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Kaum hatte Gevatter Nanni die Augen für immer geschlossen – der Priester war, noch mit der Stola bekleidet, im Hause –, da brach auch schon zwischen den Söhnen der Streit darüber aus, wer die Kosten des Begräbnisses zu tragen habe, und der geistliche Herr mußte, den Weihwedel unterm Arm, das Haus schleunigst verlassen.
Die Krankheit Gevatter Nannis war nämlich eine langwierige gewesen, eine von jenen Krankheiten, die einem die Haut vom Leibe ziehen und das Geld aus dem Schranke. Jedesmal, wenn der Arzt das Blättchen Papier auf seinen Knien zusammenfaltete, um das Rezept aufzuschreiben, sah ihm Gevatter Nanni mit erbarmungswürdigem Ausdruck auf die Hände und murmelte vor sich hin: »Wenn Euer Gnaden es wenigstens kurz machen wollten, um Jesu Christi willen!«
Der Arzt tat eben, was ihm sein Beruf vorschreibt. Jeder tut auf dieser Welt, was ihm sein Beruf vorschreibt. Meier Nanni hatte sich auch in seinem Berufe dieses böse Fieber geholt, da unten in der Lamia, in den von Gott gesegneten Ländereien, die Saaten hervorbrachten, so hoch wie ein Mann. Die Nachbarn mochten warnen, soviel sie wollten: »Gevatter Nanni, bei diesem Halbpacht in der Lamia werdet Ihr Euer Leben einbüßen.« Er hatte darauf stets nur die Antwort: »Ihr redet, als wenn ich ein Baron wäre, der tun und lassen kann, was ihm gefällt!«
Die Brüder, die so waren wie die Finger an einer Hand, solange der Vater lebte, mußten nun, jeder für sich, an sich selbst denken. Santo hatte ein Weib und eine Menge Kinder zu ernähren; Carmenio mußte, wenn er sich sein Brot verdienen wollte, es außer dem Hause suchen und einen Herrn finden, und Lucia, deren Schwester, blieb ohne Aussteuer mitten auf der Straße. Die Mutter endlich, die alt und kränklich war, wußte nicht, wer von den dreien sie erhalten sollte, da alle drei nichts ihr eigen nannten. Es ist recht schön, wenn man um die Toten trauern kann, ohne andere Gedanken im Kopfe.
Die Rinder, die Schafe, das Getreide hatte der Herr an sich genommen. Es blieb bloß das nackte Haus mit dem leeren Bett und den finsteren Gesichtern der drei Waisen. Santo brachte seine Habseligkeiten ins Haus mit seiner Frau, der »Roten«, und sagte, er nähme die Mutter zu sich.
»Auf diese Weise braucht er keinen Zins mehr zu bezahlen,« sagten die anderen.
Carmenio schnürte sein Bündel und ging als Hirt zum Kurator Vito, der ein Stückchen Weide am Camemi besaß. Und Lucia, die nicht mit der Schwägerin beisammenbleiben wollte, drohte, sie werde lieber als Magd dienen gehen.
»Nein,« sagte Santo, »man soll nicht sagen dürfen, daß meine Schwester die Magd der anderen ist!«
»Er möchte, daß ich lieber der ›Roten‹ diene,« brummte sie.
Die Hauptfrage drehte sich eigentlich um die Schwägerin, die da in die Verwandtschaft gekommen war wie ein Nagel in eine Wand.
»Was kann ich denn tun, da ich sie doch nun einmal habe?« seufzte Santo achselzuckend. »Ich hätte eben dem guten Vater, Gott hab' ihn selig, gehorchen sollen, so lange es noch an der Zeit war!«
Die gute Seele hatte es ihm oft gepredigt: »Laß die Nena gehen; sie hat keine Aussteuer, weder Dach, noch Fach.«
Aber die Nena war ihm immer an den Fersen, am Castelluccio, wenn er auf dem Felde grub oder das Gras mähte oder die Ähren eintrug. So sehr war sie hinter ihm her, daß es schien, als wollte sie ihm mit ihren Händen die Steine unter den Füßen wegholen. Und wenn er am Tore des Gehöftes ruhte, an die Wand gelehnt, in den Stunden, da die Sonne von den Feldern schwand und alles ringsumher in Schweigen gehüllt war, da sagte sie ihm: »Gevatter Santo, so Gott will, werdet Ihr heuer Eure Mühe nicht umsonst vergeudet haben! … Gevatter Santo, wenn die Ernte gut ausfällt, dann müßt Ihr den großen Anger nehmen, den im Tal unten. Da unten haben früher die Schafe geweidet, und seit zwei Jahren liegt er nun schon brach … Gevatter Santo, diesen Winter will ich Euch, wenn ich Zeit habe, ein paar Wollhosen machen, die Euch recht warmhalten sollen …«
Santo hatte die Nena kennen gelernt, als sie am Castelluccio arbeitete. Sie war ein Mädchen mit rotem Haar, Tochter eines Feldhüters, und kein Mensch wollte von ihr etwas wissen. Sie, die Ärmste, freute sich deshalb unbändig, wenn ein vorübergehender Hund sich ihr näherte. Und für Gevatter Santo sparte sie sich tatsächlich das Brot vom Munde ab, um ihm jedes Jahr am Tage der heiligen Agrippina eine Mütze aus schwarzer Seide schenken zu können und ihm eine Flasche Strohwein und ein Stück Käse bereitzuhalten, wenn er zum Castelluccio kam.
»Nehmt das an, mir zuliebe, Gevatter Santo. Es ist der Wein, den der Gutsherr selber trinkt … Ich dachte, Ihr seid in der vergangenen Woche ohne Zuspeise geblieben.«
Er konnte nicht nein sagen und steckte alles ein. Bestenfalls fügte er noch, um irgend etwas Liebenswürdiges zu sagen, hinzu: »Das ist nicht recht, Gevatterin Nena, daß Ihr Euch das Brot vom Munde abspart, um mir Geschenke zu machen.«
»Meine Freude ist viel größer, wenn Ihr es habt!«
Und jeden Samstagabend, wenn Santo nach Hause kam, wiederholte die gute Seele von Santos Vater: »Laß die Nena, sie taugt nicht für dich … Laß die Nena, sie hat nichts und sie ist nichts.« – – –
»Ich weiß, daß ich nichts habe,« sagte die Nena, die an der kleinen Mauer saß, wenn die Sonne unterging. »Ich habe weder Feld noch Haus, und das bißchen Wäsche, das ich besitze, habe ich mir direkt vom Munde abgespart. Mein Vater ist ein armer Feldhüter, der auf Kosten des Gutsherrn lebt, und kein Mensch wird sich die Last aufbürden, ein Mädchen ohne Mitgift zu nehmen.«
Sie hatte aber immer einen schneeweißen Nacken wie alle Rothaarigen, und während sie gesenkten Hauptes, in Nachdenken versunken, dasaß, vergoldete ihr die Sonne das rotschimmernde Haar und die Wangen, die frischen Pfirsichen glichen. Und Santo betrachtete ihre Augen, die so blau waren wie die Flachsblüte, und die Brust, die das Mieder fast zum Bersten brachte und auf und ab wogte wie ein Ährenfeld.
»Seid nur unbesorgt, Gevatterin Nena,« sagte er ihr. »An Freiern wird es Euch nicht fehlen.«
Sie schüttelte verneinend den Kopf, und die korallenroten kleinen Ohren leuchteten und schienen die Pfirsichwangen liebkosen zu wollen. »Nein, nein, Gevatter Santo. Ich weiß, daß ich nicht schön bin und daß mich keiner will.«
»Seht!« sagte er ihr plötzlich, da ihm ein Gedanke kam. »Seht nur, wie verschieden die Ansichten sind! … Man sagt, rote Haare seien häßlich; aber jetzt, wo ich sie bei Euch sehe, machen sie mir keinen schlechten Eindruck mehr.«
Sein Vater, die gute Seele, hatte ihm, als er bemerkte, daß Santo sich in die Nena vergafft hatte und sie heiraten wollte, eines Sonntags gesagt: »Du willst sie also durchaus, die Rote? Sag', du willst sie durchaus?«
Santo, der mit hinter dem Rücken gekreuzten Händen an die Mauer gelehnt dastand, wagte nicht aufzublicken; aber er nickte bejahend mit dem Kopfe, denn er fühlte, daß es ohne die »Rote« nicht mehr ginge, und daß es Gottes Wille sei.
»Das ist nun deine Sache, wenn du glaubst, ein Weib ernähren zu können. Du weißt schon, daß ich dir nichts geben kann. Eines bloß haben wir dir zu sagen, ich und deine Mutter hier: überlege dir's wohl, ehe du dich verheiratest; denn das Brot ist rar und Kinder kommen gar bald.«
Die Mutter, die zusammengekauert auf dem Stuhle saß, zupfte ihn an der Joppe und sagte leise, ihm zuzwinkernd: »Trachte, dich in die Witwe des Meiers Mariano zu verlieben, die reich ist und keine großen Ansprüche machen wird, weil sie gelähmt ist.«
»Jawohl,« brummte Santo, »jawohl, die Witwe des Meiers Mariano wird gerade mit einem Bettler, wie ich einer bin, vorliebnehmen!« …
Gevatter Nanni bestätigte gleichfalls, daß die Witwe des Meiers Mariano einen Mann suchte, der ebenso wohlhabend sei wie sie, trotzdem sie lahm war. Und dann wäre überdies noch das Bedenken, daß die Gefahr bestände, hinkende Enkel zu bekommen.
»Das ist deine Sache,« wiederholte der Alte; »bedenke, daß das Brot rar ist und daß Kinder gar bald kommen.«
Später, am Santa-Brigida-Tage, war Santo ganz zufällig der »Roten« begegnet, als sie gegen Abend längs der Straße Spargel las, und bei seinem Erscheinen war sie errötet, als ob sie nicht gewußt hätte, daß er da vorbeikommen müsse, wenn er ins Dorf heimkehrt. Rasch ließ sie den Zipfel ihres Unterröckchens herabfallen, das sie aufgeschürzt gehabt hatte, um bequemer und behutsamer zwischen den Kaktusfeigenhecken umherkriechen zu können. Der junge Bursche sah sie an, errötete ebenfalls bis über die Ohren und sprach kein Wort. Endlich wurde doch ein Gespräch angeknüpft, und er erzählte ihr, daß er seine Arbeit beendet habe und daß er nun zu seinen Eltern heimkehre.
»Habt Ihr mir nichts aufzutragen für das Dorf, Gevatterin Nena? Befehlt!«
»Wenn ich jetzt meinen Spargel verkaufen ginge, käme ich mit Ihnen und wir könnten den Weg gemeinsam machen,« sagte die Rote. – Und da er mit einem blöden Gesicht bejahend nickte, fügte sie hinzu, während ihr Busen heftig wogte: »Aber Ihr würdet mich ja nicht mögen; denn die Weiber sind Euch ja stets zuwider.«
»Ich würde Euch auf Händen tragen, Gevatterin Nena; weiß Gott, ich würde das!«
Da begann Nena an dem Zipfel des roten Kopftuches zu nagen. Und Santo wußte nicht, was er sagen sollte, und er sah sie an und sah sie wieder an, und er warf den Ranzen von einer Schulter auf die andere, wie wenn er nicht imstande gewesen wäre, den richtigen Platz dafür zu finden. Die Feldminze und der Rosmarin dufteten so süß und es war, als nickten sie den beiden zu. Und der Berggipfel erglänzte feurig im Sonnenuntergang.
»Geht jetzt, geht,« sagte ihm Nena, »es ist schon spät.«
»Geht, geht; man könnte uns hier beisammen sehen, so ganz allein.«
Und dann lauschte sie dem Jubelgezwitscher der Kohlmeisen. Aber Santo rührte sich nicht vom Fleck.
Gevatter Santo, der sich endlich doch zum Gehen anschicken wollte, begann nun von neuem den Ranzen von einer Schulter auf die andere zu werfen und wiederholte dabei, was er ihr früher schon gesagt: daß er sie auf Händen tragen würde, so wahr ein Gott sei, wenn sie den Weg mit ihm machen wollte. Und er sah Nena in die Augen; sie aber schlug die Blicke zu Boden und tat, als suchte sie den Spargel inmitten der Steine, und ihr Antlitz war glutrot, gleichsam wie wenn sich die Abendröte darin widerspiegelte.
»Nein, Gevatter Santo, geht nur allein, denn ich bin ein armes Mädel ohne Mitgift.«
»Lassen wir die Vorsehung walten …«
Sie sagte aber immer wieder nein, sie sei nicht die Richtige für ihn, und während sie das sagte, verfinsterte sich ihr Antlitz und nahm einen schmollenden Ausdruck an.
Da warf Santo den Ranzen das letztemal auf die Schulter und entfernte sich völlig entmutigt, gesenkten Hauptes. Die Rote wollte ihm aber noch die Spargel mit auf den Weg geben, die sie für ihn gelesen hatte. Sie würden ihm gut bekommen, wenn er sie ihr zuliebe annehmen wollte. Sie streckte ihm die beiden Enden ihrer Schürze hin, die mit Spargel gefüllt war. Santo legte ihr eine Hand um die Hüfte und küßte sie auf die Backe, während ihm das Herz zu bersten drohte.
In diesem Augenblick kam der Vater des Weges, und das Mädchen lief erschreckt davon. Der Feldhüter hatte die Flinte auf der Schulter, und er war nahe daran, den Gevatter Santo, der ihm einen solchen Verrat angetan, niederzuknallen.
»Nein, ich bin keiner von jenen, die so etwas zu tun imstande sind!« rief Santo und machte mit den Händen ein Kreuz zur Bekräftigung. »Ich will Eure Tochter heiraten, so wahr ein Gott ist. Nicht aus Furcht vor der Flinte sage ich das, Ihr könnt mir's glauben; aber ich bin der Sohn eines Ehrenmannes, und die gütige Vorsehung wird uns schon beistehen, denn wir tun nichts Böses.«
Und am darauffolgenden Sonntag hatte die Hochzeit stattgefunden, mit der Braut im Festtagsstaat und ihrem Vater mit einem Paar neuen Stiefeln, in denen er umherwatschelte wie eine Ente. Der Wein und die gerösteten Bohnen versetzten auch Nanni in eine fröhliche Laune, obgleich er schon die Malaria im Leibe hatte. Und die Mutter holte aus der Truhe ein Paket Linnen hervor, das sie als Heiratsgut für ihre Lucia beiseite gelegt hatte. Die war schon achtzehn Jahre alt, und ehe sie zur Messe ging, schniegelte und striegelte sie sich jeden Sonntag und besah sich im Wasserspiegel des Waschbeckens.
Santo strahlte vor Glückseligkeit; er streckte alle zehn Finger in die Taschen seines Wamses und betrachtete mit innigem Wohlgefallen die roten Haare der Braut, die Linnen und die ganze festliche Herrlichkeit dieses Sonntags. Der Feldhüter mit seiner roten Nase hüpfte in den großen Stiefeln umher und wollte alle miteinander, einen nach dem anderen, küssen.
Nur Lucia stand schmollend in einer Ecke. Sie grämte sich über die Linnen, die man ihr forttrug. Und es war ihr, als ahnte sie jetzt schon, was ihr bevorstände, wenn der Alte einmal die Augen schlösse.
Nun mußte die arme Lucia tatsächlich das Brot backen und die Zimmer scheuern für die Schwägerin, die jeden lieben Tag mit ihrem Manne aufs Feld ging, selbst dann, wenn sie sich in gesegneten Umständen befand, was in jedem Jahre der Fall war; denn sie war fruchtbarer als eine Katze. Jetzt gab's keine Geschenke mehr zu Ostern und zu Santa Agrippina, und es war zu Ende mit den schönen Worten von Castelluccio. Der schlaue Gauner von einem Feldhüter hatte genau gewußt, was er tat, als er seine Tochter ohne Mitgift verheiratete; denn nun mußte Gevatter Santo daran denken, sie zu erhalten. Seitdem er die Nena im Hause hatte, war das Brot karg geworden für beide, und sie mußten es sich im Schweiße ihres Angesichts auf den Feldern von Licciardo erarbeiten.
Während sie nach Licciardo gingen, mit dem Ranzen auf der Schulter, und sich mit den Hemdärmeln den Schweiß von der Stirne wischten, hatten sie bloß das Getreide vor Augen, und es schien ihnen, als schösse es aus den Steinen des Feldpfades empor. Für nichts anderes hatten die beiden Sinn; es war ein krankhafter Zustand. Und sie sahen das Getreide vor sich: gelb, verschlammt vom Regen, und es flimmerte ihnen vor den Augen. Und dann mußten sie Unkraut jäten, und Nenas Hände waren so abgearbeitet, daß es zum Erbarmen war. Aber sie ließ sich durch die Schwangerschaft nicht abhalten, und sie fühlte weder die Schwere noch den Schmerz in den Hüften, trotzdem ihr bei jedem Unkraut, von dem sie das Getreide befreite, zumute war, als gebäre sie einen Sohn. Und wenn sie sich endlich auf dem Feldpfad zusammenkauerte, atemlos und abgespannt, und sich die Haare hinter die Ohren schob, da schien es ihr, als sähe sie die goldigen Ähren vor sich, wie sie sich im Winde beugten. Und sie berechnete mit ihrem Mann, der sich die beschmutzten Hosen aufstülpte und den Karst auf dem Rasen des Pfades reinigte, welcher Erlös ihnen wohl aus der Ernte erwachsen würde. Bis dahin aber, bis zum Juni, war noch eine lange Zeit. Wenn nur der März nicht zu trocken wäre und der Regen nur dann käme, wenn man seiner bedürfte! Die Heilige Agrippina mußte das ihrige dazu beitragen! – – –
Der Himmel war klar, und die Sonne beschien mit ihren goldenen Strahlen die grünen Wiesen, und die Lerchen schmetterten in der Luft und ließen sich dann herab auf die Scholle. Der Frühling keimte und sproßte überall hervor, in den Kaktusfeigenhecken, auf allen Feldern und Wiesen und Wegen, zwischen den Steinen, auf den Dächern, grün wie die Hoffnung. Und Santo, der schwer hinter seiner Gefährtin einherschritt, die trotz ihrer Schwangerschaft den Rücken gebeugt hatte, unter der Last des Futters für das Vieh, fühlte, wie ihm das Herz schwoll vor Zärtlichkeit für die Ärmste, und er plauderte mit ihr mit heiserer Stimme, keuchend und schwitzend. Und sie schmiedeten miteinander Pläne für die Zukunft und berieten, was sie machen würden, wenn der liebe Gott die Saat segnen würde bis zur Ernte. Jetzt hatte er keine Zeit mehr, von den roten Haaren zu sprechen, ob sie schön seien oder häßlich, und von anderen Dummheiten. Und wenn der verräterische Mai kam und mit seinen Uebeln die ganzen Mühen und Hoffnungen zu rauben begann und sie wieder am Rande des Feldpfades saßen und das Getreide betrachteten, das zusehends gelb wurde wie ein Kranker, der dem Tode entgegengeht, da sprachen sie kein Wort mehr und starrten stumm vor sich, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, bleich und abgehärmt.
»Das ist die Strafe Gottes!« brummte Santo. »Mein armer Vater, die gute Seele, hatte es mir vorhergesagt!«
Und in das ärmliche Häuschen des Bedauernswerten drang die Mißstimmung ein, und es sah darin nicht besser aus als auf der schwarzen und kotigen Straße. Mann und Weib wandten einander schmollend den Rücken zu und gerieten in Streit, jedesmal, wenn die Rote Geld für die häuslichen Ausgaben verlangte, oder wenn der Mann spät heimkam und kein Holz zum Wärmen da war, oder wenn das Weib langsam und träge wurde infolge der Schwangerschaft. Dann gab es lange Gesichter, böse Worte und wohl auch Schläge. Santo riß die Nena bei ihren roten Haaren, und Nena grub ihm ihre Fingernägel ins Gesicht. Und die Nachbarn kamen herbeigeeilt und die Rote kreischte und schrie, der Gottlose wolle ihr eine Fehlgeburt verursachen und ein armes Seelchen ins Jenseits befördern. Dann, als Nena entband, machten sie Frieden, und Gevatter Santo trug das Kleine auf den Armen, als wenn ein Prinzeßlein geboren wäre, und er zeigte es den Verwandten und den Freunden, strahlend vor Zufriedenheit. Der Wöchnerin bereitete er selbst, solange sie im Bette bleiben mußte, die Suppe; er fegte die Stube rein, reinigte den Reis und war mit Eifer darauf bedacht, daß ihr nichts fehle. Dann lief er mit dem Kinde umher wie eine Amme, und jedem, der ihn fragte, sagte er: »Ein Mädel! Das Unglück verfolgt mich eben. Ein Mädel mußte es sein. Mein Weib kann nur Mädchen auf die Welt bringen. Buben gibt's bei ihr nicht.«
Wenn die Rote von ihrem Manne Prügel bekam, dann fing sie mit der Schwägerin Streit an, die ihr, wie sie meinte, nichts half und ihr bloß im Wege war; und Lucia erwiderte in gereiztem Tone, daß sie, ohne einen Mann zu haben, alle Mißhelligkeiten der anderen zu tragen habe. Die Schwiegermutter, die Ärmste, suchte den Frieden herbeizuführen und wiederholte immer wieder: »Die Schuld ist an mir, ich tauge zu nichts mehr. Ich esse euch das Brot vom Munde weg, ohne mir's zu verdienen.«
Sie war nicht mehr imstande, alle diese Klagen mitanzuhören und sie bei sich zu behalten: die Sorgen Santos, das Geplärre seines Weibes, den Gedanken an den fernen Sohn, der ihr wie ein Dolch im Herzen saß, und die üble Laune Lucias, die so gar nichts vom Leben hatte, nicht einen einzigen Sonnenstrahl. Wenn die Gevatterinnen sie des Sonntags in ihren Kreis riefen und sie aufforderten, an ihren Gesprächen teilzunehmen, da antwortete sie achselzuckend: »Was soll ich bei euch? Um eure hübschen Festtagsgewänder zu betrachten, die ich nicht habe?«
In den Kreis der Nachbarinnen kam zuweilen auch der Froschhändler Pino, genannt der Schlaufuchs, der nie den Mund auftat und nur immer den anderen aufmerksam zuhörte, die Hände in den Taschen, nach rechts und links spuckend. Kein Mensch wußte, warum er eigentlich da war und was er eigentlich da suchte, aber wenn Gevatterin Lucia an der Türe erschien, dann sah er sie verstohlen an, indem er so tat, als drehte er sich um, um auszuspucken. Am Abend aber, wenn alle Türen verschlossen waren, dann wagte er sogar, ihr ein Liedchen vor der Türe zu singen, indem er sich selbst im Baß die Begleitung dazu sang – brum, brum, brum. – Nicht selten geschah es auch, daß böse Burschen, die spät nachts heimkehrten, ihn an der Stimme erkannten und ihn neckten, indem sie ihm zum Spott das Quaken der Frösche nachahmten.
Lucia tat unterdessen so, als wenn sie im Hause zu tun hätte, gesenkten Hauptes und fern vom Licht, damit man ihr Gesicht nicht erkenne. Aber wenn die Schwägerin brummte: »Jetzt beginnt die Musik,« dann wandte sie sich blitzschnell um wie eine Viper und erwiderte zischend: »Die Musik ist Euch wohl auch schon zuwider! Na ja, in diesem Gefängnis darf man gar keine Freude haben, weder fürs Auge noch fürs Ohr!«
Die Mutter, die alles sah und alles hörte, sagte, mit einem Blick auf die Tochter, daß ihr diese Musik wohltue und sie aufheitere. Lucia tat, als wüßte sie nicht, wer draußen sang und wem die Lieder galten. Und am Tage, wenn Pino vorbeikam, da ermangelte sie nicht, sich am Fenster zu zeigen, die Spule in der Hand. Der Schlaufuchs verbrachte, wenn er vom Fröschefangen kam und durch das Dorf schlenderte, die längste Zeit in der Nähe von Santos Häuschen und schrie fortwährend mit seiner schrillen Stimme: »Frösche, frische Frösche!«, wie wenn die armen Leute in jenem Viertel Geld gehabt hätten, um seine Frösche zu kaufen.
»Frösche sind sehr gut für kranke Leute!« sagte Lucia, die nach einem Anknüpfungspunkt suchte und gerne mit Pino einen Kauf abgeschlossen hätte. Aber die Mutter ließ es nicht zu, daß man für sie Geld ausgebe.
Da der Schlaufuchs bemerkte, daß Lucia ihn verstohlen betrachtete, das Kinn auf den Busen gesenkt, verlangsamte er seine Schritte vor der Haustüre, und am Sonntag nahm er sich sogar das Herz, sich ein wenig mehr zu nähern, bis er sich endlich auf die Stufen des Flurs setzte und die Hände zwischen den Knien herabbaumeln ließ. Und nun erzählte er im Kreise der Gevatterinnen, wie er es anstelle, um recht viele Frösche zu fangen, und daß er dazu oftmals einer teuflischen Schlauheit bedürfe. Pino, der Schlaufuchs, war verschmitzter und arglistiger als ein roter Esel, und er wartete so lange, bis die Gevatterinnen fortgegangen waren, um Lucia zu sagen: »Regen braucht es für die Saat!« oder: »Die Oliven werden heuer schlecht geraten.«
»Was liegt Euch an der Saat und an den Oliven?« sagte Lucia. »Ihr lebt doch von Fröschen!«
»Hört mich an, mein liebes Schwesterchen, wir gleichen alle miteinander den Fingern der Hand: einer braucht den anderen. Wenn kein Getreide und kein Öl geerntet wird, kommt kein Geld unter die Leute, und ich verkaufe meine Frösche nicht. Leuchtet Euch das ein?«
Das »liebe Schwesterchen« war für das Herz des Mädchens wie Honig für die Lippen, und sie dachte den ganzen Abend darüber nach, während sie still beim Lichte spann; und sie grübelte und grübelte, während der Spinnrocken schnurrte.
Die Mutter schien es dem Spinnrocken abzulesen, und da man seit einigen Wochen keine Liedchen mehr singen hörte, noch den Ruf »Frösche, frische Frösche!« vernahm, sagte die Schwiegermutter: »Wie traurig der Winter ist! Jetzt hört man keinen Laut mehr in der Nachbarschaft.« –
Nun mußte man die Türe geschlossen halten, der Kälte halber, und durch das Schiebfensterchen sah man bloß das gegenüberliegende Fenster, schwarz vom Regen, und hie und da einen Nachbarn, der, in den beschmutzten Mantel eingehüllt, heimkehrte. Aber Pino, der Schlaukopf, ließ sich nicht mehr blicken; und wenn ein armer Kranker ein wenig Froschsuppe benötigt hätte, so sagte Lucia, würde er nicht gewußt haben, was beginnen.
»Er wird sich sein Brot auf andere Weise verdienen,« antwortete die Schwägerin. »Das Fröschefangen ist ein armseliges Gewerbe, wenn man nur von ihm allein leben soll.«
Santo, der eines Samstagsabends das Gerücht vernommen hatte, hielt seiner Schwester, die er liebte, eine Predigt: »Mir gefällt die Geschichte mit dem Schlaufuchs nicht. Das wäre eine nette Partie für meine Schwester! Einer, der vom Fröschefangen lebt und den ganzen Tag die Hände im Schoße hält! Du mußt dir einen Bauern suchen, der, wenn er schon nichts sein eigen nennt, doch aus dem nämlichen Teig geformt ist wie du und ich!«
Lucia sprach kein Wort; sie saß da, gesenkten Hauptes und mit finsteren Brauen, und sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu fragen: »Wo finde ich den Bauern?« – Wie wenn es an ihr gewesen wäre, ihn zu finden! Der einzige, den sie gefunden hatte, ließ sich nun nicht mehr blicken, vielleicht weil ihm die Rote irgendeinen Possen gespielt hatte, neidisch und klatschsüchtig wie sie war. Santo war ja auch stets nur das Sprachrohr seines Weibes, und die Rote hatte überall herumerzählt, daß der Froschhändler ein Taugenichts sei und ein Faulenzer; und das war Gevatter Pino gewiß zu Ohren gekommen. Und aus diesem Grunde brach zwischen den beiden Schwägerinnen jeden Augenblick Streit aus.
»Die Herrin hier im Hause bin ja nicht ich!« brummte Lucia. »Herrin in diesem Hause ist die Person, die meinen Bruder zu ködern verstanden und sich ihn zum Manne genommen hat.«
»Wenn ich gewußt hätte, was nachkommt, hätte ich Euern Bruder sicherlich nicht geködert. Denn wenn ich mich früher um ein Brot bekümmern mußte, muß ich mich jetzt um fünf Brote bekümmern!«
»Was geht Euch denn das an, ob der Froschhändler ein Gewerbe hat oder nicht? Wäre er mein Mann, er würde schon selbst daran denken, mich zu erhalten.«
Die Mutter, die Ärmste, trat dazwischen und wollte den Streit durch Güte schlichten; aber sie war nicht imstande, das Wort zu meistern, und sie konnte nichts anderes, als von der einen zur anderen laufen, die Hände in den Haaren und zu stammeln: »Um Gottes willen! Um Gottes willen!« – Aber die zwei Weiber achteten nicht einmal auf sie, sondern gruben einander die Nägel in die Wangen, nachdem sich die Rote das häßliche Wort »Strolchin« hatte entschlüpfen lassen.
» Du bist eine Strolchin! Du hast mir meinen Bruder geraubt!«
Da kam Santo hinzu und schlug alle beide, um Ruhe zu schaffen, und die Rote räsonierte weinend: »Ich meinte es bloß gut mit ihr! Denn wenn sich eine ohne Mitgift verheiratet, dann kommen gar bald die Sorgen.«
Und der Schwester, die kreischte und sich die Haare ausraufte, sagte Santo, um sie wieder gutzumachen: »Was soll ich denn tun, da sie doch nun einmal mein Weib ist? Aber sie hat dich lieb und meint es gut mit dir. Du siehst ja selbst, was wir beide dadurch gewonnen haben, daß wir uns geheiratet haben!«
Lucia schüttete der Mutter ihr Herz aus.
»Ich will dasselbe verdienen, was sie verdient haben! Lieber will ich mich als Magd verdingen! Wenn sich hier einer zeigt, wird er ja hinausgetrieben.«
Und sie dachte an den Froschhändler, der sich nicht mehr sehen ließ.
Nachher erfuhr man, daß er mit der Witwe Mariano lebte, ja, daß die beiden einander heiraten wollten. Denn es war wohl wahr, daß Pino ein Taugenichts war und ein Faulpelz; aber er war ein bildhübscher Bursche, schön wie der heilige Vito in Fleisch und Blut, und die krüppelhafte Witwe besaß das Nötige, um sich den Mann zu nehmen, der ihr gefiel.
»Seht nur her, Gevatter Pino,« sagte sie ihm, »alles, was Ihr da vor Euch habt, gehört mir. Die ganze schöne weiße Wäsche, die ganzen goldenen Ohrgehänge und der ganze goldene Halsschmuck; in diesem Gefäß sind zwölf Kafisse Öl; und dieser Korb ist voll Bohnen. Wenn Ihr es zufrieden seid, könnt Ihr leben, ohne einen Finger zu rühren, und habt nicht mehr nötig, bis über die Knöchel im Schlamm zu waten, um Frösche zu fangen.«
»Was mich betrifft, so wäre ich's schon zufrieden,« sagte der Schlaufuchs.
Aber er dachte an die schwarzen Augen Lucias, die ihn hinter dem Fenster suchten, und sah dann die Hüften der Verkrüppelten, die hin und her wackelten wie die Hüften der Frösche, während sie im Hause umherging, ihm alle diese Dinge zu zeigen. – Aber einmal, da er drei Tage lang nicht einen Soldo verdient hatte und gezwungen war, im Hause der Witwe zu bleiben, um essen und trinken zu können, und draußen der Regen herniederprasselte, da entschloß er sich, ja zu sagen, um des lieben Brotes willen.
»Es geschah bloß um des lieben Brotes willen, das schwöre ich Euch!« sagte er, mit den Händen ein Kreuz machend, als er wieder bei Gevatterin Lucia vorbeikam, die an der Haustür stand. »Wäre nicht die schlechte Zeit gekommen, ich hätte niemals die Lahme geheiratet, Ihr könnt mir's glauben, Gevatterin Lucia!«
»Geht das der Lahmen selbst erzählen!« antwortete ihm das Mädchen, gelb vor Galle. »Ich will Euch bloß das eine sagen: hier ist kein Ort mehr für Euch! Verstanden?«
Und die Lahme sagte ihm gleichfalls, er dürfe keinen Fuß mehr rühren, um dorthin zu gehen; sonst würde sie ihn davonjagen, halbnackt und verhungert, wie sie ihn genommen. »Weißt du denn nicht, daß du mein Brot ißt, daß du daher Pflichten hast mir gegenüber? So wahr ein Gott lebt!«
Dem Manne der Lahmen fehlte in der Tat nichts: er ging gut gekleidet, aß gut, trug Schuhe an den Füßen und hatte nichts anderes zu tun, als den ganzen lieben Tag im Dorfe herumzulungern, bald beim Metzger, bald beim Gärtner, dann wieder beim Fischer, die Hände hinterm Rücken, den Bauch gut angefüllt, und Maulaffen feilhaltend.
»Das ist sein Gewerbe: den Landstreicher machen!« sagte die Rote.
Und Lucia erwiderte, er täte eben bloß deshalb nichts, weil er ein Weib habe, das soviel besitze, um für ihn sorgen zu können.
»Hätte er mich geheiratet, dann würde er gearbeitet haben, um für sein Weib zu sorgen.«
Santo, den Kopf auf die Hände gestützt, erinnerte sich daran, daß seine Mutter ihm geraten hatte, die Lahme zu nehmen; er allein trug also die Schuld, daß er sich das Brot vom Munde hatte entgehen lassen.
»Wenn wir jung sind,« predigte er der Schwester, »dann haben wir alle die gleichen Grillen im Kopfe, die du jetzt hast, und wir denken bloß an das, was uns gefällt, ohne an die Zukunft zu denken. Frage nur einmal die Rote, ob sie heute das nämliche tun würde, was wir gemacht haben! …«
Die Rote saß zusammengekauert auf der Schwelle und nickte zustimmend mit dem Kopfe, während ihre Fratzen rings um sie kreischten und sie am Rock und an den Haaren zerrten.
»Wenn unser lieber Herrgott es uns wenigstens nicht an den Kleinen entgelten lassen wollte!« jammerte sie.
Sie schleppte die Kinder, so gut es eben ging, jeden Morgen mit aufs Feld, wie eine Mauleselin die Füllen, die Kleinste im Ranzen auf der Schulter, die Älteste an der Hand. Aber die anderen drei mußte sie zu Hause lassen, damit sie die Schwägerin zur Verzweiflung brächten. Die im Ranzen und die, die hinkend nachtrottete, schrien aus Leibeskräften vor Kälte am frühen Morgen; und die Mutter mußte von Zeit zu Zeit auf dem Wege haltmachen, um sich den Kopf zu kratzen und zu seufzen: »O du meine Güte!« Und dann hauchte sie die blau angelaufenen Händchen der Kleinen an, um sie zu erwärmen, und nahm die Kleine aus dem Ranzen, um ihr die Brust zu geben, während sie den Weg fortsetzte. Ihr Mann ging voraus, keuchend unter der Last, die er trug, und er kehrte sich kaum nach ihr um; und sie folgte ihm mühselig, die Große an der Hand hinter sich her zerrend, und die Kleine an der entblößten Brust. Aber wenn er sich schon umkehrte, dann geschah es nicht, um die Haare der Roten zu bewundern oder ihren wogenden Busen, wie seinerzeit am Castelluccio. Nun nahm die Rote keine Rücksicht mehr; sie gab ihrer Kleinen zu trinken, gleichviel ob Sonne oder Frost war, genau so wie eine Mauleselin. Ein wahres Lasttier! Ihr Mann hatte in dieser Hinsicht nichts zu klagen: sie bearbeitete den Boden mit Karst und Schaufel, sie säte und erntete besser als ein Mann, wenn sie, den Rock hoch aufgeschürzt, schwarz bis über die Knöchel, im Saatfeld arbeitete. Sie war nun siebenundzwanzig Jahre alt und hatte anderes im Kopf, als an Stiefletten zu denken und an blaue Strümpfe.
»Wir sind alt,« pflegte sie zu sagen, »und müssen für die Kinder sorgen.«
Und sie halfen einander gegenseitig wie zwei Rinder, die vor denselben Pflug gespannt sind. Das war jetzt die Ehe.
»Leider weiß ich das auch!« brummte Lucia. »Ich habe die Sorgen um die Kinder, ohne einen Mann zu haben. Wenn einmal die gute Alte die Augen schließt, dann geben sie mir vielleicht noch ein Stück Brot, wenn sie wollen. Aber wenn nicht, dann setzen sie mich mitten auf die Straße.«
Die Mutter, die Ärmste, wußte nichts zu erwidern und hörte ihr zu, am Bette sitzend, das Tuch auf dem Kopf, gelb im Gesicht. Während des Tages, wenn die Sonne schien, setzte sie sich vor die Türe und träumte still vor sich hin, bis die Sonne unterging und die Dächer gegenüber wieder schwarz wurden und die Gevatterinnen die Hühner zusammenriefen.
Bloß wenn der Arzt sie besuchen kam und die Tochter das Licht ihrem Gesicht näherte, fragte sie den Arzt mit einem scheuen Lächeln: »Halten zu Gnaden … wird es noch lange dauern?«
Santo, der ein Goldherz hatte, antwortete: »Es liegt mir nichts daran, Geld für Medizin auszugeben, so lange die arme Alte da ist, und ich weiß, daß ich sie in ihrem Winkel antreffe, wenn ich abends von der Arbeit heimkehre. Auch sie hat ja ihr Teil abgearbeitet, als sie noch konnte, und wenn wir einmal alt sein werden, dann werden unsere Kinder dasselbe für uns tun.«
Und es geschah überdies, daß sich Carmenio am Camemi das Fieber geholt hatte. Wäre sein Herr reich gewesen, er hätte ihm die Medizinen gekauft, aber Verwalter Vito war ein armer Teufel, der von dem Ertrage des bißchen Viehes lebte, das er besaß; und den Knaben hielt er wirklich bloß aus Barmherzigkeit bei sich, denn die vier Schafe hätte er sich ganz wohl selbst hüten können, wenn er nicht die Angst vor der Malaria gehabt hätte. Dann wollte er auch ein gutes Werk tun. Dadurch, daß er dem Waisenknaben Gevatter Nannis Brot gab, wollte er sich die gütige Vorsehung zu Dank verpflichten, die ihm beistehen sollte, beistehen mußte, wenn es eine Gerechtigkeit im Himmel gab! Was konnte er tun, da er bloß das Stückchen Weide am Camemi besaß, wo die Malaria wütete und Carmenio sich das Wechselfieber zugezogen hatte? Eines Tages, als der Knabe das Fieber in allen Knochen spürte und am Fuße eines großen Felsblockes, der seinen schwarzen Schatten über die staubige Straße warf, vom Schlaf übermannt wurde, während die Schmeißfliegen in der schwülen Luft brummten und surrten, brachen die Schafe in das Saatfeld des Nachbarn ein, ein Brachfeld nicht größer als ein Taschentuch, das von der Dürre schon halb versengt war. Nichtsdestoweniger hütete Gevatter Cheli, unter einem Laubdach kauernd, dieses Saatfeld, das ihm so viel Schweiß gekostet hatte, wie seinen Augapfel; war es doch seine einzige Hoffnung, die er auf Erden besaß. Und als er die Schafe umherstreifen sah, da rief er aus: »Die Tiere haben keinen Verstand; aber der Hirt, der sollte ihn doch wohl haben!«
Und Carmenio erwachte unter den Püffen und Fußtritten Gevatter Chelis, der wie besessen hinter den zerstreuten Schafen einherlief, heulend und schreiend. Die Schläge hatten dem armen, vom Fieber schon halb zermürbten Carmenio noch gefehlt! Aber wurde dadurch der Schaden besser, den die Schafe dem Nachbarn zugefügt?
»Ein Jahr verloren, und meine Kinder ohne Brot für den Winter! Das ist dein Werk, du Gauner!« so rief er aus. »wenn ich dich totschlüge, es wäre immer noch zu wenig Strafe!«
Gevatter Cheli suchte sich Zeugen, um sie vor den Richter vorladen zu lassen samt den Schafen des Verwalters Vito. Als dieser die Vorladung erhielt, war er wie vom Schlage gerührt, und sein Weib ebenfalls.
»Ah, dieser Tunichtgut von einem Carmenio hat uns beide ruiniert! Geht nur hin und tut Gutes, damit es Euch auf diese Weise gelohnt werde! Konnte ich etwa mit der Malaria in den Gliedern auf die Schafe achten? Nun werden wir ganz arm werden durch Gevatter Cheli. Man weiß, was für Kosten einem bei Gericht entstehen!«
Der Arme lief zum Camemi, in der größten Mittagsglut, ganz außer sich vor Verzweiflung über all das Unglück, das nun über ihn hereinbrach, und bei jedem Fußtritt und bei jedem Puff, den er Carmenio versetzte, stammelte er keuchend: »Du hast uns zugrunde gerichtet! Du hast uns den letzten Bissen Brot vom Munde genommen, du Taugenichts!«
»Seht Ihr denn nicht, wie heruntergekommen ich bin?« versuchte Carmenio zu erwidern, während er die Schläge zu parieren trachtete, »welche Schuld trifft mich denn, da ich nicht aufrechtstehen kann vor Fieber? Ich wurde vom heimtückischen Fieber gepackt, da unter dem Felsblock!«
Aber es half ihm nichts; er mußte stehenden Fußes sein Bündel schnüren, auf die zwölf Unzen verzichten, die er noch vom Verwalter Vito zu fordern hatte, und die Herde verlassen. Daß Vito nun selbst, zum zweiten Male, die Malaria bekam, das machte das Maß seines Unglücks voll.
Zu Hause sagte Carmenio kein Wort, als er ganz ohne Verdienst heimkehrte, noch ärmer als zuvor, das Bündel auf dem Stocke über die Schulter geworfen. Bloß die Mutter grämte sich, als sie ihn so bleich und abgehärmt sah, und wußte nicht, was sie denken sollte. Sie erfuhr es später durch den Venerando, der in ihrer Nähe wohnte und ebenfalls Felder am Camemi besaß, hart angrenzend an das Saatfeld Gevatter Chelis.
»Sag keinem Menschen den Grund, warum Gevatter Vito dich fortgeschickt hat,« flüsterte die Mutter dem Jungen zu; »sonst nimmt dich niemand mehr als Hirtenknaben.«
Und Santo fügte gleichfalls hinzu: »Sag keinem Menschen, daß du das Wechselfieber hast, sonst nimmt dich keiner; denn kranke Leute mag man nicht.«
Aber Don Venerando nahm ihn für seine Weide von Santa Margherita, wo der Kurator ihn in aller Ruhe bestahl und ihm mehr Schaden zufügte als die Schafe in der Saat.
»Ich werde dir Medizinen geben. So wirst du nicht die Ausrede haben, schlafen zu müssen und die Schafe umhertreiben zu lassen, wo es ihnen beliebt.«
Der alte Herr hatte die ganze Familie in sein Herz geschlossen, Lucia zuliebe, die er auf der Terrasse sah, wenn sie nach Tisch frische Luft schöpfte.
»Wenn Ihr mir auch noch das Mädchen geben wollt, so soll sie sechs Tari im Monat haben.«
Und er fügte hinzu, daß Carmenio mit der Mutter nach Santa Margherita gehen könne, weil die Alte von Tag zu Tag zusehends abnehme und es ihr auf der Weide wenigstens nicht an Eiern, an Milch und an Schaffleischsuppe fehlen würde, wenn irgendein Schaf zugrunde ginge. Die Rote suchte von ihren Sachen zusammen was möglich war und machte ihr ein Bündel Wäsche zurecht. Nun kam die Erntezeit heran; sie konnte nicht alle Tage von Licciardo herabkommen; und mit dem Herannahen des Winters trat die große Knappheit ein. Und Lucia sagte, diesmal wolle sie ernstlich zum alten Don Venerando dienen gehen.
Sie setzten die Alte auf einen Maulesel, Santo auf der einen Seite, Carmenio auf der anderen mit dem Bündel auf dem Rücken, und die Mutter sagte, indem sie die beiden Söhne gewähren ließ, zur Tochter, ihre matten und trüben Augen auf sie gerichtet: »Wer weiß, ob wir uns wiedersehen? Wer weiß? Sie sagen, ich soll im April wiederkommen. Du fürchte Gott und tu deine Pflicht im Hause deines Herrn. Dort wird es dir an nichts fehlen.«
Lucia schluchzte in ihr Taschentuch, und die Rote, die Ärmste, auch. In diesem feierlichen Augenblick hatten sich die Schwägerinnen versöhnt, und sie hielten einander umschlungen und weinten zusammen.
»Die Rote hat ein gutes Herz,« sagte ihr Mann. »Das Schlimme ist nur, daß wir nicht wohlhabend sind; sonst hätten wir uns immer gleich lieb. Wenn die Hühner im Stalle nichts zu picken haben, so picken sie sich untereinander.«
Lucia war jetzt gut untergebracht im Hause des Don Venerando, und sie sagte, sie wolle bei ihm bleiben, so lange sie lebe, wie man so zu sagen pflegt, wenn man seinem Herrn Dankbarkeit bezeigen will. Sie hatte Brot und Minestra, soviel sie wollte, ein Glas Wein im Tage und ihren Teller Fleisch an Sonn- und Feiertagen. Ihr Monatslohn blieb dabei unberührt, und am Abend hatte sie sogar Muße, sich ihr Leinenzeug zu spinnen, damit sie nicht ganz ohne Aussteuer dastehe. Den Bräutigam hatte sie schon im Auge, im gleichen Hause: Brasi, den Küchenjungen, der die Küche besorgte und auch am Felde mithalf, wenn es nötig war.
Der Herr hatte sich auf dieselbe Weise bereichert, als er im Dienste des Barons stand, und jetzt hieß er »der gnädige Herr« und hatte Felder und Äcker und Vieh in Hülle und Fülle. Lucia hatte man, weil sie von guter Familie abstammte, die bloß herabgekommen war, und weil man wußte, daß sie ehrlich sei, die weniger harten Arbeiten übertragen: Teller waschen, in den Keller gehen, die Hühner beaufsichtigen. Und sie durfte in einem Verschlage unter der Treppe schlafen, einem Verschlage, der einem hübschen Stübchen glich, mit einem Bett, einem großen Schrank und allem, was man so braucht. Da war es denn nicht zu staunen, wenn Lucia sagte, sie wolle von da nicht mehr fortgehen, so lange sie lebe. Und während sie das sagte, blinzelte sie Brasi zu, dem Küchenjungen, und vertraute ihm an, daß sie in zwei bis drei Jahren ihr Grützlein zusammengespart haben werde und »in die Welt werde gehen können«, wenn es dem lieben Herrgott gefiele.
Brasi schien auf einem Ohre taub. Aber Lucia gefiel ihm mit ihren Glutaugen und in ihrem hübschen, kleidsamen Gewand. Auch ihr gefiel Brasi, der kleine Krauskopf mit dem feinen, zarten Gesicht und den kleinen Äuglein, die so schlau und verschmitzt dreinblickten. – Er spritzte ihr Wasser in den Nacken oder steckte ihr Kohlblätter zwischen die Zöpfe. Lucia kreischte nur halblaut auf, damit sie die Herrschaft nicht höre; sie verkroch sich in die Ecke des Backofens, und ihre Wangen glühten so rot wie die Holzscheite, und sie warf ihm die Wischlappen und die Reisigbündel ins Gesicht, während ihr das Wasser den Nacken herabrieselte, daß es eine Freude war.
Und während er sie neckte und hänselte, meinte Lucia: »Mir gefallen diese Scherze nicht!«
Brasi tat, als sei er gekränkt. Er nahm den Kohlstrunk wieder an sich, den er ihr ins Gesicht geschleudert hatte, und steckte sich ihn an die Brust unters Hemd, indem er brummte: »Das ist mein. Ich rühre Euch nicht mehr an. Das ist mein und hat hier zu bleiben. Wenn Ihr Euch meine Sachen an die gleiche Stelle geben wollt, bitte!«
Und er machte Miene, sich eine Handvoll Haare auszureißen, um sie ihr darzubieten, während er die Zunge weit herausstreckte.
Sie puffte ihn mit ihren derben Bauernfäusten auf den Rücken, daß ihm Hören und Sehen verging und daß er nachts schwere Träume hatte, wie er sagte. Sie nahm ihn bei den Haaren wie ein Hündchen und fand ein großes Vergnügen daran, ihre Finger in dieses weiche Kraushaar zu graben.
»Macht Euch nur Luft! Macht Euch nur Luft! Ich bin nicht so empfindlich und übelnehmerisch wie Ihr! Und von Euern Händen würde ich mich kurz und klein schlagen lassen!«
Eines Tages überraschte sie Don Venerando bei ihren Neckereien und schlug einen Heidenlärm. Heimliche Liebschaften gestatte er nicht in seinem Hause; wenn er sie noch einmal erwischte, würde er sie davonjagen, alle beide.
Aber wenn er das Mädchen allein in der Küche vorfand, dann nahm er sie beim Kinn und strich ihr mit zwei Fingern über die Backe.
»Nein, nein,« wehrte sich Lucia, »diese Scherze gefallen mir nicht. Wenn das noch einmal vorkommt, packe ich meine sieben Sachen und gehe meiner Wege.«
»Von ihm aber läßt du dir die Liebkosungen gefallen, nicht wahr? Von ihm ja! Und von mir, der ich der Herr bin, nicht? Was soll das heißen? Weißt du denn nicht, daß ich dir goldene Ringe und Halsketten schenken und dir das Heiratsgut beistellen kann, wenn ich will?«
Und das konnte er wirklich, bestätigte Brasi; denn der Herr hatte Geld, soviel er wollte, und seine Frau trug einen Seidenmantel wie eine Stadtdame, trotzdem sie ein hageres, altes Weib war und aussah wie eine Mumie. Um die alte Schabracke los zu sein, kam er auch öfters in die Küche und erzählte dann dem Mädchen allerhand lustige Schnurren. Aber bei dieser Gelegenheit sah er auch nach, wieviel Holz verbrannt und wieviel Fleisch ans Feuer gesetzt wurde. Er war wohl reich, aber er kannte sich auch in der Wirtschaft aus, und den ganzen Tag stritt er mit seiner Gemahlin herum, der der Reichtum zu Kopfe gestiegen war und der nun nichts recht war im Hause. Bald beklagte sie sich über den Rauch in der Küche, bald war ihr der Geruch der Zwiebel nicht recht.
»Die Aussteuer will ich mir selbst machen, mit meinen eigenen Händen,« gab Lucia zurück. »Die Tochter meiner Mutter soll ein anständiges Mädchen bleiben, und nur als solches soll sie die Frau eines ehrlichen Christenmenschen werden!«
»Bleib nur anständig!« erwiderte der Herr. »Wirst ja sehen, wie schön die Aussteuer sein wird! Und wie viele nach deiner Anständigkeit fragen werden!«
Wenn die Makkaroni zu stark gekocht waren, wenn Lucia zwei Spiegeleier auf den Tisch brachte, die ein wenig angebrannt waren, dann zankte sie Don Venerando tüchtig aus; denn wenn seine Frau zugegen war, dann war er ein ganz anderer; dann hielt er den Kopf hoch, streckte den Bauch heraus und erhob die Stimme. Was glaubten denn die beiden eigentlich? Weil sie miteinander liebäugelten, ließen sie die Eier anbrennen, und er mußte sich das gefallen lassen! Dazu also hielt man sich zwei Dienstpersonen! Ein andermal werde er ihnen das ganze Zeug an den Kopf schmeißen! – Die Frau aber liebte derartige heftige Auftritte nicht, der Nachbarn halber, und sie kreischte im Falsett: »Mach, daß du in die Küche kommst! Vorwärts marsch! So eine schlampige Person! So eine Tagediebin!«
Lucia ging in die Küche und verkroch sich in die Ofenecke, wo sie bitterlich weinte; aber Brasi tröstete sie mit seinem verschmitzten Ausdruck: »Was liegt Euch daran? Laßt sie doch keifen! Wenn wir immer auf die Herrenleute hören wollten, wohin kämen wir denn da? Die Eier sind angebrannt? Nun, desto schlimmer für sie! Man kann doch nicht gleichzeitig im Hofe Holz spalten und in der Küche die Eier rühren! Ich soll Koch und Küchenjunge in einer Person sein, und dabei wollen sie wie die Fürsten bedient sein! Sie haben wohl schon die Zeit vergessen, da er Brot und Zwiebeln aß unter dem Olivenbaum und sie auf dem Felde die Ähren las!«
Und nun vertrauten Dienstmagd und Koch, die beide von »angesehenen Leuten« abstammten und deren Verwandte seinerzeit wohlhabender waren als der Herr, einander ihr »Kreuz« an. Der Vater Brasis war nicht mehr und nicht weniger als ein Fuhrmann gewesen! Und die Schuld lag nur am Sohn, der sich nicht dem gleichen Stande widmen wollte und sich in den Kopf gesetzt hatte, auf den Jahrmärkten herumzustreifen und hinter dem Karren des Krämers einherzugehen; von diesem hatte er auch das Kochen gelernt und den Umgang mit den Tieren.
Lucia begann wieder mit ihrem alten Klagelied: der Vater, das Vieh, die Rote, die schlechten Zeiten! Aber beide hatten sie dasselbe Mißgeschick; sie schienen wirklich wie füreinander geschaffen.
»Die Geschichte von Eurem Bruder und der Roten?« erwiderte Brasi. »Danke schön!«
Es lag ihm nichts daran, daß sie eine Bäuerin war. Er lehnte nicht aus Stolz ab. Sie waren alle beide arm, und es wäre am besten gewesen, wenn sie sich einen Stein um den Hals gebunden und sich in den Brunnen gestürzt hätten!
Lucia schluckte die ganze Bitterkeit hinab, ohne zu mucksen, und wenn sie weinen wollte, verkroch sie sich in ihr Stübchen oder in die Ofenecke, wenn Brasi nicht da war. Sie hatte diesen Menschen, mit dem sie den ganzen Tag über am Feuer stehen mußte, nun einmal liebgewonnen. Die Rüffel und Ermahnungen des Herrn nahm sie auf sich, und Brasi ließ sie das beste Essen und das vollste Glas Wein; für ihn ging sie Holz spalten in den Hof, und sie hatte gelernt, Spiegeleier kochen, ohne sie anzubrennen und Makkaroni zubereiten, aufs Tüpfelchen genau. Als Brasi bemerkte, wie sie das Kreuz machte, den Napf auf den Knien, ehe sie sich zum Essen anschickte, fragte er sie: »Habt Ihr noch nie diese Gaben Gottes gesehen?«
Er beklagte sich immer über alles: daß das Leben in diesem Hause einer Zwangsarbeit im Zuchthause gliche und daß er bloß drei Stunden des Abends für sich habe, um spazierenzugehen oder ins Wirtshaus.
Und wenn Lucia hie und da, gesenkten Hauptes, zu bemerken wagte: »Warum geht Ihr ins Wirtshaus? Laßt doch das Wirtshaus, das ist nichts für Euch!« da antwortete er: »Man sieht, daß Ihr eine Bäuerin seid! Ihr Bäuerinnen glaubt, im Wirtshaus sei der Teufel drinnen. Ich bin aber nicht von so niederer Herkunft. Ich bin nun einmal kein Bauer!«
»Ich sage es ja in Eurem Interesse. Ihr gebt Euer Geld aus, und dann kommt es dort immer mit irgend jemandem zu Zwistigkeiten.«
Brasi fühlte, wie er schwach wurde bei ihren Worten und bei ihren Blicken, die ihn zu meiden suchten. Und dieses Gefühl tat ihm unendlich wohl.
»Was liegt Euch denn daran?«
»Nichts liegt mir daran. Ich sage es in Eurem Interesse.«
»Ist es Euch etwa nicht unangenehm, den ganzen Tag in diesem Hause verbringen zu müssen?«
»Nein, ich danke dem lieben Herrgott, daß es mir so geht, wie es mir geht; und ich möchte, daß es meinen Verwandten ebenso ginge; denn mir fehlt es ja doch an nichts.«
Sie war damit beschäftigt, den Wein in Flaschen zu füllen, und saß zusammengekauert da, den kupfernen Krug zwischen den Beinen, und Brasi war mit ihr in den Keller hinabgestiegen, um ihr das Licht zu halten. Da der Keller groß und finster war wie eine Kirche und man keine Fliege summen hörte in dem unterirdischen Raum und alle beide, Brasi und Lucia, ganz allein waren, legte er ihr den Arm um den Hals und küßte sie auf den roten Korallenmund.
Die Ärmste war völlig erschreckt und verwirrt und wartete darauf, was nun kommen werde, während sie gesenkten Auges, über den Krug gebeugt, dastand; und beide schwiegen, und sie hörte seinen schweren Atem und das Gurgeln des Weines. Aber trotzdem stieß sie einen halbunterdrückten Schrei aus, und beugte sich, zitternd am ganzen Körper, zurück, so daß ein wenig roter Rebensaft zur Erde floß.
»Was war das?« rief Brasi aus. »Ihr habt Wein verschüttet! Ihr wißt, was das bedeutet! Es war mir, als hätte ich einen Schlag ins Gesicht bekommen. Es ist also nicht wahr, daß Ihr mich lieb habt?«
Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, und sie verging fast vor Verlangen. Sie blickte verwirrt auf den verschütteten Wein und stammelte: »O ich Ärmste! Ich Ärmste! Was habe ich getan? Der Wein des Herrn! …«
»Ach laßt doch! Der Herr hat ja noch mehr Wein. Hört lieber auf mich. Ihr habt mich also nicht lieb? Sagt, ja oder nein?«
Nun ließ sie ihn gewähren, als er ihre Hand ergriff, sprach aber kein Wort, und als Brasi sie bat, sie möge den Kuß erwidern, da gab sie ihm einen Kuß auf den Mund, rot im Gesicht vor Scham und Verlangen.
»Ist denn das Euer erster Kuß?« fragte Brasi lachend. »Habt Ihr noch nie geküßt? Ihr zittert ja, wie wenn ich Euch hätte umbringen wollen.«
»Ja, auch ich habe Euch lieb,« antwortete sie; »und ich brannte darauf, es Euch zu sagen. Wenn ich auch zittere, achtet nicht darauf. Es war die Angst wegen des verschütteten Weines.«
»Sieh mal! Auch Ihr? Und seit wann denn? Und warum habt Ihr es mir denn nie gesagt?«
»Seit dem Augenblick, da wir darüber sprachen, daß wir beide gut zueinander passen würden!«
»Ach so,« sagte Brasi und kratzte sich den Kopf. »Gehen wir hinauf, der Herr kann kommen.«
Lucia war ganz glücklich nach dem Kusse, und es schien, als hätte Brasi mit diesem Kusse das Versprechen besiegelt, sie heiraten zu wollen. Aber er sprach nicht darüber, und wenn das Mädchen diese Saite berührte, erwiderte er jedesmal: »Welche Eile! Und dann ist es unnötig, sich die Last aufzubürden, da wir doch ganz gut auch so zusammen leben können, wie wenn wir verheiratet wären.«
»Nein, das ist nicht dasselbe. Nun lebt Ihr für Eure Rechnung und ich für die meine; aber wenn wir einmal verheiratet sind, dann werden wir beide eins sein.«
»Da werden wir was Rechtes sein! Und dann sind wir auch nicht aus demselben Teig geformt. Wenn Ihr noch ein wenig Aussteuer hättet! Aber so?«
»Ach, wie böse Ihr seid! Was für ein hartes Herz Ihr habt! Nein, nein, Ihr habt mich nie liebgehabt!«
»Doch, ich habe Euch liebgehabt. Und ich lebe nur für Euch allein; aber es ist unnötig, über gewisse Dinge zu reden.«
»Nein, das ist nichts für mich! Da irrt Ihr Euch in mir. Laßt mich gehen und seht mich nicht mehr an!«
Nun wußte sie, wie die Männer geartet waren: alle Lügner und Betrüger. Sie wollte nichts mehr von ihnen wissen; sie wollte sich in den Brunnen stürzen, mit dem Kopf nach vorne; sie wollte Nonne werden; sie wollte ihren guten Ruf zum Fenster hinauswerfen! Was nützte er ihr, wenn sie keine Aussteuer hatte? Sie wollte dem ekelhaften alten Herrn zu Willen sein und sich das Heiratsgut durch die Schande verschaffen! Nun war es ja doch schon einerlei …
Don Venerando war immer um sie herum, bald im guten, bald im bösen, um nach dem Rechten zu sehen, ob zu viel Holz verbrannt werde oder zu viel Öl zur Frittura genommen werde; er schickte Brasi fort, er möge ihm um einen Soldo Tabak holen und suchte Lucia am Kinn zu fassen; er lief ihr durch die Küche nach, auf den Zehenspitzen, damit seine Frau ihn nicht höre, und machte dem Mädchen Vorwürfe, daß es zu wenig Respekt vor ihm habe, indem es ihn so zum Narren habe!
»Nein, nein!«
Sie glich einer wildgewordenen Katze. Lieber wollte sie ihre Sachen zusammenpacken und ihrer Wege gehen!
»Und wovon willst du leben? Und wo findest du einen Mann, der dich ohne Aussteuer nimmt? Zieh einmal diese Ohrringe an! Dann schenke ich dir auch noch zwanzig Unzen als Beitrag zu deinem Brautschatz! Brasi würde sich für zwanzig Unzen beide Augen ausstechen lassen!«
O dieser hartherzige Brasi! Er überließ sie den bösen Händen des Herrn, der sie bebend tätschelte! Und sie dachte in diesem Augenblick an die Mutter, die nicht mehr lange zu leben hatte, an das armselige Heim mit den vielen Sorgen, an Pino, den Schlaufuchs, der sie sitzen gelassen, um das Brot der Witwe zu essen! Und sie hatte die Versuchung der Ohrringe und der zwanzig Unzen vor den Augen! Und Brasi kam nicht.
Und eines Tages kam sie mit ganz verstörtem Gesicht in die Küche, und ein paar große goldene Ohrringe baumelten ihr die Wangen herab. Brasi sperrte die Augen weit auf und sagte: »Wie schön Ihr so seid, Gevatterin Lucia!«
»Ah! Ich gefalle Euch so? Gut, gut!«
Brasi, der nun die Ohrringe sah und alles Übrige, bot alles auf, um sich diensteifrig und eilfertig zu zeigen, fast als wäre sie eine neue Herrin geworden. Er ließ ihr den volleren Teller und den besseren Platz am Feuer. Und er schüttete ihr sein Herz aus und sagte ihr, daß sie arm seien, alle beide, und daß es wohltue, der Person, die man liebt, seinen Kummer anvertrauen zu können. Wenn er es nur erreichen könnte, zwanzig Unzen zu besitzen, würde er sich eine kleine Schenke einrichten und ein Weib nehmen. Und dann müßte er in der Küche sein, sie am Schanktisch. Auf diese Weise wäre man von niemand mehr abhängig und brauchte keinem Herrn mehr zu gehorchen. Wenn der Herr ihnen Gutes tun wollte, so könnte er es, ohne sich allzusehr anzustrengen; denn zwanzig Unzen wären für ihn dasselbe wie eine Tabakprise. Und Brasi wäre nicht spröde, nein, gewiß nicht! Eine Hand wäscht die andere auf dieser Welt. Und es war nicht seine Schuld, wenn er sich sein Brot zu verdienen trachtete, so gut er konnte. Armut ist keine Sünde.
Aber Lucia wurde rot oder bleich, oder es traten ihr Tränen in die Augen und sie barg ihr Gesicht in die Schürze. Nach einiger Zeit ließ sie sich nicht mehr außer Hause blicken, weder zur Messe, noch am Beichtstuhl, weder zu den Ostern, noch zur Weihnacht.
In der Küche verkroch sie sich in die dunkelste Ecke, gesenkten Kopfes, eingehüllt in das neue weite Kleid, das ihr der Herr geschenkt hatte. Brasi tröstete sie mit guten Worten. Er legte ihr den Arm um den Hals, er betastete den feinen Stoff des Kleides und lobte ihn. Diese goldenen Ohrringe schienen wie für sie gemacht. Jemand, der gut gekleidet ist und Geld in der Tasche hat, habe keine Ursache, sich zu schämen und die Augen zu senken; ganz besonders wenn die Augen so schön sind, wie die Gevatterin Lucias. Die Ärmste schöpfte Mut und wagte ihm ins Gesicht zu sehen; aber, noch immer fassungslos, stammelte sie: »Wirklich, Meister Brasi? Ihr habt mich immer noch lieb?«
»Gewiß habe ich Euch lieb!« antwortete Brasi und legte zur Beteuerung die Hand aufs Herz. »Aber ist es meine Schuld, wenn ich nicht reich genug bin, um Euch zu heiraten? Wenn Ihr zwanzig Unzen Mitgift hättet, ich würde Euch mit geschlossenen Augen heiraten.«
Don Venerando hatte auch ihn nach und nach liebgewonnen, und er schenkte ihm abgelegte Kleider und zerrissene Schuhe, und wenn er in den Keller hinabstieg, schenkte er ihm einen guten Schluck Wein und sagte: »Da! Trink auf mein Wohl!«
Und sein Bauch wackelte ihm dabei vor Lachen, als er sah, welche Gesichter Brasi schnitt.
Und wenn Brasi den Herrn mit Lucia flüstern hörte, sagte er, totenbleich im Gesicht: »Der Herr ist ein Ehrenmann, Gevatterin Lucia! Laßt nur die Nachbarn schwatzen, soviel sie wollen; das sind lauter neidische Menschen, lauter Hungerleider, die gern an Eurer Stelle sein möchten.«
Santo, der Bruder, erfuhr die Sache auf dem Dorfplatz, einige Monate später. Und er lief schnurstracks zu seinem Weibe. Er war außer sich. Sie waren wohl immer arm gewesen, aber ehrenhaft. Die Rote war ebenfalls starr vor Bestürzung; sie brachte kein Wort hervor und lief sofort zur Schwägerin. Aber als sie zu ihrem Mann heimkehrte, war sie völlig verändert, heiter und strahlend im Gesicht.
»Wenn du sehen würdest! Eine so große Truhe voll mit Wäsche! Und Ringe und Ketten und Gehänge aus feinstem Gold! Und dann sind auch noch zwanzig Unzen Gold für die Brautsteuer da. Ein wahrer Segen, sage ich dir!«
»Das hat nichts zu sagen,« wiederholte Lucias Bruder, der sich nicht überzeugen lassen wollte. »Wenn sie wenigstens so lange gewartet hätte, bis unsere Mutter die Augen geschlossen hat! …«
Es geschah in dem Jahre, wo der Winter so viel Schnee brachte, daß eine große Zahl von Dächern einstürzte, und daß eine große Sterblichkeit unter dem Vieh ausbrach! Es war zum Erbarmen!
Als man an der Lamia und auf den Bergen von Santa Margherita den grauen Abend hereinbrechen sah, mit den unheilverkündenden schweren Wolken, und die Ochsen sich argwöhnisch umwandten und brüllten, da eilten die Leute vor ihre Hütten und blickten stumm, die Hand über die Augen gelegt, auf das ferne Meer. Die Glocke des alten Klosters auf den Bergen läutete, um das Unheil abzuwenden, und auf der Kastellterrasse gab es ein Gewimmel von Gevatterinnen, die nach dem aschgrauen Himmel sahen und dort auf den »Drachenschwanz« deuteten, einem pechschwarzen Streifen, der, wie sie sagten, nach Schwefel roch und der Vorbote war für die böse Nacht. Die Weiber machten mit dem Zeigefinger und dem kleinen Finger das Zeichen der Beschwörung, entblößten die Brust und hielten dem Drachen das Skapulier hin, das sie unter dem Hemde trugen, spuckten dreimal aus, machten das Zeichen des Kreuzes auf der Brust und beteten zu Gott, zu den Seelen des Fegefeuers und zu der heiligen Lucia, deren Vorabend gerade war, sie mögen die Felder beschützen, das Vieh und ihre Männer auch, die noch draußen waren auf freiem Felde.
Carmenio war zu Beginn des Winters mit der Herde nach Santa Margherita gegangen. Die Mutter fühlte sich an jenem Abend nicht wohl und ächzte und stöhnte im Bett, mit weit aufgesperrten Augen; sie konnte sich nicht mehr beruhigen wie früher, und sie wollte dieses und wollte jenes; sie wollte sich erheben und wollte, daß man sie auf die andere Seite lege. Carmenio war ein wenig dahin und dorthin gelaufen, um ihren Wünschen nachzukommen, und um irgend etwas zu beginnen. