Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Zweiter Band
Jules Verne

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IV. Die grüne Flagge

Die grüne Flagge war die Harris T. Kymbale's, die Flagge, die auf den Karten aufgesteckt wurde, um sein Eintreffen in dem oder jenem Staate kenntlich zu machen und die dem vierten Partner in Uebereinstimmung mit der vierten Stelle im Sonnenspectrum, welche die grüne Farbe einnimmt, zuertheilt worden war. Der Hauptberichterstatter der »Tribüne« war damit sehr zufrieden . . . Grün ist ja die Farbe der Hoffnung.

Er hätte sich übrigens auch nicht über die Art und Weise zu beklagen gehabt, wie das Schicksal ihn als Tourist und als Spieler behandelte. Durch das erste Auswürfeln von zwölf Augen nach Neumexiko geschickt, war ihm jetzt durch zehn – vier und sechs – Augen das zweiundzwanzigste Feld, Südcarolina, an der Grenze des Bundesgebiets, und darin Charleston, dessen bedeutendste Stadt, als Ziel angewiesen. Es war ihm überdies nicht unbekannt, daß die Wettlustigen sich in den Agenturen um ihn rissen, daß er auf allen Märkten der Erde zum Satze von eins gegen neun »verlangt« war – ein Verhältnis das seine Mitbewerber nie erreicht hatten – und daß man ihn überall als Hauptfavoriten erklärt hatte.

Glücklicherweise hatte der Reporter bei der Abfahrt aus Santa-Fé es nicht gehört, wie Isidorio, der höchst praktische Wagenführer, erklärte, er werde nicht fünfundzwanzig Cents auf ihn zu verwetten wagen, und folglich vertraute Kymbale nach wie vor ruhig seinem guten Sterne.

In der Zeit vom 21. Mai bis zum 4. Juni sollte er sich nach dem südlichen Carolina begeben, und da die Reise von der Station Clifton aus mittelst Eisenbahn jedenfalls ohne Schwierigkeiten erfolgte, hatte er keine besondre Eile.

Harris T. Kymbale verließ Santa-Fé also am 21., und diesmal kam er mit einem reichlichen Trinkgelde davon und brauchte den neuen Kutscher nicht erst mit Hunderttausenden, nicht einmal mit Hunderten von Dollars zu ködern. Noch am Abend desselben Tages traf er in der Station Clifton ein, von wo aus das Dampfroß ihn nach Ueberschreitung des Breitengrades, der die Südgrenze des Staates Colorado bildet, in Denver, der Hauptstadt dieses Bundesstaates, absetzte.

Ohne Rücksicht auf die Bemerkung des ehrwürdigen Bürgermeisters von Buffalo, nach der er nicht sich selbst, sondern den Wettenden gehöre, die auf ihn gesetzt hätten, hielt Harris T. Kymbale hier folgendes Selbstgespräch und entwarf folgende Pläne:

»Da bin ich nun in einen der schönsten Theile der Union gekommen . . . mit den Felsengebirgen im Westen, im Osten mit den fruchtbarsten Ebenen, mit einem von Blei, Silber und Gold gespickten Erdboden, durch den Ströme von Petroleum hinfließen . . . nach einem Gebiete, nach dem sich Auswandrer durch seine Naturschätze und müßige Leute durch seine prächtigen Badeorte, die Heilsamkeit seines Klimas und die Reinheit seiner Atmosphäre gleichmäßig hingezogen fühlen! . . . Dazu kenne ich dieses herrliche Land noch nicht und habe jetzt die Gelegenheit, es kennen zu lernen. Kann ich wohl darauf rechnen, daß mich der Zufall im Verlaufe der Partie noch einmal hierher verschlüge? . . . Das ist doch gar zu unsicher. Nach Südcarolina zu gelangen, hab' ich andrerseits drei bis vier Staaten zu durchqueren, die ich bereits besucht habe und die mir nichts Neues zu bieten vermögen. Da ist es wohl am besten, die ganze mir verfügbare Zeit Colorado zu widmen, und das soll denn auch geschehen. Bin ich nur am Vormittage des 4. Juni in Charleston, so weiß ich nicht, was meine Partner gegen mich einwenden könnten. Uebrigens thu' ich, was mir gefällt, und die, denen das nicht paßt, ei nun, die mögen . . .« u. s. w. u. s. w.

Statt also auf der Bahn, die von hier aus Oaklay, Topeka und Kansas verbindet, seine Reise fortzusetzen, bezog Harris T. Kymbale am 21. ein hübsches Hôtel in der Hauptstadt Colorados.

