nur hätte er gern gewußt, wie ungeduldig man hier wäre, Tom Crabbe in Cincinnati noch nicht erblickt zu haben. Deshalb wendete er sich an den ehrsamen Dick Wolgod, seines Zeichens Händler mit feineren Fleischwaaren, der mit einem Hute auf dem Kopfe, in schwarzer Kleidung, doch mit der Arbeitsschürze darüber, an der Schwelle seiner Thür stand. Er betrat den Laden des Mannes und verlangte einen Schinken, für den er ja, wie wir wissen, stets bequeme Verwendung hatte. Nachdem er ohne zu handeln bezahlt hatte, begann er wie von ungefähr beim Fortgehen:

»Morgen beginnt ja wohl die Ausstellung . . .«

»Ja, ein hübsches Unternehmen,« antwortete Dick Wolgod, »eine Ausstellung, die unsrer Stadt zur Ehre gereichen wird.«

»Das wird in Spring Grove einen großen Zusammenlauf geben,« bemerkte John Milner.

»Die ganze Stadt wird draußen sein,« bestätigte Dick Wolgod mit der Höflichkeit, die jeder Charcutier einem Kunden schuldet, der ihm eben einen Schinken abgekauft hat. »Bedenken Sie nur, geehrter Herr, eine solche Ausstellung . . .«

John Milner spitzte die Ohren. Er war verdutzt. Wie konnte jemand ahnen, daß er die Absicht habe, Tom Crabbe in Spring Grove vorzuführen?

»Man fürchtet also,« fuhr er fort, »keine Verspätung, die doch möglich wäre?«

»Nicht im mindesten.«

Da eben ein neuer Kunde eintrat, ging John Milner in nicht geringer Bestürzung seines Weges. Man versetze sich auch nur in seine Lage . . .

Kaum hundert Schritte weiter gekommen, blieb er an der Ecke der fünften Querstraße plötzlich stehen, hob die Arme zum Himmel empor und ließ dabei seinen Schinken auf das Trottoir fallen.

Hier klebte an der Wand des Eckhauses ein Placat mit großer Schrift.

 

»Er kommt! . . . Er kommt!! . . . Er kommt!!! . . .
Er ist schon da!!!!«

 

war darauf zu lesen. Wahrlich, das überschritt alle Grenzen! In Cincinnati wußte man also bereits von der Anwesenheit Tom Crabbe's! . . . Man war sich darüber klar, daß bezüglich des dem Champion der Neuen Welt vorgeschriebenen Termins nichts zu befürchten sei! . . . Das erklärte also die freudige Stimmung, die in der Stadt herrschte, und die Befriedigung, die der Charcutier Dick Wolgod zu erkennen gegeben hatte? . . .

Ja, ja, es ist entschieden schwierig – sagen wir unmöglich – für einen berühmten Mann, den Unannehmlichkeiten der Berühmtheit zu entgehen, und es erschien nutzlos, Tom Crabbe in Zukunft mit dem Schleier des Incognitos zu verhüllen.

Andre, ausführlichere Maueranschläge beschränkten sich nicht auf die Mittheilung, daß er eingetroffen sei, sondern meldeten auch, daß er direct von Texas komme und auf der Ausstellung von Spring Grove zu sehen sein werde.

»Nein, das ist gar zu arg!« rief John Milner. »Man kennt hier meine Absicht, Tom Crabbe dahin zu bringen. Und ich . . . ich habe doch keinem Menschen ein Sterbenswörtchen davon gesagt! Doch, ich werde es vor Crabbe erwähnt haben, und Crabbe, der sonst nie den Mund aufthut, wird unterwegs davon gesprochen haben. Anders ist die Sache gar nicht denkbar!«

John Milner schlug hiermit schon den Weg nach dem Vorort Covington wieder ein, kehrte zum zweiten Frühstück in das Hôtel zurück, erwähnte aber gegen Tom Crabbe nichts über die von diesem unzweifelhaft begangene Indiscretion, sondern blieb nur, entschlossen, ihn jetzt noch nicht zu zeigen, den ganzen Tag bei ihm.

Am nächsten Morgen um acht Uhr begaben sich beide nach dem Strome, den sie auf der Hängebrücke überschritten, und betraten dann die Straßen der Stadt.

Die große nationale Thierschau sollte im Nordwesten derselben auf dem umplankten, als Spring Grove bekannten Platze stattfinden. Schon wälzte sich eine große Menschenmenge dahin, verrieth aber – John Milner mußte sich davon sofort überzeugen – keine Spur von besondrer Unruhe. Von allen Seiten drängten sich Scharen frohgestimmter, lärmender Leute heran, deren Neugier bald darauf gestillt werden sollte.

