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Jeli, der Pferdehüter, war dreizehn Jahre alt, als er Alfonso, den jungen Herrn, kennen lernte; aber er war so klein, daß er nicht einmal bis an den Bauch der weißen Stute reichte, mit der großen Glocke am Halse. Man sah ihn bald da, bald dort, auf den Bergen und im Tal, wo seine Tiere weideten, aufrecht und unbeweglich auf irgendeinem grünen Plätzchen, oder zusammengekauert auf einem großen Stein. Sein Freund Alfonso kam, wenn er auf dem Lande war, jeden Tag, den Gott über Tebidi kommen ließ, ihn aufsuchen und teilte mit ihm sein Stückchen Schokolade und das Weizenbrot und das Obst, das er den Nachbarn geraubt. Anfänglich nannte Jeli den jungen Herrn »Exzellenz«, wie das in Sizilien Brauch ist; aber nachdem sie einmal heftig in Streit geraten waren, wurde ihre Freundschaft eine dauernde und feste.
Jeli lehrte seinen Freund, wie man es machen muß, um bis zu den Nestern der Elstern emporzuklettern, auf die Gipfel der Nußbäume, die höher waren als der Glockenturm von Licodia; um einen Spatzen im Fluge mit einem Steinwurf zu töten, und um sich mit einem Sprunge auf den nackten Rücken seiner halbwilden Tiere zu schwingen, indem man das erstbeste an der Mähne erfaßte, ohne sich durch das zornige Wiehern und die verzweifelten Sprünge der ungezähmten Fohlen einschüchtern zu lassen.
Ah! Die schönen Ritte über die Stoppelfelder; mit fliegenden Mähnen! Die schönen Frühlingstage, wenn der Wind über die grünen Wiesen strich und die Stuten auf den Weiden wieherten! Die schönen Sommernachmittage, wenn alles auf den Feldern ringsum schwieg und die Landschaft in weißlicher Dunsthülle dalag, über die sich der Himmel bleischwer ausbreitete; wenn die Grillen zwischen den Schollen zirpten, als fingen die Stoppeln Feuer, und die Lerchen hoch oben in den blauen Lüften trillerten! Der schöne Winterhimmel, wenn die kahlen Zweige der Mandelbäume im Nordwind schaudernd ächzten und der gefrorene Steinboden unter den Hufschlägen der Pferde knirschte! … Die schönen Sommerabende, die sich langsam herabsenkten; der gute Duft im Heu, in das man die Ellenbogen vergrub, und das schwermütige Surren und Summen der Insekten, und jene zwei Töne von Jelis Pfiff, immer dieselben – juh! juh! juh! – bei denen man an vergangene Dinge denken mußte: an das San Giovanni-Fest, an die Weihnacht, an das Morgengrauen auf der Weide, an alle jene vergangenen Ereignisse, die uns, da sie fernliegen, so traurig stimmen und unsere Augen mit Tränen füllen, während wir aufwärtsblicken und es uns ist, als ob alle Sterne, die am Himmel erglänzten, in unser Herz hinabfielen und es weiteten!
Jeli aber litt nicht unter dieser Schwermut; er kauerte auf dem Boden mit glühenden Wangen und pfiff eifrig: juh! juh! juh! Dann vereinigte er die Herde durch Rufe und Steinwürfe und trieb sie in den Stall, dort hinter dem »Kreuzhügel«.
Keuchend erkletterte er die Anhöhe jenseits des Tales und rief manchmal seinem Freunde Alfonso zu: »Ruf den Hund! Hallo, ruf den Hund,« oder: »Wirf ein paar Steine nach dem ›Schwarzen‹, der mir zu viel den Herrn spielt und zu langsam herankommt,« oder: »Bring mir morgen eine große Nadel von Frau Lia.«
Er wußte jede Art von Näharbeit zu machen und er hatte stets ein Bündel Lumpen in seiner Leinentasche, um nötigenfalls die Hosen oder die Ärmel der Joppe zu flicken; er verstand auch, den Pferden die Zöpfe zu flechten, und er reinigte auch selber mit der Kreide, die er im Tale fand, das Tuch, das er um den Hals band, wenn es kalt war. Kurz, wenn er seine Tasche umgeworfen hatte, brauchte er keinen Menschen auf der Welt, weder in den Wäldern von Resecone, noch in der Ebene von Caltagirone, wo er sich manchmal verlief. Frau Lia pflegte zu sagen: »Seht Ihr Jeli, den Hirten? Er ist immer allein auf den Feldern gewesen, als wäre er von seinen Pferden aufgezogen worden, und deshalb weiß er, ohne daß es ihm jemand gelehrt hat, ganz gut, wie man das Kreuz macht!«
Tatsache ist, daß Jeli keines Menschen bedurfte; aber alle in der Faktorei hätten sehr gerne etwas für ihn getan, denn er war ein gefälliger Junge, und es gab stets Gelegenheit, sich von ihm irgendeinen Dienst erweisen zu lassen. Frau Lia buk ihm aus Nächstenliebe das Brot, und er entschädigte sie, indem er ihr kleine Körbchen aus Weidenruten für ihre Eier flocht, Garnwinden aus Schilf schnitzte und andere Sächelchen machte.
»Machen wir es wie seine Tiere,« sagte Frau Lia, »die sich gegenseitig den Hals krauen.«
In Tebidi kannten ihn alle von klein auf, als er noch zwischen den Pferden verschwand, wenn sie auf der »Friedens-Höhe« weideten, und er war, man kann sagen, unter ihren Augen aufgewachsen, obwohl ihn eigentlich nie jemand sah und er stets da und dort mit seiner Herde umherstrich und überall herumlungerte! »Er war vom Himmel gefallen und die Erde hatte ihn aufgenommen«, wie das Sprichwort sagt; er war wirklich einer von jenen, die weder Haus noch Angehörige haben. Seine Mutter stand im Dienst in Vizzini, und er sah sie bloß einmal im Jahre, wenn er mit den Fohlen auf die Messe von San Giovanni ging. Und an dem Tage, an dem sie gestorben war, war man gekommen, ihn zu rufen; es war Samstagabend, und Montag kehrte Jeli zur Herde zurück, so daß der Bauer, der statt seiner die Pferde gehütet hatte, nicht einmal einen Tag verloren hatte; aber der arme Junge war so verwirrt zurückgekommen, daß er die Füllen ein paarmal in die Saat laufen ließ.
»Oha! Jeli!« rief ihm dann Meier Agrippino von der Tenne zu, »willst du, daß ich dich den Knüttel fühlen lasse, du Hundesohn?«
Jeli lief hinter den einzeln flüchtenden Fohlen her und trieb sie nach und nach dem Hügel zu; aber vor seinen Augen schwebte ihm immer die Mutter, die, den Kopf in das weiße Tuch eingehüllt, nicht mehr zu ihm sprach.
Sein Vater war Kuhhirt in Ragoleti, hinter Licodia, »wo man die Malaria greifen konnte«, wie die Bauern der Umgegend sagten; aber auf dem Boden der Malaria ist die Weide fett … und die Kühe bekommen kein Fieber. Jeli blieb das ganze Jahr im Freien, entweder in der Ferrante oder in den umzäunten Feldern der Commenda oder im Tale des Jacitano, und die Jäger oder die Fußgänger, welche die kürzeren Pfade einschlugen, sahen ihn immer da und dort, wie einen Hund ohne Herrn.
Er litt darunter nicht, denn er war gewohnt, mit den Pferden zu leben, die vor ihm hergingen, Schritt für Schritt, und den Klee entblätterten, und mit den Vögeln, die zu Hunderten um ihn herflogen, so lange die Sonne ihren langsamen Weg machte, bis die Schatten sich verlängerten und dann ganz verschwanden. Er hatte Zeit, die Wolken zu betrachten, wie sie sich zusammenballten und nach und nach Täler bildeten; er wußte, wie der Wind wehte, wenn er ein Unwetter bringt und welche Farbe die Wolken haben, bevor es schneit. Jedes Ding hat seine Form und seine Bedeutung, und es gab zu allen Stunden des Tages immer irgend etwas zu sehen und zu hören.
Und wenn der Hirt beim Sonnenuntergang mit dem Holunderpfeifchen zu spielen begann, da näherte sich die schwarze Stute, den Klee nur träge und mit Widerwillen kauend, und schaute ihn an, mit großen, träumenden Augen.
Wenn er ein wenig Schwermut verspürte, so war es bloß in den einsamen Höhen von Possanitello, wo es weder Rasen noch Sträucher gibt und wo in den heißen Monaten kein Vogel fliegt. Die Pferde scharten sich im Kreise mit gesenkten Köpfen, um einander gegenseitig Schatten zu machen, und in den langen Tagen, da gedroschen wurde, herrschte dort die große stille Schwüle immer gleichförmig und drückend, sechzehn Stunden lang.
Aber wo die Weide üppig war und die Pferde gerne verweilten, da beschäftigte sich der Knabe immer mit irgend etwas Neuem: er machte Käfige aus Schilf für die Grillen, er schnitzte Pfeifen und flocht Körbchen aus Binsen; aus vier Zweigen wußte er eine Art Schirmdach herzustellen, wenn der Nordwind endlose Züge von Raben durch das Tal trieb oder wenn die Zikaden ihre Flügel in der Sonne aneinanderrieben und die Glut die Stoppeln versengte; er briet die Eicheln auf dem Feuer, das er mit dem Reis des Färberbaumes anmachte, und das lebhaft knisterte, oder er schmorte die breiten Brotscheiben, wenn das Brot Schimmel anzusetzen begann. Später, wenn er sich im Winter auf den Sandebenen von Possanitello befand, waren die Wege so schlecht, daß zuweilen vierzehn Tage vergingen, ehe er einer menschlichen Seele begegnete.
Herr Alfonso, der von seinen Eltern ganz in Wolle gekleidet wurde, beneidete seinen Freund Jeli um die Leinentasche, in der er seine ganze Habe trug: das Brot, die Zwiebel, ein Fiaschetto Wein, das Halstuch, das Häufchen Lumpen mit dem Bindfaden und den dicken Nadeln, die Blechbüchse mit dem Zunder und dem Feuerstein; er beneidete ihn um die herrliche gescheckte Stute mit der krausen Mähne und den bösen Augen, die die Nüstern drohend aufblies und die Zähne fletschte gleich einem grimmigen Hunde, wenn jemand sie besteigen wollte. Von Jeli dagegen ließ sie sich reiten und die Ohren krauen, und sie sah ihn klug an und hörte ihm zu, wenn er zu ihr sprach, als verstünde sie ihn.
»Laß die Schecke gehen,« gemahnte Jeli den jungen Herrn, »sie ist nicht bösartig, aber sie kennt dich nicht.«
Nachdem Scordu aus Bucchiera die kalabresische Stute, die er in San Giovanni gekauft, mit sich fortgeführt hatte unter der Bedingung, daß man sie ihm bis zur Weinlese in der Herde halte, wollte das verwaiste dunkelbraune Fohlen sich nicht trösten, und es strich auf den Bergesabhängen herum, mit langen klagenden Wieherlauten und mit aufgeblähten Nüstern.
Jeli lief hinterher und lockte es mit lauten Rufen, und das Fohlen blieb stehen und horchte mit gespanntem Halse und unruhigen Ohren, sich die Hüften mit dem Schweife peitschend.
»Seitdem sie ihm die Mutter fortgeführt haben, weiß es nicht mehr, was es beginnen soll,« bemerkte der Hirt; »nun darf man es nicht aus den Augen lassen, denn es wäre imstande, in den Abgrund zu stürzen. Auch ich wußte nicht, wo ein und wo aus, als mir meine Mutter gestorben war.«
Dann, nachdem das Fohlen den Klee gewittert und widerwillig eine Handvoll gefressen hatte, sagte er: »Siehst du! Nach und nach fängt es an zu vergessen.«
»Aber es wird auch verkauft werden wie die anderen. Die Pferde sind dazu da, um verkauft zu werden, ebenso wie die Schafe geboren werden, um zur Schlachtbank zu gehen, und wie die Wolken den Regen bringen. Nur die Vögel haben nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag zu singen und zu fliegen.«
Die Gedanken kamen ihm nicht klar und der Reihe nach, denn nur selten hatte er Gelegenheit, mit jemand zu sprechen, und deshalb beeilte er sich nicht, sie aus seinem Hirn loszulösen und zu entwickeln, sondern sie entstanden nach und nach und sproßten daraus hervor wie die Knospen der Bäume im Sonnenschein.
»Auch die Vögel,« fügte er hinzu, »müssen sich ihre Nahrung selbst suchen, und wenn der Schnee die Erde bedeckt, sterben sie.«
Dann dachte er eine Weile darüber nach.
»Du bist wie die Vögel; aber wenn der Winter kommt, darfst du am Feuer stehen, ohne etwas zu tun.«
Der junge Herr Alfonso erwiderte, daß er auch in die Schule gehe, um zu lernen. Jeli sperrte die Augen auf, als er das hörte, und er war ganz Ohr, wenn der junge Herr zu lesen anfing; er sah das Buch und ihn mit mißtrauischer Miene an und lauschte mit jenem leichten Augenblinzeln, das auch die angespannte Aufmerksamkeit jener Tiere begleitet, die dem Menschen am nächsten stehen. Er fand Gefallen an den Versen, die sein Gehör mit dem Wohlklang des unverstandenen Liedes umschmeichelten, und manchmal zog er die Brauen zusammen, spitzte das Kinn, und es schien, als vollzöge sich eine mühsame Arbeit in seinem Innern; dann nickte er unaufhörlich bejahend mit schlauem Lächeln und kratzte sich den Kopf. Wenn aber der junge Herr sogar zu schreiben begann, um zu zeigen, was er alles könne, da hätte Jeli ihm tagelang zusehen können. Hie und da warf er ihm einen mißtrauischen Blick zu; er konnte es nicht begreifen, daß man auf dem Papier alle jene Worte wiederholen könne, die er oder Alfonso gesprochen hatte, und auch jene Dinge, die nicht aus seinem Munde gekommen waren, und da machte er dann wieder jenes eigentümliche Gesicht mit dem schlauen Lächeln.
Jede neue Idee, die vor ihm auftauchte, erfüllte ihn mit Argwohn, und es schien, als witterte er sie mit jenem rohen tierischen Mißtrauen seiner Schecke. Nichtsdestoweniger staunte er eigentlich über nichts in der Welt; hätte man ihm gesagt, daß in der Stadt die Pferde im Wagen fahren, so wäre er gleichmütig geblieben, mit jener orientalischen scheinbaren Gleichgültigkeit, die dem sizilianischen Bauer eine gewisse Würde verleiht. Es schien, als verschanze er sich instinktiv hinter seiner Unwissenheit, als wäre diese die Stärke der Armut. Jedesmal, wenn er nichts zu erwidern wußte, wiederholte er: »Ich weiß nichts davon; ich bin arm,« mit jenem hartnäckigen Lächeln, das schlau sein sollte.
Er hatte seinen Freund Alfonso gebeten, ihm den Namen »Mara« auf ein Stückchen Papier aufzuschreiben, das er weiß Gott wo gefunden hatte, denn er hob alles auf, was er auf der Erde liegen sah und steckte es in seine Hirtentasche.
Eines Tages, nachdem er eine Weile schweigsam gewesen war und nachdenklich dahin und dorthin geschaut hatte, sagte er ihm sehr ernst: »Ich habe eine Geliebte.«
Alfonso sperrte, obgleich er lesen konnte, die Augen weit auf.
»Ja,« wiederholte Jeli, »Mara, die Tochter des Meiers Agrippino, die früher hier war und jetzt in Marineo wohnt, in jenem großen Bauernhof im Tal, den man von der Friedens-Höhe dort oben sieht.«
»Du heiratest sie also?«
»Ja, wenn ich groß bin und jährlich sechs Unzen Lohn haben werde. Mara weiß es noch nicht.«
»Warum hast du es ihr nicht gesagt?«
Jeli schüttelte den Kopf und begann zu überlegen. Dann öffnete er seine Tasche und suchte das Stückchen Papier hervor, auf das ihm Alfonso den Namen Mara geschrieben hatte.
»Es heißt wirklich Mara; Don Gesualdo, der Kapuziner, hat es gelesen und Fra Cola auch, als er auf der Suche nach Bohnen herunterkam.«
Und nach einer Weile fuhr er fort: »Einer, der schreiben kann, kann die Worte aufbewahren in seiner Tasche, und er kann sie auch dahin und dorthin schicken.«
»Was willst du nun mit dem Stückchen Papier anfangen, da du doch nicht lesen kannst?« fragte ihn Alfonso.
Jeli zuckte mit den Achseln, aber er fuhr fort, sein Stückchen Papier sorgfältig zusammenzufalten, und er legte es dann in die Blechbüchse.
Er hatte die Mara als kleines Kind gekannt, als sie anfingen, einander tüchtig zu prügeln, eines Tages, da sie einander beim Brombeerenpflücken im Tale begegnet waren. Das kleine Mädchen, das ein großes Selbstvertrauen besaß, hatte Jeli am Halse gepackt wie einen Dieb. Ein paar Minuten lang hatten sie einander mit den Fäusten bearbeitet, als hätte jedes von ihnen ein Faß beschlagen wollen; aber als sie müde waren, hatten sie sich nach und nach beruhigt, hielten einander aber immer noch fest.
»Wer bist du?« fragte ihn Mara.
Und da Jeli in seinem wilden Trotze nicht sagen wollte, wer er sei, meinte Mara stolz: »Ich bin Mara, die Tochter Meier Agrippinos, der der Besitzer aller dieser Felder ist.«
Da ließ sie Jeli sofort los, und Mara machte sich daran, die Brombeeren aufzulesen, die ihr während des Zwistes zu Boden gefallen waren, wobei sie hie und da verstohlen neugierige Blicke auf ihren Gegner warf.
»Da drüben über der Brücke, am Gartenzaun, gibt es gar viele große Brombeeren,« sagte die Kleine, »die werden von den Hühnern gefressen.«
Jeli entfernte sich inzwischen in sehr gedrückter Stimmung, und Mara kehrte, nachdem sie ihm mit den Blicken gefolgt war, bis er im Eichenwald verschwand, ebenfalls um und lief schnurstracks nach Hause.
Aber seit jenem Tage begann ihre Bekanntschaft. Mara ging an das Brückengeländer, Werg spinnen, und Jeli trieb langsam die Herde bis zu den Abhängen des »Banditenhügels«. Anfangs getraute er sich nicht an sie heran und umkreiste sie und sah sie von ferne mißtrauisch an; nach und nach aber näherte er sich mit dem vorsichtigen Gange eines an Steinwürfe gewohnten Hundes. Als sie sich endlich gegenüberstanden, blieben sie so stundenlang, ohne den Mund zu öffnen. Jeli betrachtete aufmerksam die verwickelte Arbeit der Strümpfe, die Maras Mutter ihr mit auf den Weg gegeben hatte, oder sie sah ihm zu, wie er die schönen Zickzacklinien in die Mandelholzstäbe schnitzte. Dann ging jedes seiner Wege, ohne ein Wort zu reden, und die Kleine begann, sobald sie in die Nähe ihres Hauses kam, zu laufen, und hob dabei ihr Röckchen empor, daß man die roten Waden sah.
Zur Zeit der Feigenreife trafen sie einander im dichten Buschwerk und schälten Feigen den ganzen lieben Tag. Sie vagabundierten zusammen unter den hundertjährigen Nußbäumen. Sie schüttelten so gut, daß die Nüsse dicht wie Hagel herabfielen, wobei sie jubelnd frohlockten, und dann eilte Mara davon, so rasch sie konnte, die beiden Zipfel der Schürze zusammengefaltet, und sich wiegend gleich einem alten Mütterchen.
Während des Winters wagte Mara nicht, das Köpfchen zum Hause hinauszustrecken, so kalt war es. Manchmal sah sie gegen Abend den Rauch der Reisigfeuer, die sich Jeli auf dem »Macca-Hügel« oder auf der »Friedens-Höhe« anmachte, um nicht zu erstarren, gleich jenen Kohlmeisen, die er des Morgens hinter einem Steine oder einer Scholle fand. Auch die Pferde fanden Vergnügen daran, ihre Schweife in der Nähe des Feuers ein wenig hin und her baumeln zu lassen, und sie drückten sich fest aneinander, um sich zu wärmen.
Im März kamen die Lerchen in die Ebene, die Sperlinge auf die Dächer; die Blätter und Knospen sprossen auf den Büschen; Mara erneuerte ihre Spaziergänge mit Jeli auf dem weichen Rasen, inmitten der bunten Blumen, unter den Bäumen, die in erster Blüte standen. Jeli drang ins Dorngebüsch ein, wie ein Spürhund, um Gimpelnester aufzuspüren, und die jungen Gimpel blickten ihn dann mit ihren Pfefferaugen verwundert an. Die beiden Kinder trugen öfter auf der Brust unter dem Hemde kleine, eben auf die Welt gekommene Kaninchen, die noch fast nackt waren, aber ihre langen Ohren schon unruhig spitzten. Sie trieben sich mit den Pferden auf den Feldern umher, traten hinter den Schnittern in die Stoppeln, ganz langsam, und blieben jedesmal stehen, wenn ein Rudel sich bildete, um Gras zu fressen. Abends, wenn sie an der kleinen Brücke angelangt waren, ging Jeli dahin, Mara dorthin, ohne einen Gruß.
So war der Sommer vergangen. Nun ging die Sonne hinter dem Kreuzhügel unter und die Rotkehlchen flogen hinterher, wenn es dunkel wurde, und folgten ihr zwischen dem Feigengebüsch. Die Grillen und Zikaden verstummten, und es lag eine große Schwermut in der Luft.
Damals war es, daß Jelis Vater, der Kuhhirt Menu, in jene Gegend kam, denn er hatte die Malaria in Ragoleti bekommen und konnte sich kaum aufrechterhalten. Jeli zündete Feuer an, so rasch er konnte und lief zu den »Häusern«, um ihm irgendein Hühnerei zu holen.
»Breite lieber ein wenig Streu nahe am Feuer aus,« sagte sein Vater, »denn ich fühle, daß mich das Fieber packt.«
Der Fieberschauer war so heftig, daß Gevatter Menu, der mit seinem großen Mantel, mit dem Sack des Esels und der Tasche Jelis zugedeckt war, so zitterte wie die Blätter im November, trotz der großen Flamme, die aus dem dürren Reis aufschlug und sein totenbleiches Gesicht unheimlich beleuchtete. Die Bauern aus der Faktorei kamen ihn fragen: »Wie fühlt Ihr Euch, Gevatter Menu?«
Der Ärmste antwortete nur mit einem Laut, der dem Winseln eines jungen Hundes glich.
»Das ist eine Malaria, die sicherer tötet als ein Flintenschuß,« sagten die Freunde, während sie sich die Hände am Feuer wärmten.
Es wurde auch der Arzt gerufen, aber das war weggeworfenes Geld; denn die Krankheit war so leicht zu verstehen, daß auch ein Knabe imstande gewesen wäre, sie zu heilen. Wenn das Fieber nicht so heftig gewesen wäre, daß es den Tod bringen mußte, so wäre es mit Sulfat geheilt worden. Gevatter Menu gab seine ganze Habe für Sulfat aus; aber es war geradeso, wie wenn er es in den Brunnen geworfen hätte.
»Nehmt einen guten Absud von Eukalyptus, das kostet nichts,« meinte Meier Agrippino, »und wenn es auch nichts nützt wie das Sulfat, so richtet Ihr Euch dabei doch nicht zugrunde.«
Er nahm also auch den Absud von Eukalyptus; aber trotzdem ließ das Fieber nicht nur nicht nach, sondern es wurde noch heftiger.
Jeli stand seinem Vater bei, so gut er konnte. Jeden Morgen, ehe er mit seinen Fohlen auf die Weide ging, ließ er ihm den Absud im Napf, die Bündel Reisig an der Hand und die Eier in der heißen Asche; und abends kehrte er früher heim als sonst, mit neuem Holz für die Nacht, mit einem Fläschchen Wein und einem 5tückchen Hammelfleisch, das er in Licodia gekauft hatte, wohin er eigens gelaufen war. Der arme Junge wirtschaftete wie eine brave Hausfrau, und sein Vater, der ihm mit den müden Augen folgte und ihm zusah, wie er alles ruhig und gewandt zurechtmachte, lächelte von Zeit zu Zeit bei dem Gedanken, daß der Knabe sich ganz gut fortbringen würde, wenn er allein in der Welt bliebe.
An den Tagen, an denen das Fieber für einige Stunden aufhörte, erhob sich Gevatter Menu ganz verstört und ging, den Kopf in ein Tuch eingehüllt, an die Türe, um Jeli zu erwarten, solange die Sonne noch am Himmel war.
Wenn Jeli dann an der Türe das Bündel Holz fallen ließ, den Fiasko auf den Tisch stellte und die Eier hinlegte, sagte er ihm: »Koche mir das Egalipt für heute nacht,« oder: »Den Schmuck deiner Mutter hat Muhme Agata aufbewahrt; wenn ich nicht mehr sein werde …«
Und Jeli nickte mit dem Kopfe.
»Alles umsonst!« wiederholte Meier Agrippino jedesmal, wenn er nach dem fiebernden Gevatter sehen kam; »das Blut ist schon ganz verdorben.«
Gevatter Menu hörte ihm zu, ohne mit einer Wimper zu zucken, mit einem Gesicht, das weißer war als seine Mütze.
Er konnte sich nicht mehr erheben. Jeli fing an zu weinen, wenn er nicht mehr die Kraft hatte, ihn von der einen Seite auf die andere zu legen.
Nach und nach verlor Gevatter Menu auch die Sprache.
Die letzten Worte, die er an den Knaben richtete, waren: »Wenn ich tot sein werde, wirst du zu dem Herrn der Kühe in Ragoleti gehen und wirst dir von ihm die drei Unzen Lohn und die zwölf Säcke Getreide geben lassen, die ich seit Mai noch zu bekommen habe.«
»Nein,« antwortete Jeli, »es sind bloß zwei Unzen und einige Soldi, denn Ihr habt ja die Kühe seit mehr als einem Monat nicht gehütet, und mit dem Herrn muß man richtige Rechnung machen.«
»Das ist wahr!« stimmte Gevatter Menu bei und schloß die Augen für immer …
»Jetzt bin ich wirklich allein auf der Welt, wie ein verlorenes Fohlen, das die Wölfe fressen können,« dachte Jeli, nachdem man ihm den Vater auf dem Kirchhof von Licodia begraben hatte.
Mara war auch gekommen, um das Haus des Toten zu sehen, mit jener tiefen Neugier, welche die furchtbaren Dinge hervorrufen.
»Siehst du, wie ich nun dastehe?« sagte ihr Jeli, und das Mädchen tat scheu ein paar Schritte rückwärts, aus Angst, er könnte sie auffordern, das Haus zu betreten, in dem der Tote gelegen hatte.
Jeli ging das Geld des Vaters einziehen, und dann machte er sich mit seinen Pferden nach Possanitello auf, wo das Gras schon hochstand auf dem Brachfeld und wo das Futter reichlich war; deshalb blieben die Fohlen dort lange auf der Weide …
Inzwischen war Jeli herangewachsen. Und auch Mara mußte gewachsen sein, dachte er oft, wenn er auf seiner Pfeife spielte; und als er nach langer Zeit nach Tebidi zurückkehrte und die Herde sehr langsam über die schlüpfrigen Stufen des Kasino-Brunnens vor sich trieb, suchte er mit den Augen die kleine Brücke des Tales, den Bauernhof im Jacitano-Tale und die Dächer der »großen Häuser«, wo die Tauben immer umherflogen.
Aber zu jener Zeit hatte der Herr den Meier Agrippino entlassen, und die ganze Familie Maras war im Umzug begriffen. Jeli fand das Mädchen, das groß und üppig und schön geworden war, am Eingang des Hofes, während es seine Habseligkeiten, die man auf den Karren auflud, achtsam im Auge behielt. Nun erschien die angeräucherte leere Kammer noch finsterer und unfreundlicher als früher. Der Tisch, das Bett, die große Kiste, die Bilder der heiligen Jungfrau und des heiligen Giovanni und sogar die Nägel zum Aufhängen der Kürbisse und Maiskolben hatten Zeichen an den Wänden zurückgelassen, wo sie so viele Jahre befestigt gewesen waren.
»Wir gehen fort,« sagte Mara, als sie sah, wie er das alles beobachtete, »wir ziehen da hinunter nach Marineo, wo jener große Bauernhof im Tale steht!«
Jeli half Meier Agrippino und Frau Lia die Sachen auf den Karren aufladen, und nachdem nichts mehr fortzutragen war aus der Stube, setzte er sich mit Mara auf den Brunnenrand.
»Auch die Häuser,« sagte er, als man den letzten Korb aufgeladen hatte, »sehen anders aus, wenn man Gegenstände daraus wegnimmt.«
»In Marineo,« antwortete Mara, »werden wir eine schönere Stube haben, hat Mutter gesagt, so groß wie die Käsekammer.«
»Jetzt, wo du nicht mehr hier sein wirst, will ich auch nicht mehr herkommen; denn es würde mir scheinen, als wäre es Winter, wenn ich die verschlossene Türe sähe.«
»In Marineo werden wir andere Leute finden, die rote Pudda und die Tochter des Feldhüters. Es wird sehr lustig sein, und zu den Messen werden mehr als achtzig Schnitter kommen, mit dem Dudelsack; es wird getanzt werden auf der Tenne.«
Meier Agrippino und sein Weib hatten sich auf den Weg gemacht, und Mara lief ihnen ganz fröhlich nach, in der Hand den Korb mit den Tauben. Jeli begleitete sie bis zur Brücke, und als Mara eben in das Tal einbiegen wollte, da rief er: »Mara! Ach, Mara!«
»Was willst du?« fragte Mara.
Er wußte nicht, was er wollte.
»Und du? Was wirst du hier so allein anfangen?« fragte sie ihn nun.
»Ich bleibe bei den Fohlen.«
Mara hüpfte davon, und er blieb stehen, so lange er das Knarren der Karrenräder auf den Steinen hören konnte. Die Sonne berührte die hohen Riffe des Kreuzhügels; die grünen Häupter der Olivenbäume verloren sich im Dämmerlicht, und auf dem großen, weiten Felde hörte man nur von ferne die Glocke der weißen Stute in der Stille, die sich immer mehr ausbreitete …
Mara, die jetzt in Marineo unter neuen Leuten war und sich inmitten des geschäftigen Treibens der Weinlese befand, hatte Jeli bald vergessen. Jeli aber dachte stets an sie, denn er hatte ja nichts zu tun während der langen Tage, da er nichts anderes vor sich sah als seine Tiere. Jetzt hatte er keine Ursache mehr, ins Tal hinabzugehen, jenseits des Brückleins, und niemand sah ihn mehr in der Nähe der Faktorei. So blieb es ihm lange Zeit unbekannt, daß Mara sich verlobt hatte, und unter dem Brücklein war inzwischen viel, viel Wasser dahingeflossen. Er sah Mara erst wieder am San Giovanni-Tage, als er mit seinen Fohlen auf die Messe ging, um sie zu verkaufen. Es war ein Festtag, an dem sich für ihn die Freude in Bitternis umwandelte, und an dem er sein Brot verlor, wegen eines Unfalles, der einem der Fohlen seines Herrn leider Gottes zugestoßen war.
Am Tage der Messe erwartete der Verwalter die Fohlen seit dem frühen Morgen, und mißmutig ging er in seinen glänzenden Stiefeln zwischen den Pferden und Mauleseln auf und ab, die rechts und links von der Hauptstraße in Reihen dastanden. Die Messe ging schon zu Ende, und Jeli ließ sich noch immer nicht mit den Tieren blicken, dort unten an der Biegung der Straße.
An den dürren Abhängen des Calvarienberges und des Windmühlenhügels sah man noch, vereinzelt, kleinere Rudel Schafe, die im Kreise dastanden, den Kopf bis zur Erde herabgesenkt, das Auge gebrochen, und einige wenige Paare langhaariger Rinder, die man in Zahlung für den Pachtzins jener Felder gibt, die unter der brennenden Hitze brachliegen. Dort unten, gegen das Tal zu, läutete die San Giovanni-Glocke zum Hochamt, begleitet vom dumpfen Krachen und Knattern der Böller. Das Tal schien zu erzittern, und ein Geschrei ging durch die Reihen der Leute, die zwischen den Leinwandschirmen der Obst- und Gemüsehändler und längs dem »Hahnen-Aufstiege« dicht gedrängt standen. Der Ruf »Viva San Giovanni!« brauste durch die Luft, pflanzte sich durch die Gassen fort und schien vom Tale her wiederzukehren.
»Teufel auch!« kreischte der Verwalter, »dieser Halunke von einem Jeli läßt mich die Messe verlieren!«
Die Schafe hoben ihre Köpfe mit blödem Blick und huben alle auf einmal zu blöken an, und die Rinder taten einige Schritte nach vorwärts und schauten mit großen Augen in der Runde umher.
Der Verwalter war furchtbar wütend, denn an diesem Tage hätte der Pachtzins für die eingefriedeten Gründe gezahlt werden sollen. »Bis der heilige Giovanni am Ulmenbaum angelangt ist,« sagte der Vertrag; um die Summe vollzumachen, hatte er auf den Verkauf der Fohlen gerechnet. Aber der Fohlen und Pferde und Maultiere gab es die Menge, alle geschniegelt und gestriegelt und geschmückt mit Quästchen und Schleifen und Schellen; die Tiere schweifwedelten, um sich die Langeweile zu vertreiben und sahen sich nach jedem um, der vorbeikam, gleichsam als warteten sie auf eine teilnehmende Seele, die sie kaufen wollte.
»Er wird eingeschlafen sein, der Halunke!« schrie der Verwalter, »und nun bleiben mir die Fohlen auf dem Halse!«
Jeli aber war die ganze Nacht hindurch marschiert, damit die Fohlen am frühen Morgen frisch auf der Messe ankommen und bei der Ankunft einen guten Platz einnehmen sollten; er war auf der »Rabenhöhe« angelangt, als die »drei Könige« auf dem Arturo-Berge noch immer mit den erhobenen Armen in der Sonne glänzten. An ihm vorbei zogen fortwährend Karren und Wagen und Leute zu Pferd und zu Fuß, die zur Messe gingen; deshalb hielt der Bursche die Augen offen, damit die Fohlen, aufgeschreckt durch das ungewohnte Treiben, sich nicht verliefen, sondern vereint längs dem Straßengraben gingen, immer hübsch hinter der »Weißen«, die ruhig und gerade einherging, die Glocke am Halse. Hie und da, wenn der Weg über die Anhöhen führte, hörte man aus weiter Ferne die Glocke von San Giovanni, und überall im Dunkel und in der Stille des freien Feldes vernahm man auf der ganzen Fahrstraße, wo es Leute gab, die sich zu Fuß und zu Pferd zum Feste nach Vizzini begaben, den Ruf »Viva San Giovanni!« Und die Raketen und Schwärmer stiegen kerzengerade und leuchtend hinter den Bergen von Canziria in die Höhe, und ihre Funken regneten hernieder wie die Sternschnuppen im August.
»Es ist wie in der heiligen Christnacht!« sagte Jeli zu dem Knaben, der ihm half, die Herde zu führen; »in jeder Wirtschaft wird gefeiert und beleuchtet, und auf dem ganzen Wege sieht man Feuerwerk.«
Der Knabe aber schlief im Gehen und schob langsam ein Bein nach dem anderen vorwärts und antwortete nichts; aber Jeli, dessen Blut bei den Klängen jener Kirchturmglocke in Wallung kam, konnte nicht ruhig bleiben, und es war ihm, als ob alle jene Feuergarben, die im Dunkel hinter dem Berge lautlos und leuchtend emporstiegen, aus seiner Seele kämen.
»Mara wird auch zum San Giovanni-Fest gegangen sein,« sagte er, »denn sie ist ja jedes Jahr dabei.«
Und ohne sich darum zu kümmern, daß Alfio, der Knabe, nichts erwiderte, fuhr er fort: »Weißt du, jetzt ist Mara schon so groß, größer als ihre eigene Mutter, und als ich sie das letztemal wiedersah, schien es mir nicht möglich, daß sie es selbst sei, mit der ich einmal Feigen gepflückt und Nüsse geschüttelt hatte.«
Und er hub an, alle Lieder laut zu singen, die er wußte.
»Heda, Alfio, schläfst du?« rief er ihm zu, als er zu Ende war. »Sieh mal, die Weiße ist dir am Halse, nimm dich in acht!«
»Nein, ich schlafe nicht!« antwortete der Knabe mit heiserer Stimme.
»Siehst du, wie es da hinten zu dämmern beginnt! Bald muß die Sonne aufgehen; aber wir werden doch rechtzeitig auf die Messe kommen, um einen guten Platz zu erhalten. He! Schöner Rappen! Du sollst einen neuen Halfter haben mit roten Schleifen, für die Messe! Und auch du, Schecke!«
So sprach er zu diesem und zu jenem der Fohlen, damit sie seine Stimme hörten und furchtlos vorwärtsschritten in der Dunkelheit. Aber es tat ihm leid, daß die Schecke und der Rappen auf der Messe verkauft werden sollten.
»Wenn sie verkauft sein werden, werden sie mit dem neuen Herrn fortgehen, und ich werde sie nicht mehr in meiner Nähe haben, ebenso wie ich die Mara, seit sie nach Marineo gegangen ist, nicht wiedergesehen habe. – Ihrem Vater geht es sehr gut, da unten in Marineo; denn als ich sie aufsuchen ging, da gab sie mir Brot und Wein und Käse und alles Gute Gottes; denn er ist ja nahezu Verwalter und hat die Schlüssel für alles, und ich hätte die ganze Faktorei aufessen können, wenn ich gewollt hätte. Man erkannte mich kaum wieder, so lange hatten wir uns nicht gesehen, und sie rief aus: ›O, sieh mal! Das ist ja Jeli, der Pferdehüter; der aus Tebidi!‹ – Es ist geradeso, wie wenn einer aus der Fremde heimkommt und an dem Gipfel eines Berges schon erkennt, daß er sich in der Nähe des Ortes befindet, wo er aufgewachsen ist. Frau Lia wollte nicht, daß ich der Mara ›du‹ sage, nun, da ihre Tochter groß geworden war; denn die Leute, die nichts wissen, schwatzen gar leicht dummes Zeug. Mara aber lachte und wurde feuerrot im Gesicht und deckte den Tisch; sie schien eine andere geworden. – ›Erinnerst du dich nicht mehr an Tebidi?‹ fragte ich sie, sobald Frau Lia die Stube verlassen hatte, um frischen Wein aus dem Faß zu holen. – ›Ja, ja, ich erinnere mich,‹ sagte sie, ›in Tebidi war der Glockenturm, der aussah, wie ein Salzfaß, und man spielte auf der Tenne, und es waren auch zwei Katzen aus Stein da am Garteneingang.‹ Ich fühlte hier drinnen etwas Eigenes, als sie so zu mir sprach. Sie sah mich von oben bis unten mit großen Augen an und fuhr dann fort: ›Wie groß du geworden bist!‹ Und sie fing zu lachen an und gab mir einen Klaps, hier, auf den Kopf.«
Diese Erzählung war schuld daran, daß Jeli, der Pferdehüter, sein Brot verlor; denn gerade in diesem Augenblick kam plötzlich ein Wagen heran, den man früher nicht gehört hatte, so lange er Schritt für Schritt die Anhöhe heraufgefahren war, und der nun, da der Weg eben war, eilig fortstürmte, mit Peitschengeknall und Glockengeklirr, als führte er den Teufel zur Hölle. Die Fohlen stoben erschreckt auseinander und stampften dabei mit den Füßen, daß man hätte glauben können, ein Erdbeben sei gekommen. Jeli und der Knabe mußten rufen und schreien und ihr lautes »ohi! ohi! ohi!« ertönen lassen, bis es ihnen gelang, die Fohlen um die Weiße zu sammeln, die, mit der Glocke am Halse, mißmutig trottete. Kaum hatte Jeli seine Tiere gezählt, da bemerkte er, daß die Schecke fehlte, und er fuhr sich mit den Händen in die Haare; denn an jener Stelle führte die Straße längs einem Abgrund hinan, und in ebendiesem Abgrund war es, wo die Schecke sich die Rippen brach; ein Füllen, das zwölf Unzen wert war wie zwölf Engel im Paradies! Weinend rief er das Füllen – ahu! ahu! ahu! – aber das Füllen ließ sich nicht blicken. Endlich antwortete es von unten mit einem klagenden Gewieher, als wäre es ein menschliches Wesen. Das arme Tier!
»O Mutter! O Mutter!« wehklagten Jeli und der Knabe; »was für ein fürchterliches Unglück!«
Die Vorbeigehenden, die zum Feste pilgerten und im Halbdunkel Weinen und Klagen hörten, fragten sie, was sie verloren hätten; als sie erfahren hatten, um was es sich handelte, gingen sie ruhig ihres Weges weiter.
Die Schecke blieb, die viere von sich gestreckt, liegen, und Jeli, der hinabgestiegen war, befühlte das arme Pferdchen, schluchzte und sprach zu ihm, als verstände es ihn, und das arme Tier streckte mühsam den Hals vor und begann zu röcheln.
»Was ihm nur geschehen ist?« jammerte Jeli, verzweifelt darüber, in der Dunkelheit nichts sehen zu können.
Und inzwischen ließ das Fohlen den Kopf schwer herabsinken. Alfio, der auf der Straße geblieben war, um auf die Herde zu achten, hatte sich schon beruhigt und ein Stück Brot aus der Tasche gezogen.
Der Himmel hatte eine weißliche Farbe angenommen, und es schien, als ob die Berge ringsum, einer nach dem anderen, hoch emporwüchsen. Von der Biegung der Straße aus konnte man jetzt das Dorf erblicken, mit dem Calvarienberg und der »Windmühle«. Der Berg lag noch im Dämmerlicht und längs seinem Rücken sah man bewegliche Flecken weißer Schafe, und die Rinder, die auf dem Abhange grasten und sich hin und her bewegten, gaben dem Berge, der sich grau vom bläulichen Horizont abhob, Leben, und es schien, als beginne der ganze Berg sich zu regen und zu bewegen. Man hörte die Glocke jetzt nicht mehr, die Passanten waren spärlicher geworden, und die wenigen, die vorbeikamen, beeilten sich, die Messe zu erreichen. Der arme Jeli wußte nicht, welchen Heiligen er in der Verzweiflung anrufen sollte; Alfio, der Knabe, konnte ihm nicht helfen, und deshalb kaute er auch an seinem Brot ruhig weiter.
Endlich sah man den Verwalter auf einem Maultier herankommen. Schon von weitem wetterte und fluchte er, als er die Pferde an der Straße erblickte. Alfio war derart erschrocken, daß er schleunigst auf und davon lief. Jeli aber rührte sich nicht von der Stelle. Stumm stand er vor der Schecke. Der Verwalter ließ den Maulesel auf der Straße und stieg in den Abgrund hinab, und versuchte das Fohlen zu heben, indem er es am Schweife zerrte.
»Laßt doch das Tier!« schrie Jeli, weiß im Gesicht, als wäre er selbst verunglückt, »laßt es doch! Seht Ihr denn nicht, daß es sich nicht bewegen kann, das arme, gute Tier?«
Die Schecke stöhnte wirklich bei jeder Bewegung, zu der sie gezwungen wurde, so jämmerlich, als wäre sie ein Christenmensch. Der Verwalter ließ seine Wut an Jeli aus, indem er ihn stieß und puffte und dabei fluchte wie ein Türke. Da kehrte Alfio, der sich nun sicherer fühlte, zurück, um die Pferde nicht ohne Bewachung zu lassen, und versuchte sich zu rechtfertigen.
»Ich habe keine Schuld daran,« sagte er, »ich ging voraus mit der Weißen!«
»Da ist nichts mehr zu machen,« sagte endlich der Verwalter, nachdem er sich überzeugt hatte, daß man vergeblich Zeit verlöre, »da kann man nur noch das Fell retten.«
Jeli begann zu zittern wie ein Blatt im Winde, als er sah, wie der Verwalter seine Flinte vom Sattel des Maulesels losschnallte.
»Fort von da, Tunichtgut!« herrschte ihn der Verwalter an, »ich wäre imstande, dich neben dem Fohlen niederzustrecken, das zehnmal mehr wert war als du, trotz des Weihwassers, das man an dich verschwendet hat!«
Die Schecke, die sich nicht mehr bewegen konnte, sperrte die Augen weit auf, als hätte sie alles verstanden; ihr Fell zuckte und es schien, als schauerte sie zusammen. Der Verwalter erschoß die Schecke, um wenigstens noch das Fell zu retten, und als der dumpfe Knall ertönte, da war es Jeli, als wäre ihm die Flintenkugel in sein Fleisch gedrungen.
»Wenn ich dir nun einen Rat erteilen soll,« sagte der Verwalter sehr kühl, »so ist es der, dich vor dem Herrn nicht mehr sehen zu lassen und nichts mehr von dem rückständigen Lohne zu erwähnen, denn das käme dir teuer zu stehen!«
Dann kehrte er ihm den Rücken und ging mit Alfio und den Fohlen davon, die sich nicht einmal nach der toten Schecke umsahen und das Gras vom Straßengraben abweideten. Die Schecke blieb allein im Graben liegen, bis man kam, um ihr das Fell abzuziehen. Und Jeli, der gesehen hatte, wie der Verwalter das Herz gehabt hatte, auf das arme Tier mit den flehenden Augen zu schießen, weinte nicht mehr, sondern saß da auf dem Stein, die trüben Blicke unverwandt auf das tote Tier gerichtet. Erst nachdem die Männer gekommen waren und das Fell mitgenommen hatten, stand er auf, wie aus einem Traum erwachend.
Nun konnte er auf die Messe gehen und das Fest mit ansehen, oder auf dem Dorfplatz stehen und die Leute betrachten, wie sie vor dem Café saßen und sich's gütlich taten, … ganz wie ihm beliebte; denn jetzt hatte er weder Brot noch Dach, und nun mußte er sich einen neuen Herrn suchen, sofern ihn noch irgendeiner mochte, nach dem Unglück, das ihm passiert war.
So geht es eben in der Welt. Während Jeli einen neuen Herrn suchte, mit der Tasche um die Schulter und dem Stab in der Hand, spielte die Musikbande munter auf dem Dorfplatz. Die Musiker hatten Federn am Hut und die Bauern trugen weiße Mützen und standen dicht gedrängt und frohgemut vor dem Café. Alle waren festlich gekleidet, und die Meßtiere waren auch geschmückt, und in einer Ecke des Platzes war eine Weibsperson mit kurzem Rock und fleischfarbenen Strümpfen, so daß man glauben konnte, sie habe nackte Füße, und schlug auf eine große Trommel vor einem großen bemalten Leintuch, auf dem man eine Schlacht sah mit sehr viel Blut. In der Menge, die mit offenem Munde dastand und gaffte, befand sich auch Meier Cola, der Jeli von Possanitello her kannte und ihm sagte, er werde ihm einen Herrn finden, da Gevatter Isidoro Macca einen Schweinehüter suche. – Er solle nichts von der Schecke erwähnen, empfahl ihm Meier Cola; ein solches Unglück könnte wohl jedem passieren; aber immerhin wäre es besser, nichts zu sagen.
Sie gingen also Gevatter Macca suchen, der gerade auf dem Tanzboden war, und während Meier Cola mit ihm sprach, wartete Jeli auf der Straße, inmitten der Menge, die gaffend dastand. In der Stube war es gedrängt voll. Alles hüpfte und vergnügte sich; alle waren rot im Gesicht und schwitzten und keuchten, und die schweren Schuhe schlugen so mächtig auf den Ziegelboden, daß man kaum die Instrumente hörte. Und jedesmal, wenn ein Spiel zu Ende war, das einen Grano kostete, hoben die Bauern einen Finger in die Höhe zum Zeichen, daß sie noch einen Tanz wollten. Und der die Bratsche spielte, zeichnete mit Kohle ein Kreuz an die Wand, um am Schlusse die Rechnung machen zu können; und dann begann die Musik von neuem.
»Die da drinnen geben ihr Geld aus, ohne sich's zu überlegen,« sagte sich Jeli im stillen, »ein Zeichen, daß sie die Taschen voll haben und nicht in Nöten sind wie ich, und ohne Herrn; sie schwitzen und mühen sich ab zu ihrem Vergnügen und tun dabei, als wären sie fürs Tanzen bezahlt!«
Meier Cola kam mit dem Bescheid zurück, Gevatter Macca benötige nichts. Da machte Jeli kehrt und schlich leise davon wie ein geprügelter Hund.
Mara wohnte in der Nähe von Sant'Antonio, da wo die Häuschen den Berg emporzuklettern scheinen, gegenüber dem Canziriatale, mit den vielen dunkelgrünen Feigenbäumen und mit den Mühlrädern, die das Wasser des Flusses zum Schäumen bringen. Jeli aber hatte nicht den Mut, nach jener Richtung zu gehen, nun da man ihn nicht einmal mehr zum Schweinehüten mochte, und während er inmitten der Menge umherschlenderte, von rechts und von links gestoßen und gepufft, da kam er sich noch einsamer vor als in den Landebenen von Possanitello, und er war nahe daran zu weinen. Endlich traf er Meier Agrippino an, der sich überall umhertrieb, müßig und voll heiterer Laune. Als er Jeli erblickte, rief er ihn an und führte ihn zu sich nach Hause. Mara war festlich geputzt, mit großen Ohrringen, die hin und her baumelten und ihr auf die Backen schlugen, und sie stand vor der Tür, die Hände über der Brust gefaltet, die Finger voll von Ringen, und wartete, bis es finster wurde, um sich das Feuerwerk anzusehen.
»Ei sieh mal,« sagte sie, als sie Jeli erblickte, »bist du auch zum San Giovanni-Fest gekommen?«
Jeli wollte nicht eintreten, weil er schlecht gekleidet war; aber Meier Agrippino drängte ihn hinein, indem er ihm sagte, sie sähen sich doch nicht zum ersten Male, und man wüßte ja, daß er mit den Fohlen des Herrn gekommen sei. Frau Lia schenkte ihm ein Glas Wein ein, und sie nahmen ihn mit, damit er sich die Beleuchtung und das Feuerwerk ansehen könne, mit den Gevatterinnen und den Nachbarn.
Als sie auf dem Dorfplatz angelangt waren, blieb Jeli vor Erstaunen mit offenem Munde stehen. Der ganze Platz glich einem Feuermeer. Geradeso, wie wenn ein Stoppelfeld in Flammen steht, so groß war die Zahl der Feuergarben, die die Frommen unter den Augen des Heiligen anzündeten; der Heilige stand unter seinem silbernen Baldachin, ganz in Rauch eingehüllt. Die Gläubigen, die zwischen den Lichtern hin und her liefen, sahen aus wie Teufel, und es war auch ein Weib dabei, mit fliegendem Haar und großen, schwarzen Augen, sehr nachlässig gekleidet, die ebenfalls Raketen steigen ließ, und ein Geistlicher, der in der langen, schwarzen Soutane wie ein Gespenst aussah.
»Der dort ist der Sohn Meier Neris, des Verwalters von Salonia, und er gibt mehr als zehn Lire aus für Raketen und Garben und bengalisches Feuer,« sagte Frau Lia und wies auf einen jungen Burschen, der geschäftig hin und her lief und in jeder Hand ein Bündel römischer Kerzen hielt, die hoch aufflackerten; die Weiber verschlangen ihn mit ihren Blicken und schrien wie besessen: »Viva San Giovanni!«
»Sein Vater ist reich und besitzt mehr als zwanzig Stück Vieh,« fügte Meier Agrippino hinzu.
Mara wußte auch, daß er in der Prozession die große Standarte getragen und sie stramm aufrecht gehalten hatte, so kräftig war der schöne Bursche.
Es schien, als hätte Meier Neris Sohn das Lob gehört, das ihm Mara gespendet, und als hätte er die römischen Kerzen eigens für sie angezündet und ließe für sie allein das große Feuerrad rasseln und prasseln. Nachdem das Feuerwerk zu Ende war, schloß er sich ihnen an und führte sie zum Tanz und zum Kosmorama, wo man die alte Welt und die neue Welt sah, und er bezahlte für alle, auch für Jeli, der hinter der Gesellschaft wie ein Hund ohne Herrn einherlief und zusehen mußte, wie der Sohn Meier Neris mit Mara tanzte, die sich im Kreise drehte und dabei girrte wie eine Taube auf dem Dache und mit viel Anmut einen Zipfel ihres Röckchens emporhielt. Und der Sohn Meier Neris sprang wie ein Füllen, so daß Frau Lia Freudentränen weinte, wie sie das Paar so beisammensah, und Meier Agrippino mit dem Kopfe nickte, zum Zeichen, daß er einverstanden und zufrieden sei.
Endlich, als alle müde waren, brachen sie auf und machten noch einen Rundgang, wobei sie von der Menge vorwärtsgedrängt wurden, die die beleuchteten Transparente betrachtete, auf denen San Giovannis Leidensgeschichte so rührend und ergreifend dargestellt war, daß sogar hartherzige Türken und Heiden bei dem Anblick Tränen vergossen hätten. Auf einer hell erleuchteten gedeckten Tribüne spielte die Musikbande, und die Christenmenschen, die dem Feste beiwohnten, waren ganz weg vor Freude.
Mara ging am Arme von Meier Neris Sohn einher wie ein Fräulein, und er flüsterte ihr ins Ohr, und sie lachte und schien sich sehr zu unterhalten. Jeli war todmüde und die Augen fielen ihm zu und er wurde erst munter, als ihn die ersten Petarden weckten. In diesem Augenblick stützte sie sich mit ihren beiden gefalteten Händen auf die Schulter von Meier Neris Sohn, und im Lichte der bengalischen Feuer sah sie bald ganz weiß, bald ganz rot aus. Als die letzte Flamme verloschen war, neigte sich Meier Neris Sohn zu ihr, bleich vor Erregung, und küßte sie auf den Mund.
Jeli sprach kein Wort; aber in diesem Augenblick verwandelte sich die Freude in seinem Herzen in böses Gift, und er gedachte seines Kummers, den er im Freudentaumel vergessen hatte: daß er ohne Herrn war, daß er nicht wußte, wohin sich wenden und was beginnen, und daß er weder Brot noch Dach hatte und sein Los nicht besser war, als das der armen, geschundenen Schecke, die im Graben lag und von den Würmern gefressen wurde …
Inzwischen belustigte sich die Menge immer noch um ihn her, im Dunkel, und Mara hüpfte mit ihren Gefährtinnen auf der steinigen Straße und sang fröhliche Lieder, während sie heimgingen.
»Gute Nacht! Gute Nacht!« riefen ihr ihre Freundinnen zu, wenn sie sich von ihr während des Weges verabschiedeten.
Wenn Mara »gute Nacht« wünschte, dann war es, als sänge sie, so zufrieden und froh klang ihre Stimme, und es schien, als wollte Meier Neris Sohn gar nicht mehr von ihr lassen, während Meier Agrippino und Frau Lia, vor der Haustüre angelangt, sich gegenseitig zankten.
Kein Mensch kümmerte sich um Jeli, bloß Meier Agrippino erinnerte sich seiner und fragte ihn: »Wohin gehst du nun?«
»Ich weiß es nicht,« antwortete Jeli.
»Komm morgen zu mir, ich werde dir helfen, dich irgendwo unterzubringen. Für heute nacht wirst du dich mit irgendeiner Bank auf dem Dorfplatz begnügen müssen; das Schlafen im Freien bist du ja gewohnt.«
Jeli war daran gewohnt; aber was ihm wehtat, war, daß Mara nichts zu ihm sagte und ihn so vor der Türe ließ wie einen Bettler …
Und als er am andern Morgen zu Meier Agrippino zurückkehrte und dann einen Augenblick mit dem Mädchen allein blieb, da sagte er: »O Fräulein Mara, wie vergeßt Ihr doch Eurer Freunde!«
»Ah, du bist's, Jeli!« sagte Mara, »nein, nein, ich habe dich nicht vergessen. Aber ich war sehr müde nach dem Feste!«
»Habt Ihr ihn wenigstens lieb, den Sohn Meier Neris?« fragte er, den Stab verlegen zwischen den Händen drehend.
»Was sind das für Fragen!« antwortete Mara barsch. »Meine Mutter ist da drinnen und hört alles …«
Agrippino hatte ihm eine Stelle als Schafhirt in Salonia verschafft, wo Meier Neri Verwalter war. Da Jeli aber noch nie bei Schafen gewesen war, mußte er sich mit einem sehr geringen Lohne begnügen.
Nun hütete er die Schafe und lernte, wie man Käse macht und Butter und Sahne bereitet, und wenn die anderen Hirten und Bauern des Abends im Hofe miteinander plauderten und die Weiber die Bohnen schälten, um Minestra daraus zu machen, und man auf Neris Sohn zu sprechen kam, der Agrippinos Tochter Mara zur Frau nehmen werde, stand Jeli stumm da und getraute sich nicht einmal die Augen aufzuschlagen. Und als sich einmal ein Landmann über ihn lustig machte, indem er sagte, daß Mara nichts mehr von ihm wissen wolle, nachdem man überall geglaubt hatte, daß die beiden Mann und Frau werden würden, antwortete Jeli, der gerade auf den Topf achthatte, in dem die Milch kochte, während er langsam den Löffel rührte: »Jetzt ist Mara viel schöner und viel vornehmer als früher.«
Und dann schwieg er wieder.
Da er sehr geduldig und sehr fleißig war, lernte er gar bald alles, was zu den Obliegenheiten eines Meiers gehörte, und da er an den Umgang mit Tieren gewöhnt war, hatte er seine Schafe bald liebgewonnen, und die Herde gedieh, daß es eine Freude war. Meier Neri war derart zufrieden mit Jeli, daß er ihm zu Neujahr den Lohn erhöhte, so daß sich Jeli jetzt ebensogut stand wie damals, als er die Pferde hütete. Er verdiente aber auch den Lohn vollauf, denn er wurde nie müde, die besten Weideplätze aufzusuchen, und wenn die Schafe warfen oder krank waren, da pflegte er sie und trug sie in seinem Mantelsack zur Weide, und die Lämmchen blökten ihm, mit den Köpfchen aus dem Sack hervorlugend, ins Gesicht und leckten ihm die Ohrläppchen.
Während eines starken Schneefalles in der Nacht von Santa Lucia, wo alles in der Umgebung, meilenweit, hoch mit Schnee bedeckt war und sehr viel Vieh zugrunde ging, indem es verschneit wurde und erfror, da stand Jeli oftmals in der Nacht auf und brachte die Schafe in Sicherheit und hütete sie so vor einem sicheren Tode. Meier Agrippino sagte es selbst, als er ein Bohnenfeld in Salonia besichtigte; da erzählte er auch die Geschichte von Meier Neris Sohn, der seine Tochter hätte heiraten sollen, und daß aus der Sache nichts wurde, weil Mara ganz andere Dinge im Kopfe hätte.
»Man hatte aber doch gesagt, daß sie zu Weihnachten Hochzeit machen würden!« meinte Jeli.
»Alles müßiges Geschwätz neidischer Leute, die ihre Nase in fremde Angelegenheiten stecken! Es ist kein wahres Wort daran,« antwortete Meier Neri.
Aber der Bauer, der schon damals geschwatzt hatte, und immer alles besser wußte als die anderen, weil er auf dem Dorfplatz die neuesten Nachrichten holte, wenn er Sonntags ins Dorf ging, erzählte dagegen, nachdem Meier Agrippino fortgegangen war, die Sache so, wie sie wirklich war: sie heiraten einander nicht mehr, weil Neris Sohn erfahren hatte, daß Mara, Meier Agrippinos Tochter, sich mit dem jungen Herrn Alfonso, der Mara von Kind auf kannte, in eine Liebschaft eingelassen hatte, und Meier Neri hatte gesagt, er wolle, daß sein Sohn ebenso geachtet und geehrt bleiben solle, wie er selbst, und daß er in seinem Hause keine Hörner wolle, ausgenommen die seiner Rinder.
Jeli stand dabei und hörte zu und wollte gerade sein Brot in die Milch tunken; aber der Appetit verging ihm auf der Stelle, und stumm schlich er davon …
Während er die Schafe zur Weide führte, dachte er wieder und immer wieder an Mara, wie sie noch ein kleines Mädchen war, und wie sie den ganzen Tag beisammen waren und miteinander ins Jacitano-Tal gingen und auf den Kreuzhügel, und wie sie ihm zusah, wenn er auf die Bäume kletterte, um Vogelnester zu holen; er dachte auch an den jungen Alfonso, der aus seiner Villa ihn aufsuchen kam, und wie sie sich miteinander ins Gras warfen, um Grillen zu fangen. An alle diese Dinge dachte er stundenlang, wenn er grübelnd am Straßengraben saß und die Knie mit den Armen umklammerte, und er sah im Geiste die hohen Nußbäume von Tebidi vor sich und die fetten Weiden im Tale und die mit grünem Amarant bewachsenen Abhänge der Hügel und die grauen Olivenbäume, die im Tale einem dichten Nebel glichen und die roten Dächer des Bauernhofes und den einem Salzfaß ähnlichen Glockenturm, der zwischen den Orangenbäumen des Gartens emporragte! … Hier dagegen dehnte sich vor ihm die nackte, öde Landschaft aus, mit den Flecken dünnen, dürren Grases, und darüber lag eine drückende Schwüle.
Im Frühjahr, als die Schoten sich zu neigen begannen, kam Mara mit Vater und Mutter und mit dem Knaben und dem Maulesel nach Salonia, um die Bohnen einzusammeln, und alle miteinander übernachteten während der Lese, die drei Tage dauerte, in der Faktorei.
Jeli hatte so Gelegenheit, das Mädchen am Morgen und am Abend zu sehen, und oft saßen sie zusammen auf der Mauer der Schäferei und plauderten miteinander, während Jeli die Schafe zählte.
»Es ist mir, als wäre ich in Tebidi,« sagte Mara, »als wir noch klein waren und am Brückengeländer unten am Waldwege standen.«
Jeli erinnerte sich dessen sehr genau, aber er sagte nichts, denn er war ja stets ein vernünftiger Knabe gewesen, der es nicht liebte, viel Worte zu machen.
Nachdem die Bohnenlese zu Ende war, kam Mara am Vorabend der Heimkehr Jeli begrüßen, als dieser gerade mit Käsemachen beschäftigt war und die Molken mit dem Rührlöffel eifrig aufschöpfte.
»Ich komme dir Lebewohl sagen, weil wir morgen nach Vizzini zurückkehren,« sagte sie.
»Wie ist die Bohnenlese ausgefallen?«
»Schlecht. Die Raupen haben wieder arg gewütet.«
»Es hat eben zu wenig geregnet,« sagte Jeli, »wir waren genötigt, die Lämmer zu schlachten, weil sie nicht genug zu fressen hatten; in ganz Salonia konnte man kein dreifingerhohes Gras finden.«
»Dir kann ja das gleich sein; deinen Lohn bekommst du immer, ob das Jahr nun ein gutes oder schlechtes ist!«
»Ja, das ist wahr,« sagte er; »aber es tut mir leid, die armen Tiere dem Schlächter in die Hand geben zu müssen.«
»Erinnerst du dich, wie du auf die Messe von San Giovanni kamst und keinen Herrn hattest?«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Mein Vater war's, der dich hier bei Meier Neri unterbrachte.«
»Warum hast du denn seinen Sohn nicht geheiratet?«
»Weil es nicht Gottes Wille war … Mein Vater hatte Unglück,« fuhr sie nach einer Weile fort; »seit wir Marineo verlassen haben, ist uns alles mißraten: die Bohnen, die Saat, das bißchen Wein dort oben, alles! Dann mußte mein Bruder zum Militär, und schließlich starb uns noch ein Maultier, das vierzehn Unzen wert war.«
»Ich weiß es,« sagte Jeli, »das schwarze!«
»Nun, da wir fast alles verloren haben, wer sollte mich wohl jetzt noch zur Frau nehmen wollen?«
Mara zerpflückte eine Blume, während sie dies sagte, und hielt den Kopf gesenkt und blickte zu Boden und stieß mit ihrem Ellenbogen wie von ungefähr an den Ellenbogen Jelis. Aber Jeli ließ ebenfalls den Kopf sinken und antwortete nicht.
Da hub Mara abermals an: »In Tebidi sagten sie, wir würden einmal Mann und Frau werden, erinnerst du dich?«
»Ja,« sagte Jeli und legte den Löffel auf den Rand des Butterfasses, in das er hinabsah. »Aber ich bin ein armer Schafhirt und kann keinen Anspruch erheben auf die Tochter eines Meiers, wie du es bist!«
Mara schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Wenn du mich willst, ich bin schon einverstanden.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
»Und was wird Meier Agrippino dazu sagen?«
»Mein Vater sagt, du verstündest jetzt das Handwerk und du gehörtest nicht zu jenen, die das Geld vergeuden, sondern du machtest aus einem Soldo zwei und seist so sparsam und haushälterisch und tüchtig, daß du es selbst zum Meier bringen und deine eigenen Schafe und Rinder haben wirst.«
»Wenn dem so ist,« sagte Jeli, »dann nehme auch ich dich gerne.«
»Nun,« sagte Mara, da es dunkel geworden war und die Schafe nach und nach verstummten, »wenn du jetzt einen Kuß haben willst, so gebe ich ihn dir, weil wir ja Mann und Frau sein werden.«
Jeli ließ sich in Frieden küssen, und da er nicht wußte, was er sagen sollte, stammelte er verlegen: »Ich habe dich immer lieb gehabt, auch als du Meier Neris Sohn heiraten wolltest.«
Aber er hatte nicht das Herz, auch das zu sagen, was er von dem anderen wußte.
»Siehst du, wir waren eben füreinander bestimmt!« meinte Mara.
Meier Agrippino sagte auch wirklich ja, und Frau Lia machte, so schnell sie konnte, eine neue Jacke und ein paar Sammethosen für den Schwiegersohn.
Mara war schön und frisch wie eine Rose, und wenn sie das Mäntelchen umtat, das so weiß war wie ein Osterlamm, und wenn sie die Bernsteinschnur trug, sah ihr schöner Hals noch weißer aus. Jeli ging daher sehr stolz und kerzengerade neben ihr her, ganz in neues Tuch und in Sammet gekleidet, und er wagte es nicht, sich mit dem neuen roten Taschentuch zu schneuzen, um sich nicht lächerlich zu machen. Die Nachbarn aber und alle, die die Geschichte von Herrn Alfonso wußten, lachten ihm ins Gesicht …
Als Mara »ja, Herr« sagte, und der Geistliche sie ihm, mit einem großen Kreuze, zur Frau gab, da führte Jeli sie nach Hause, und es schien ihm, als hätte man ihm alles Gold der Madonna gegeben und alle Felder und Häuser und Auen, die er mit seinen Augen geschaut.
»Jetzt, da wir Mann und Frau sind,« sagte er ihr, als sie zu Hause angelangt waren und er ihr gegenübersaß, ganz kleinlaut, »jetzt, da wir Mann und Frau sind, kann ich es dir sagen, daß es mir kaum möglich scheint, daß du mich zum Manne nahmst …, während du doch viel besser hättest heiraten können …, so schön und lieblich wie du bist!« …
Der Ärmste wußte ihr nichts anderes zu sagen, und er hatte keinen anderen Gedanken und begriff nichts anderes vor Freude und Zufriedenheit darüber, daß Mara in seinem Hause schaltete und waltete und alles ordnete und zurechtmachte. Es fiel ihm sehr schwer, sich von da loszumachen und nach Salonia zu gehen, um die Schafe zu hüten, und wenn der Montag kam, da zögerte er, auf den Rücken des Esels die Hirtentasche, den Mantel und den Regenschirm aus Wachstuch aufzuladen.
»Du solltest auch nach Salonia kommen,« sagte er zu seiner Frau, die an der Türschwelle stand, »du solltest mit mir kommen.«
Aber Mara lachte und sagte, sie sei nicht dazu geboren, die Schafhirtin zu machen, und sie habe in Salonia nichts zu suchen …
Mara war auch wirklich nicht dazu geboren, die Schafhirtin zu machen, und sie war nicht gewohnt an den Nordwind, der im Winter die Hände steif werden ließ, daß man meinte, die Nägel müßten von den Fingern abfallen; und an die furchtbaren Regengüsse, während das Wasser bis zu den Knochen eindringt; und an den unerträglichen Straßenstaub, wenn die Schafe in der Sonnenglut einherwanken; und an das harte Lager und das schimmelige Brot und an die langen, einsamen Tage, an denen man oft stundenlang auf der weißen, endlosen Straße keiner menschlichen Seele begegnet. Jeli wußte wenigstens, daß Mara unter der warmen Decke wohlig schlief oder am Feuer spann, in Gesellschaft der Nachbarinnen, oder sich der Sonne auf der Tenne erfreute, während er müde und erschöpft und triefend vom Regen von der Weide heimkam, oder wenn der Wind den Schnee bis in das Häuschen blies und das Reisigfeuer verlöschte.
Jeden Monat ging Mara den Lohn von Jelis Herrn einziehen, und es fehlte ihr weder an den Hühnereiern, noch am Öl in der Lampe, noch am Wein im Fiasko. Zweimal im Monat besuchte sie Jeli, und sie erwartete ihn auf der Tenne, die Spindel in der Hand, und nachdem er den Esel in den Stall gebracht und ihm den Sattel abgenommen und Heu in die Krippe gelegt, nachdem er Holz unter den Hofschuppen gelegt und Mara irgend etwas für die Küche übergeben hatte, half sie ihm den Mantel an den Nagel hängen und vor dem Feuer die Ledergamaschen abnehmen, und dann schenkte sie ihm Wein ein und brachte ihm die dampfende Minestra. Während sie alles wie eine brave Hausfrau zurechtmachte, umsichtig und ruhig, sprach sie ihm von diesem und von jenem: von der Henne, die Eier gelegt hatte, von der Leinwand, die auf dem Webstuhl war, von dem Kalb, das sie aufgezogen, ohne auch nur die geringfügigsten Kleinigkeiten zu vergessen, die sich im Hause zugetragen. Und Jeli fühlte sich, wenn er zu Hause war, glücklich und zufrieden wie der Papst.
Aber in der Santa Barbara-Nacht kehrte er unerwartet und zu einer ungewöhnlichen Stunde heim, als die Lichter in dem kleinen Gäßchen schon verlöscht waren und die Turmuhr Mitternacht schlug. Er kam, weil die Stute, die sein Herr auf der Weide zurückgelassen hatte, plötzlich erkrankt war und man nicht säumen durfte, das Tier zum Hufschmied zu führen, der in solchen Dingen Bescheid wußte. Es war nicht leicht, das Tier bei dem Regengusse und auf den durchweichten Wegen, in denen man bis an die Knöchel einsank, so weit fortzubringen. – Er hatte gut klopfen und »Mara«rufen vor der Haustüre; sie hörte ihn nicht. Eine halbe Stunde stand er unter der Traufe, daß ihm das Wasser aus den Schuhen lief.
Endlich kam sie ihm öffnen und begann sofort, ihn mit Vorwürfen zu überschütten und zu keifen, als wäre sie es gewesen, die auf freiem Felde bei dem Hundewetter hätte umherlaufen müssen.
»Ja, was hast du denn?« fragte er.
»Das fragst du auch noch? Mich so zu erschrecken! Ist das eine Stunde, in der ehrliche Christenmenschen heimkehren? Morgen werde ich krank sein!«
»Leg dich zu Bett; das Feuer will ich anmachen.«
»Nein, ich muß das Holz holen.«
»Das werde ich tun.«
»Nein, sag' ich!«
Als Mara mit dem Holz zurückkam, fragte Jeli: »Warum hast du die Hoftüre geöffnet? War kein Holz mehr in der Küche?«
»Nein, ich habe es aus dem Schuppen geholt.«
Sie ließ sich küssen, blieb aber kühl und zurückhaltend und wandte ihr Gesicht nach der anderen Seite …
»Sein Weib läßt ihn vor der Türe im Regen stehen,« sagten die Nachbarn, »wenn der Gimpel in der Stube ist!«
Jeli aber wußte nichts und merkte nichts, daß ihm Hörner wuchsen, und die anderen hüteten sich, es ihm zu sagen. Warum war er auch so dumm und kurzsichtig gewesen, gerade die zu heiraten, die von Meier Neris Sohn im Stiche gelassen worden war, nachdem dieser die Geschichte vom jungen Herrn Alfonso erfahren hatte? Jeli lebte glücklich und zufrieden, denn er ahnte die Schande nicht, die seinem Hause widerfuhr, und er wurde zusehends wohlbeleibter; sagt doch schon das Sprichwort: »Die Hörner sind dünn; aber wer sie trägt, wird feist.«
Eines Tages aber sagte es ihm der Hirtenbube ins Gesicht, während er ihn wegen einiger fehlender Stücke Käse derb zur Rede stellte.
»Jetzt, da Herr Alfonso Euch Euer Weib geraubt hat, glaubt Ihr stolz und hochmütig sein zu können, als wäret Ihr ein König und Euer Geweih eine Krone!«
Der Verwalter und der Bauer, die dabeistanden, erwarteten, daß nach diesen Worten Blut fließen werde; aber Jeli stand da wie dumm, als hätte er nichts gehört oder als ginge ihn die Sache nichts an; er machte ein Gesicht wie ein Ochse mit wirklichen Hörnern.
Es näherte sich das Osterfest, und der Verwalter schickte alle in der Faktorei Beschäftigten zur Beichte, in der Hoffnung, daß sie aus Furcht vor der Strafe Gottes nichts mehr stehlen würden. Jeli ging auch zur Beichte, und als er aus der Kirche kam und den Knaben antraf, der ihm jene häßlichen Worte ins Gesicht geschleudert hatte, da fiel er ihm um den Hals und sagte: »Der Beichtvater hat mir gesagt, ich soll dir vergeben; ich bin dir wegen der Schwätzereien nicht böse und achte nicht auf das, was du nur im Zorne gesagt hast.«
Von diesem Augenblicke an nannte man ihn im Dorfe »Goldhorn«, und dieser Spitzname blieb ihm auch dann noch, als er sich die Hörner mit Blut abgewaschen hatte.
Mara war gleichfalls beichten gegangen, und sie kam aus der Kirche, ganz eingehüllt in ihr weißes Mäntelchen, und mit gesenkten Augen, so daß sie aussah wie die heilige Maria Magdalena.
Jeli, der sie schweigend und in sich gekehrt auf der Tenne erwartete, schaute sie, als er sie kommen sah, kreideweiß im Gesicht, von oben bis unten an, denn er las ihr die gebeichtete Sünde aus den Augen; er betrachtete seine Mara verstohlen mit trübem Blick, als hätte man sie ihm verhext, und kaum wagte er die Augen zu ihr emporzuheben, während sie den Tisch deckte, so rein und so friedlich wie immer.
Dann richtete er, nachdem er lange nachgedacht, die Frage an sie: »Ist es wahr, daß du mit dem Herrn Alfonso etwas hast?«
Mara sah ihm mit ihren schönen, dunkeln Augen fest ins Gesicht und bekreuzte sich.
»Warum willst du, daß ich am heutigen heiligen Tage sündige?« rief sie aus.
»Ich habe nie daran geglaubt, denn Herr Alfonso war immer mit mir beisammen, als wir Knaben waren, und es verging kaum ein Tag, daß er mich in Tebidi nicht aufgesucht hätte. Und dann ist er reich und hat so viel Geld, daß er jede heiraten könnte, die ihm gefiele, und immer dabei gut leben könnte.«
Mara aber ereiferte sich und begann ihn heftig zu schelten, so daß der Ärmste kaum wagte, die Augen aufzuschlagen und die Nase vom Teller zu erheben.
Damit ihnen aber das Essen munde – denn es wäre doch schade gewesen, wenn die guten Gaben Gottes zugrunde gegangen wären – lenkte Mara das Gespräch ab und fragte ihn, ob er daran gedacht habe, das bißchen Flachs umzuhacken, das sie auf dem Bohnenfelde gesät hatten.
»Ja,« antwortete Jeli, »und der Flachs wird gut gedeihen.«
»Nun denn,« sagte Mara, »so will ich dir diesen Winter zwei neue warme Hemden machen.«
Kurz, Jeli wußte nicht, daß er hintergangen worden war, und es schien, als kenne er auch die Eifersucht nicht. Alles, was neu und ungewohnt war, fand nur sehr schwer Eingang in seinen armen, harten Schädel, und die Geschichte vom Herrn Alfonso schien ihm so ungeheuerlich und unmöglich, daß sie durchaus nicht in sein Hirn wollte, besonders wenn er seine Mara vor sich sah, so schön, so weiß, so rein, sie, die ihn ja selbst erwählt hatte, und an die er viele lange Jahre unausgesetzt gedacht hatte, seit seiner Kindheit! Dann dachte er wieder daran, wie er verzweifelt war, als man ihm erzählt hatte, sie solle einen anderen heiraten. Und Herr Alfonso! Er, der ihm doch immer ein treuer Gefährte gewesen war und ihm immer Brot und Backwerk gebracht hatte! Es schien ihm, als sehe er ihn vor sich im neuen Anzug, mit dem Lockenhaar und dem runden, vollen, rosigen Kindergesicht! Denn er, der arme Hirt, der das ganze Jahr hindurch auf freiem Felde war, hatte den jungen, wohlhabenden Herrn seither nie wiedergesehen, und so stand dessen Bild in seinem Herzen noch genau so wie damals, als beide noch Kinder waren.
Aber das erstemal, als er, zu seinem Unglück, den Herrn Alfonso nach so vielen Jahren wiedersah, glaubte Jeli, er müsse in Flammen aufgehen. Herr Alfonso war groß geworden und schien ein anderer; er hatte jetzt einen schönen, blonden Backenbart, er trug eine Sammetjacke und eine goldene Uhrkette. Er erkannte Jeli und klopfte ihm freundlich auf die Schulter. Er war mit dem Verwalter und einer Schar Freunde gekommen, um sich ein wenig im Freien zu belustigen; es war zur Zeit der Schafschur. Mara war auch gekommen, ganz unerwartet, unter dem Vorwande, sich frische gelabte Milch zu kaufen.
Es war ein herrlicher, warmer Tag, die Bäume und Sträucher standen in Blüte, die Felder waren saftig grün, die Schafe hüpften und blökten vor Vergnügen, als sie sich von der schweren, warmen Wolle befreit fühlten, und in der Küche machten die Weiber ein großes Feuer an, um alle die guten Gaben Gottes zu kochen, die der Herr Alfonso gebracht hatte. Die jungen Herren hatten sich inzwischen im Schatten versammelt, unter den Johannisbrotbäumen, und ließen den Dudelsack spielen und das Tamburell und tanzten mit den Weibern der Faktorei, daß es eine Freude war.
Jeli fühlte, während er die Schafe schor – er wußte nicht, weshalb –, wie etwas in seinem Innern nagte und fraß, langsam, aber unaufhörlich und immer heftiger. Der Herr Alfonso hatte angeordnet, daß man zwei Zicklein schlachte, einen jungen Hammel, einige Hühner und einen Truthahn. Kurz, er wollte sich sehr freigebig zeigen, um sich vor seinen Freunden zu brüsten. Während alle diese Tiere geschlachtet wurden und die Zicklein unter dem Messer kreischten, fühlte Jeli, wie ihm die Knie schlotterten, und von Zeit zu Zeit schien es ihm, als würde die Wolle der Schafe unter der Schere und das Gras unter seinen Füßen blutrot.
»Geh nicht!« sagte er zu Mara, als Herr Alfonso sie zum Tanze aufforderte. »Geh nicht, Mara!«
»Weshalb?«
»Ich will es nicht … Geh nicht!«
»Du hörst doch, daß man mich ruft.«
Er sprach kein Wort mehr, während er gebückt über dem Schafe stand, das er schor. Mara zuckte die Achseln und ging tanzen. Sie war glutrot im Gesicht, und ihre dunkeln, schönen Augen leuchteten wie Sterne, und sie lachte, daß man die weißen Zähne sah, und der ganze Goldschmuck, den sie trug, glänzte an den Ohren, am Halse und auf der Brust, so daß sie aussah wie die Madonna vom Altare.
Jeli hatte sich erhoben, die lange Schere in der Hand, ganz weiß im Gesicht, so weiß, wie er den Vater einstmals gesehen, als er in der Hütte im Fieberschauer vor dem Feuer lag. Plötzlich, als er sah, wie Herr Alfonso mit dem hübschen, blonden Bart, mit der Sammetjacke und der goldenen Uhrkette, seine Mara bei der Hand nahm, um mit ihr zu tanzen, da erst, als er sah, wie er sie berührte, stürzte er sich auf ihn und stieß ihm die Schere in die Kehle, daß er tot zu Boden fiel …
Später, als man ihn gebunden vor den Richter führte, ohne daß er den geringsten Widerstand leistete, sagte er: »Wie? Ich hätte ihn nicht einmal töten sollen? … Nachdem er mir meine Mara geraubt? …«