Immerhin verweilte er nur fünf Tage, bis zum Abend des 26., in diesem Staate. Ein Reporter ist jedoch – das wird niemand wundernehmen – im Stande, in so kurzer Zeit mehr auszurichten, als jeder andre Mensch in der doppelten Frist. Das ist eine Sache des professionellen Trainings. Zum Beweise dürfte es genügen, einen Blick auf die Blätter des Notizbuchs zu werfen, dessen sich Harris T. Kymbale dann als Unterlage zu seinen Artikeln für die »Tribune« bediente.

»22. Mai. – Denver besichtigt. Elegante Stadt; breite, schattige Straßen, prächtige Läden, ganz wie in New York oder Philadelphia; Kirchen, Bankhäuser, Theater, Concertsäle, große Universität für den Fernen Westen; ungeheure Niederlagen; luxuriöse Hotels und Restaurants. Café Français; vorzüglich gut daselbst.

Denver gegründet 1858 an der Vereinigung des Cheery Creek und des Platte River. 1859 gab es hier erst drei Frauen. Dasselbe Jahr das erste Kind geboren. Zwanzig Jahre später fünfundzwanzigtausend Einwohner. Anhaltende Einwanderung. Heute nahezu hundertsiebentausend Seelen.

Denver genannt die Unvergleichliche, die Stadt ohne Rivalin. Luft erster Wahl, Sauerstoff erster Sorte, bei viertausendachthundertzweiundsiebzig Fuß (1485 Meter) Meereshöhe. Große Bergkette des Colorado im Westen, siebentausendfünfhundert Fuß (2286 Meter) hoch, unten ganz grün, am Gipfel stets weiß. Rund um die Stadt viele Landhäuser. Gewinne ich die Partie, so baue ich mir eins am Ufer des Cheery Creek, einem reizenden Plätzchen für eine Villegiatur. Werde Wagen, Pferde, Hunde, weiße und schwarze Diener haben. Bin vom Gouverneur des Staates sehr gut aufgenommen worden. Hat mich ermuthigt und gelobt, auch – ich glaube nicht ohne Ursache – eine große Summe auf mich gewettet.«

»23. Mai. – Ausflug bis nach den zu Städten herangewachsenen Bergmannsdörfern Auroria, Golden City, Golden Gate und Oro City, lauter Namen von gutem, doch nicht so lautem Klange wie Leadville, die Stadt des Bleies, wo jährlich von diesem einundsiebzigtausend Tonnen aus der Erde geholt werden. Eine neuere Stadt, für mich sie zu besuchen, zu fern.«

»24. Mai. – Mit der Eisenbahn bis Pueblo (südliches Colorado) längs des Fußes der großen Bergkette. Wichtiges Industriecentrum wegen der Steinkohlengruben und der Petroleumquellen. Kaufe eine oder zwei, wenn ich die Partie gewinne. Durch Colorado Springs, genannt die Stadt der Millionäre, gekommen; berühmt durch ihre warmen Quellen, von wirklichen oder angeblichen Kranken bereits viel besucht. Die Fontaine gesehen, das ist aber ein Fluß, der Colorado Springs durchzieht und sich bei Pueblo in den Arkansas ergießt, auch den merkwürdigen Monument Park mit seinen architektonischen Felsgebilden und seinem wunderbaren Panorama. Colorado steht in den Vereinigten Staaten an erster Stelle bezüglich der Ausbeute an Blei, an zweiter bezüglich der an Silber und Gold (jährlich über hundertzwanzig Millionen) und an dritter Stelle bezüglich seiner Oberfläche von hundertviertausend Quadratmeilen (299.500 Quadratkilometer).«

»25. Mai. – Zurückgekehrt aus der Schweiz – natürlich der amerikanischen – in der östlichen Verzweigung der Coloradokette; ebenso schön wie der Nationalpark von Wyoming und vielleicht schöner als die europäische Schweiz. Ich spreche freilich als Bürger der Vereinigten Staaten. Hier findet man im Norden, in der Mitte und im Süden unvergleichlich schöne Parke. Mit welchem Entzücken erinnere ich mich des Parks von Fair Play mit seinem Rahmen majestätischer Berge, auf die der vierzehntausend Fuß (4267 Meter) hohe Lincoln herniederschaut. Habe die Jumeauxseen bewundert in einer breiten, vom Arkansas durchströmten Thalschlucht, getrennt durch eine lange Moräne, der eine zweiundeinehalbe Meile (4 Kilometer) lang und anderthalb Meilen (2½ Kilometer) breit, der andre etwa halb so groß. Bliebe gern vierzehn Tage in dem guten Hotel von Derry. Habe schon beschlossen, ein Landhaus in Denver und zwei Kohlengruben in Colorado mit meinen zukünftigen Millionen anzukaufen. Warum sollte ich mir den Besitz einer Sennhütte am Ufer der Twin Lakes versagen? . . .

Die großen Pics der Felsenberge gesehen, die der Sierra Madre im höchstgelegenen Theile Amerikas, die Urgesteinmassen, die sich auf einer Bodenfläche von dreihundertfünfundsiebzig Meilen (571 Kilometer) Seitenlänge aufthürmen. Außer Rußland könnte man fast die größten Staaten Europas darauf unterbringen. Das wahrhafte Rückgrat Nordamerikas, das mit seinen westlichen Ausläufern ein Viertel der Vereinigten Staaten bedeckt. Nehmt die Alpen, die Pyrenäen und den Kaukasus zusammen, und das reichte noch nicht aus, die Felsengebirge aufzubauen.

Keine Zeit gehabt, nach dem Sainte-Croixberge zu gehen, der das Nordende der nationalen Bergkette bildet und 1873 von Hayden und Whitney bei deren Forschungsreise durch diese Gegend seinen Namen erhielt. Bin aber durch die Pforte des Gartens der Götter in diesen selbst (vier Meilen von Colorado Jonction) eingedrungen, einen Park ohnegleichen, dessen Felsbildungen versteinerten Riesen einer antediluvianischen Familie ähneln, und bin am Fuße des Teocalli hingewandert, der eine Art Burggrafenschloß darstellt, das in der luftigen Höhe von zweitausendfünfhundert Fuß (762 Meter) erbaut wäre.

Ich darf jedoch nicht säumen, nicht vergessen, daß der Gouverneur von Colorado und nicht wenige seiner Beamten, soviel ich weiß, auf mich gewettet haben. Am 26. also nach Denver zurückgekehrt, die Baustelle meines zukünftigen Landsitzes besichtigt, die von prächtigen Baumriesen an einem Arm des Cheery Creek beschattet wird.«

Harris T. Kymbale hat im Vorstehenden der Hauptstadt Colorados und dem gleichnamigen Staate nicht zu viel Schönes nachgesagt. Doch wie viel Blut hat der Boden dieses herrlichen Landes getrunken! Vor 1867 lagen hier die ersten Ansiedler in stetem Kampfe mit den Cheyennen, den Arrapahoen, den Kaysways, den Comanchen, Apachen und andern wilden Sippen der Rothhäute, die von grausamen Häuptlingen, wie Schwarzer Kessel, Weiße Antilope, Linke Hand, Verrenktes Knie, Kleiner Mantel u. a. angeführt wurden. Wer könnte je die schrecklichen Metzeleien von Sand Creek vergessen, die 1864 den Weißen unter Führung des Oberst Chivington zuerst die Herrschaft im Lande sicherten?

Den Nachmittag des 26. verbrachte die grüne Flagge in der glänzenden Hauptstadt. Hier war im Regierungspalaste zur Ehre des Reisenden eine große Gesellschaft versammelt worden. In den Vereinigten Staaten mißt man den Werth eines Mannes bekanntlich an seinem Vermögen, und in der Meinung der Coloradier wie seiner eignen Ansicht nach war Harris T. Kymbale sechzig Millionen Dollars werth. Er sah sich also von den prunkliebenden Amerikanern seinem Verdienste entsprechend gefeiert, von den Leuten, die Gold nicht nur in ihren Geldschränken, in ihren Taschen und ihrem Erdboden besitzen, sondern es auch noch in den Namen ihrer bedeutendsten Städte haben!

Am nächsten Tage, am 27. Mai, verabschiedete sich der vierte Partner vom Gouverneur, inmitten eines großen Zusammenlaufs ihm zujubelnder Leute. Der Zug verließ Denver, erreichte die Grenze beim Fort Wallace, durchmaß Kansas von Westen nach Osten, rollte dann durch Missouri an dessen Hauptstadt Jefferson City vorüber und hielt endlich an seinem östlichen Ziele am Abend des 28. im Bahnhofe von Saint-Louis.

Harris T. Kymbale beabsichtigte nicht, in dieser großen, ihm schon bekannten Stadt zu verweilen, und hoffte auch, durch die Wechselfälle des Spiels niemals hierher verwiesen zu werden, denn die Stadt entsprach dem zweiundfünfzigsten Felde, d. h. im Edeln Gänsespiele dem des Gefängnisses. Ueberdies versprachen ihm die Staaten, die er vor dem Eintreffen in Südcarolina berühren mußte, Tennessee, Alabama und Georgia, weit lohnendere Ausflüge. So erwählte er sich also nur eines der besten Hôtels von Saint-Louis, um hier eine Nacht der ihm recht nöthigen Ruhe zu pflegen und am nächsten Tage mit dem ersten Zuge weiter zu fahren.