John Milner sagte sich vielleicht, Tom Crabbe werde vor dem Eintreffen in Spring Grove erkannt werden, erkannt an seiner Gestalt, seiner Haltung, seinem Gesicht, an seiner ganzen Persönlichkeit, die Abertausende von Photographien bis zu den kleinsten Ortschaften der Union populär gemacht hatten. Doch nein, kein Mensch kümmerte sich um ihn, keiner drehte sich um, wenn er vorüber kam, keiner schien eine Ahnung zu haben, daß dieser Koloß, der seinen Schritt ganz dem John Milner's anpaßte, der berühmte Faustkämpfer und obendrein ein Partner im Match Hypperbone sei, er, den der doppelt zu rechnende Wurf von zwölf Augen nach dem fünfunddreißigsten Felde, nach Cincinnati im Staate Ohio gewiesen hatte.

Die beiden Männer erreichten Spring Grove Schlag neun Uhr. Schon war der Ausstellungsplatz voller Besucher. Neben dem Geräusche von der Menschenmenge erschallte ringsum das Brüllen, Blöken und Grunzen der Thiere, von denen die besten die Ehre haben sollten, mit Preisen ausgezeichnet zu werden.

Hier fanden sich vorzüglich Vertreter der Rinder-, Schaf- und Schweinerassen, eine Menge Lämmer, Zuchtschweine und Eber der schönsten Sorten, neben Milchkühen und Ochsen, von denen Amerika jährlich viermalhunderttausend Stück allein nach England liefert. Hier paradierten mit diesen Königen der Thierzucht auch die »Cattlekings« selbst, die sich unter den Bürgern der Vereinigten Staaten der größten Achtung erfreuen. Im Mittelpunkte erhob sich eine erhöhte Plattform, worauf die Preisträger einzeln aufgestellt werden sollten.

Jetzt kam John Milner der Gedanke, sich durch die Leute nach jener Plattform zu drängen und seinen Gefährten hinaufzubugsieren.

»Hier steht er, Tom Crabbe, der Boxerchampion der Neuen Welt, der zweite Partner im Match Hypperbone!« wollte er den Zuschauern verkünden.

Welch eine Wirkung mußte diese unerwartete Erklärung ausüben, wenn sich die Leute plötzlich dem alle Köpfe erhitzenden Helden des Tages gegenübersahen!

So stieß er denn Tom Crabbe vor sich her, und wie geschleppt von einem kräftigen Zugdampfer theilte er die Wogen der Menschenfluth und wollte schon die Plattform erklimmen . . .

Der Platz war schon eingenommen . . . und von wem? Von einem Eber, einem ungeheuern männlichen Schweine, dem Abkömmling aus einer Kreuzung zweier amerikanischer Rassen, der Polant China- und Red Jerseyschweine – einem Eber, der in seinem dritten Jahre, wo er schon dreizehnhundert (amerikanische) Pfund wog, für zweihundertfünfzig Dollars verkauft worden war – einem phänomenalen Schweine von fast acht Fuß Länge und vier Fuß Höhe, mit einem Halsumfange von sechs, einem Körperumfange von siebeneinhalb Fuß und zur Zeit einem Gewicht von neunzehnhundertvierundfünfzig Pfund!

Dieses Musterexemplar der Ringelschwanzfamilie war es, das von Texas hierher gebracht worden war; ihm galten die Placate, die sein Eintreffen in Cincinnati meldeten! Der Eber war es, der am Vortage die öffentliche Aufmerksamkeit ausschließlich in Anspruch nahm – er, den sein glücklicher Besitzer unter dem frenetischen Jubel der Zuschauer ausstellte!

Vor diesem neuen Gestirn war das Tom Crabbe's jämmerlich erbleicht! Ein Riesenschwein, das auf der Thierschau von Spring Grove den ersten Preis erhalten sollte!

John Milner schwankte wie vor den Kopf geschlagen zurück. Dann gab er Tom Crabbe ein Zeichen, ihm zu folgen, schlug auf Umwegen die Richtung nach dem Hôtel ein und fühlte sich so enttäuscht, so herabgewürdigt, daß er sich hier in sein Zimmer einschloß, das er wieder zu verlassen sich weigerte.

Wenn sich für Cincinnati jemals Gelegenheit bot, den Beinamen Porcopolis, den ihm Chicago entrissen hatte, zurückzuerobern, so war das an jenem 30. Mai 1897 der Fall gewesen.

 


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