Nichts schien seine Reise stören oder ihn verhindern zu sollen, am bestimmten Tage in Charleston zu sein. Und doch wär' er beinahe nicht rechtzeitig dort eingetroffen, ja es fast unmöglich geworden, je wieder zu reisen, und zwar infolge eines Zwischenfalles, den kein Mensch hätte voraussehen können.

Gegen siebeneinviertel Uhr schlenderte Harris T. Kymbale auf dem Perron des Bahnhofes dahin, um sich über die Abfahrtszeiten der Züge zu unterrichten, als er plötzlich an ein Individuum, das aus einem der Bureaus heraustrat, tüchtig anrannte oder von diesem angerannt wurde.

Das veranlaßte folgenden zarten Wortwechsel:

»Tölpel!«

»Dummkopf!«

»Sehen Sie doch vor sich hin!«

»Und Sie hinter sich!«

Noch weiter flogen kräftige Worte wie Revolverkugeln hin und her, wie das ja meist geschieht, wenn zwei Personen von lebhaftem Charakter und reizbarem Temperament aneinander gerathen.

Einer der beiden war das in hohem Grade, und das wird der Leser glauben, wenn er hört, daß der eine . . . Hodge Urrican war.

Harris T. Kymbale erkannte seinen Concurrenten.

»Der Commodore!« rief er.

»Der Zeitungsschreiber!« erhielt er zur Antwort mit einer Stimme, die aus einem Feuerschlunde zu kommen schien.

Es war in der That der Commodore Urrican, diesmal ohne seinen getreuen Turk, und man konnte es ein wahres Glück nennen, daß Turk sich jetzt nicht in den Streit, der dann in schlimmster Weise ausgeartet wäre, einmengen konnte.

Hodge Urrican hatte also nicht nur den Schiffbruch der »Chicola« überlebt, sondern auch Gelegenheit gefunden, Key West wieder zu verlassen. Doch wie? . . . Jedenfalls mußte er seine Reise ungemein beschleunigt haben, da er sich am 25. ja noch in Florida befand. Wahrlich, eine richtige Auferstehung vom Tode, denn nach seiner in so hoffnungslosem Zustande erfolgten Landung in Key West mußten seine Partner glauben, daß der Match der »Sieben« nur noch unter sechs Theilnehmern zum Austrag kommen werde.

Kurz, Hodge Urrican war in Saint-Louis, und zwar mit Fleisch und Bein, wovon sich sein Mitbewerber eben bei dem Zusammenprall überzeugt hatte, doch mit noch schlechterer Laune als je. Das erscheint begreiflich; befand er sich doch auf dem Wege nach Californien mit der Verpflichtung, nach Chicago zurückzukehren und die Partie unter Erlegung des dreifachen Einsatzes wieder von vorn anzufangen.

Harris T. Kymbale, eine gutmüthige Natur, glaubte etwas einlenken zu sollen.

»Meine besten Glückwünsche, Commodore Urrican,« sagte er, »denn ich sehe, daß Sie ja nicht todt sind . . .«

»Nein, mein Herr, auch nicht getödtet durch die Rempelei eines Tölpels und völlig im Stande, die unter die Erde zu bringen, die sich ohne Zweifel schon freuten, mich nie wieder auftauchen zu sehen!«

»Und das sagen Sie mir?« fragte der Reporter, die Stirn runzelnd.

»Ja, Herr,« erwiderte Hodge Urrican, der seinem Gegner scharf ins Auge sah, »ja, Sie Herr großer Favorit!«

Es hörte sich an, als ob er das Wort kaute, es zwischen den Backzähnen zermalmte.

Harris T. Kymbale, der auch nicht allzuviel ertrug und allmählich warm wurde, antwortete:

»Mir scheint, nach Californien zu fahren, um nach Chicago zurückzukehren, das lehrt die Leute wenig höflich zu sein!«

Damit berührte er beim Commodore den wundesten Punkt.

»Sie beleidigen mich, Herr!« rief er.

»Nehmen Sie es auf, wie Sie wollen!«

»Nun, ich nehme es schlecht auf, und Sie werden mir für Ihre Unverschämtheit Genugthuung geben!«

»Auf der Stelle, wenn Sie wollen!«

»Ja, wenn ich Zeit hätte,« knurrte Hodge Urrican, »doch ich habe keine.«

»So nehmen Sie sich welche!«

»Nehmen? . . . Jetzt nehme ich nur den eben abgehenden Zug, den ich nicht verpassen darf!«

In der That pfiff schon die Locomotive und der in Dampfwolken eingehüllte Zug begann sich in Bewegung zu setzen. Es war keine Secunde mehr zu verlieren. Der Commodore schwang sich auf das Trittbrett zwischen zwei Wagen.

»Herr Journalist,« rief er mit Donnerstimme noch herunter, »Sie werden von mir hören . . . werden Nachricht erhalten . . .«

»Wann denn?«

»Noch heute Abend . . . im European Hotel.«

»Ich werde zur Stelle sein, antwortete Harris T. Kymbale.«

»Ah . . . schön,« fuhr er für sich fort, als der Zug die Halle verlassen hatte, »da hat sich der Querkopf aber gründlich getäuscht . . . er ist ja gar nicht in den nach Omaha gehenden Zug gestiegen! Jetzt fährt er dahin, wo er gar nichts zu suchen hat! Doch gleichgiltig . . . das geht ja ihn allein an!«

Thatsächlich rollte der Zug in östlicher Richtung hinaus, in der, die Harris T. Kymbale einzuschlagen hatte, um nach Charleston zu kommen.

Dennoch hatte sich Hodge Urrican nicht geirrt . . . er kehrte nämlich nur nach der nächsten Station, Herculanum, zurück, wo Turk ihn erwartete. Wegen seines zurückgebliebenen Koffers war es nämlich zwischen dem Commodore und dem Bahnhofsvorsteher von Herculanum zu einer erregten Auseinandersetzung gekommen, zu einem Wortwechsel, in dessen Verlaufe Turk genanntem Vorsteher drohte, ihn in die Feuerbüchse einer seiner Locomotiven zu stecken. Sein Herr hatte ihn beruhigt; sofort benutzte dieser aber einen eben abgehenden Zug, um im Bahnhofe von Saint-Louis seine Reclamation persönlich anzubringen. Die Sache war leicht genug zu ordnen; der Koffer sollte telegraphisch verlangt und sofort nach Herculanum befördert werden, und in dem Augenblick, wo Hodge Urrican das Vorstandsbureau verließ, um auch nach Herculanum zurückzukehren, war es zu jenem Zusammenstoß mit dem Berichterstatter gekommen.

Da sein Gegner jedoch abgefahren war, schlug sich Harris T. Kymbale den ganzen Zwischenfall aus dem Sinne. Er begab sich nach dem European Hotel zurück, in dem er zufällig selbst abgestiegen war. Nach der Tafel unternahm er einen längeren Spaziergang durch die Stadt, und als er davon zurückkehrte, händigte man ihm einen Brief ein, der mit dem letzten Zuge von Herculanum gekommen war.

Wahrlich, es bedurfte eines chemisch zusammengesetzten Gehirns wie dessen, das unter dem Schädeldache Hodge Urrican's glühte, eine Epistel wie die nachfolgende aufzusetzen.

»Herr vierter Partner – Sie besitzen ohne Zweifel einen Revolver, so gut wie ich. Ich werde morgen früh um sieben den Zug benutzen, der von Herculanum nach Saint-Louis abgeht. Ich fordre Sie auf, zu gleicher Stunde den von Saint-Louis nach Herculanum gehenden Zug zu benutzen. Das ändert nichts weder an Ihrer Reiseroute noch an der meinigen.

Diese beiden Züge kreuzen sich um sieben Uhr siebzehn Minuten. Wenn Sie nicht der Mann sind, andre Leute nur zu stoßen, sie zu insultieren, ohne ihnen Genugthuung zu geben, so stehen Sie zum angegebenen Zeitpunkte, und zwar allein, auf dem hintern Trittbrett des letzten Personenwagens vor dem Gepäckwagen, sowie ich mich auf dem Trittbrett des letzten Wagens meines Zuges befinden werde – da werden wir Gelegenheit haben, ein paar Kugeln zu wechseln.

Commodore Hodge Urrican.«

Man sieht es, immer der schreckliche Mann, und noch hatte er Turk nichts von dem vorliegenden Streite, noch von der Herausforderung gesagt, aus Furcht, die Sachlage weiter zu verschlimmern.

Um aber einen seiner würdigen Gegner zu finden, hätte er sich an seinen Bessern als an den Berichterstatter der »Tribüne« wenden können. Dieser fühlte sich ganz auf der Höhe der Situation.

»Nun, wenn dieser Salzhäring sich etwa einbildet, daß ich vor ihm zur Kreuze krieche,« rief er, »so täuscht er sich gewaltig! . . . Ich werde zur angegebenen Zeit auf meinem Trittbrett ebenso stehen, wie er auf dem seinigen! Die grüne Flagge eines Journalisten senkt sich nicht vor der orangefarbenen Flagge eines Commodore!«

Man beachte hierzu wohl, daß in Amerika alle Dinge möglich sind und daß man über diesen seltsamen Zweikampf deshalb gar nicht zu staunen braucht.

Am folgenden Tage kurz vor sieben Uhr begab sich Harris T. Kymbale also nach dem Bahnhofe, um den Zug zu benutzen, der über Herculanum nach Columbus an der Grenze von Tennessee geht. Nachdem er einen Platz im letzten Personenwagen, der durch ein Trittbrett mit dem Gepäckwagen in Verbindung stand, gewählt hatte, setzte er sich hier seelenruhig zurecht. Siebzehn Minuten sollten ja noch verstreichen, ehe er sich nach dem Kampfplatz zu begeben hatte.

Die Luft war frisch, der Wind ziemlich stark, und so kam jedenfalls niemand der Gedanke, sich während der schnellen Fahrt außerhalb der Wagen aufzuhalten.

Der Waggon, worin Harris T. Kymbale saß, zählte nur zwölf Passagiere.

Als der Reporter zum erstenmale nach der Uhr sah, wies sie auf fünf Minuten nach sieben. Er brauchte also nur noch zwölf Minuten zu warten, und er wartete mit einer Ruhe, die seinem Gegner jedenfalls abging.

Um sieben Uhr vierzehn Minuten stand er auf, nahm auf dem Trittbrette Platz, zog den Revolver aus der Hosentasche, überzeugte sich, daß alle Kammern geladen waren und wartete nun der Dinge, die da kommen sollten.

Sechzehn Minuten nach sieben Uhr vernahm man vom andern Gleise her ein zunehmendes Rollen – es kam von dem Zuge, der unter Volldampf von Herculanum heranbrauste.

Harris T. Kymbale erhob den Revolver bis zur Stirnhöhe, bereit, ihn in die Horizontale zu senken.

Die Locomotiven flogen aneinander vorüber und schleppten dichte Wolken weißen Dampfes hinter sich her.

Eine halbe Secunde später krachten gleichzeitig zwei Schüsse.

Harris T. Kymbale fühlte den Luftzug von einer Kugel, die seine Wange fast streifte und der er Schlag auf Schlag Antwort gegeben hatte.

Dann verloren sich beide Züge schnell in der Ferne.

Man darf nicht etwa glauben, daß die Passagiere des Waggons sich, weil sie zwei Schüsse hörten, etwa aufgeregt hätten – nein, das war dazu nicht angethan. Auch Harris T. Kymbale nahm, ohne zu wissen, ob der Commodore im Fluge getroffen worden war, ruhig seinen Platz wieder ein.

Dann ging die Fahrt weiter nach Nashville, der jetzigen Hauptstadt von Tennessee am Cumberland River, einer gewerb- und handelsthätigen Stadt von sechsundsiebzigtausend Seelen, ferner nach Chattanooga, ein Name, der in der Cherokesensprache »Das Rabennest« bedeutet – und es ist auch ein strategisches Nest erster Ordnung, am Eingang der Pässe, durch die sich Sherman den Durchmarsch mit dem föderierten Heer erzwang. Von hier aus zog er damals durch den Staat Georgia, der seiner Lage wegen den Namen »Der Schlüssel zum Süden«, wie Pennsylvanien den »Der Schlüssel zum Norden«, erhalten hat.

Nach dem Secessionskriege ist Atlanta, zum Andenken an seinen langen Widerstand, zur Hauptstadt von Georgia erhoben worden. Die in mehr als hundertfünfzig Toisen Höhe und an der Mündung der gangbaren »Schluchten der Appalachen« gelegene Stadt, erfreut sich des besten Gedeihens und ist jetzt auch die volkreichste des Staates.

Nachdem der Zug durch Georgia bis zur Stadt Augusta am Savannahflusse, wo sich große Baumwollspinnereien befinden, dahingeeilt war, gelangte er nach dem Gebiet von Südcarolina, vorüber an der Augusta gegenüberliegenden Stadt Hamburg, und hielt endlich an seinem Ziele Charleston an.

Am Abend des 2. Juni war es, wo der Reporter diese weitbekannte Stadt erreichte, und zwar von Santa-Fé in Neumexiko nach einer Fahrt von etwa fünfzehnhundert Meilen (2500 Kilometer) – einer Reise, bei der sich das feindliche Zusammentreffen mit Hodge Urrican abspielte.

Hier (in Charleston) berichteten die Zeitungen auch schon über die Passage der beiden Unzertrennlichen, des Commodore und Turk's, durch Ogden am 31. Mai, wo diese sich in größter Eile nach den entlegenen Gebieten Kaliforniens begaben.

»Wahrhaftig, so ist es ja am besten,« sagte sich Kymbale. »Ich bedaure es nicht, ihn gefehlt zu haben. Es ist ein Bär, sogar ein Seebär, doch immerhin ein Bär in Menschengestalt!«

Die Zeitungen enthielten übrigens keine Andeutung über das Duell auf der Bahnlinie, von dem nur die zwei Personen etwas wußten, die dabei eine Rolle gespielt hatten, und niemals würde, wenn nicht einer der beiden davon sprach . . . freilich, auf die Verschwiegenheit eines Lieferanten von interessanten Vorfällen zu rechnen . . .!

Auf den nahe der Küste von Südcarolina gelegenen Inseln war es, wo sich die ersten französischen Ansiedler niedergelassen hatten. Nimmt dieser Staat bezüglich seiner Ausdehnung auch nur die neunundzwanzigste Stelle unter den Bundesstaaten ein, so hat er doch nicht weniger als elfhundertzweiundfünfzigtausend Einwohner. Er ist reich durch seine langstapelige feine Baumwolle, durch seine Ernten an vortrefflichem Reis und er enthält auch große Phosphatlager. Leider war er durch den Bürgerkrieg arg heimgesucht worden. Viele Eigenthümer mußten damals ihren Grund und Boden verkaufen, der damit jüdischen Wucherern in die Hände fiel. Man trifft hier noch recht viele Franzosen, Nachkommen jener Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edicts von Nantes ihre Heimat verlassen mußten, doch sind, wie Élisée Reclus bemerkt, deren Namen im Laufe der Zeit meistentheils anglisiert worden.

Dieser Staat, in dem die Neger drei Fünftel der Bevölkerung bildeten, war der erste gewesen, der die Secessionsacte proclamierte, so daß die Bundestruppen jener Zeit in seinem Gebiete nur das Fort Sumter bei Charleston besetzt halten konnten.

Seine Hauptstadt ist Columbia, ein hübsches Städtchen mit fünfzehntausend Einwohnern, das unter den Kronen von Magnolien und Eichen fast verborgen liegt. Beaufort auf den Sea Islands, mit seinen Hafenanlagen von Port Royal, hält als Ausfuhrplatz für Baumwolle und Reis der Hauptstadt die Wage. Immerhin bleibt letztere die erste Stadt Südcarolinas, das im Congreß durch zwei Senatoren und sechs Abgeordnete vertreten ist und sechsundvierzig Senatoren neben hundertvierundzwanzig Abgeordneten in der eignen Gesetzgebenden Versammlung zählt.

Südcarolina ist seiner Größe nach, wie erwähnt, der neunundzwanzigste, seiner Volkszahl nach der zweiundzwanzigste Bundesstaat. Im südlichen Theile von den letzten Verzweigungen der Blauen Berge erfüllt, erfreut es sich eines sehr gesunden und gemäßigten Klimas.

Sein Boden erzeugt im Ueberfluß Weizen, Hanf und Tabak, der dem von Virginia mindestens gleichkommt. In der Mitte des Landes eignet es sich mehr für die Maiscultur und im Süden für den Anbau von Baumwolle und Reis. Abgesehen von der Ausbeutung seiner ungeheuern Wälder, bieten hier Eisen- und Bleibergwerke, Marmorbrüche, Goldadern und Ockerlager der Industrie lebhafte Beschäftigung. Während der Winter außerordentlich mild auftritt, herrscht im Juni oft eine sehr starke Wärme. Schon vom Februar an erwacht gewöhnlich die Vegetation, und die Sprossen der Ahornbäume zeigen dann bereits die Spitzen ihrer rothen Blüthen.

Harris T. Kymbale kannte Charleston noch nicht, die Stadt, der der traurige Ruf, der Hauptsitz der Sclavereifreunde zu sein, anhaftet. Ihre Lebenszähigkeit ist so stark, daß sie trotz einer Reihe furchtbarer Katastrophen, trotz der Verwüstungen, denen sie mehrfach durch Feuer, Wasser und Erdstöße und nicht wenig auch durch das Gelbe Fieber ausgesetzt war, ihrer Zerstörung oder ihrem Niedergange immer hartnäckig widerstanden hat.

Auf einer niedrigen Halbinsel zwischen den seichten Mündungen des Ashtley und des Cooper und im Hintergrunde eines Hafens mit zwei Eingängen erheben sich, zwischen Alleen und Quaianlagen, das Handelsviertel Charlestons und seine Wohnhäuser, die alle mit Veranden versehen und von Magnolien, Granat- und üppig grünen Zedrachbäumen beschattet sind. Etwas außerhalb, auf Eilanden und vorspringenden Landspitzen, liegen mehrere Festungswerke, darunter das Fort Moultrie, das eines der Arsenale der Union und Südcarolinas bildet.

Der Hauptberichterstatter der »Tribune« war und blieb das gehätschelte Glückskind. Keine Ueberschwemmung, keine Feuersbrunst, kein Erdbeben suchte Charleston heim, als er hier angekommen war, nicht einmal eine Epidemie von Vomito negro machte sich bemerkbar. Die wegen der Vornehmheit ihrer Sitten und der Höflichkeit ihrer Bewohner allgemein bekannte und geschätzte Stadt zeigte sich ihm also im vollen Glanze. Gewiß sollten die wenigen Tage, die das Geschick ihm hier zu verweilen erlaubte, seinem Gedächtnisse niemals entschwinden.

Wollte man sagen, daß Harris T. Kymbale hier mit Begeisterung empfangen worden wäre, so bliebe das hinter der Wahrheit zurück, es verband sich damit vielmehr eine Art Delirium bezüglich des Partners, den die Stadt als den Auserkorenen von den »Sieben« ansah. Die andern zählten gar nicht mit. Für die Charlestoner gab es nur einen einzigen . . . den, den der Wurf von zehn Augen ihnen zugesendet hatte. Was die Millionen des seligen Hypperbone betraf, so war es so gut, als hätte er sie bereits in der Tasche.

Achtundvierzig Stunden lang drängte eine Einladung die andre, ohne daß der populäre Reporter sie ablehnen konnte, ebenso wenig wie kleine Ausflüge in die Umgebung, wo die Orangen im Freien wachsen! An den von auffallenden Placaten bedeckten Mauern prangte der Name Harris T. Kymbale's in leuchtender Schrift und am Abend in großen, durch elektrische Glühlampen gebildeten Buchstaben.

Ein so ausgezeichnet aufgenommener Gast nahm gegen die Stadt eine große Schuld der Dankbarkeit auf sich. Er beabsichtigte auch, wenn er die Partie gewönne – so erklärte er – in Charleston ein Hospiz für arme Leute ohne Familie zu gründen. Hier ist auch einzufügen, daß eine Menge von Bedürftigen bei der zuständigen Behörde ihre Namen vormerken ließen, um sich die ersten Plätze in jener wohlthätigen Anstalt zu sichern. Man sieht, der zukünftige Gewinner zeigte sich in Charleston in Südcarolina noch freigebiger und edler als in Denver in Colorado.

Inmitten aller jener Festlichkeiten kam der Abend des 3. Juni heran. Vermittelst freiwilliger Zeichnung war ein glänzendes Bankett vorbereitet worden. Es sollte unter dem prächtigen Baumschatten etwas vor der Stadt nach der Mündung des Ashtley zu stattfinden. Die Menge der Theilnehmer begab sich dahin in großartigem Aufzuge mit flatternden Fahnen, die die Farben unsres Helden des Tages zeigten. Wir können hier nicht näher auf diese Schmauserei eingehen, da es doch unmöglich wäre, eine richtige Vorstellung von der Mannigfaltigkeit der Speisen oder von dem Prunk der Tafelausstattung zu erwecken.

Genüge es zu wissen, daß das Hauptgericht aus einer ungeheuern, achttausend Pfund schweren Pastete bestand, die in einem riesigen Ofen gebacken worden war und auf einem von zwölf Pferden gezogenen Wagen nach dem Festplatze gebracht wurde. Die Herstellung dieser Pastete erforderte zweitausendvierhundert Pfund Rindfleisch, vierhundert Pfund Kalb- und ebensoviel Lammfleisch, fünfhundertsechzig Pfund Schweinefleisch, hundertzwanzig Pfund Butter, dreihundertsechzig Pfund Speck, sechsundsiebzig Kaninchen, hundertachtundachtzig Hühner, zweihundert Tauben, zweitausendachthundert Pfund Mehl und zweihundertvierzig Stück Wildpret. Das riesige Backwerk maß vierzehn Fuß in der Breite, vierundzwanzig Fuß in der Länge und sechs Fuß in der Höhe. Mit fünf Fuß langen Messern zerlegten es zwanzig Köche, um damit mehrere tausend Personen zu befriedigen, denen daneben noch fünftausend Würstchen aufgetragen worden waren.

Dann brauste der Jubel los, den der Westwind weit aufs Meer hinaus trug.

»Hurrah für Harris T. Kymbale! . . . Hurrah für den vierten Partner! . . . Hurrah für die grüne Flagge! . . . Hurrah für den großen Favoriten des Match Hypperbone!«

 


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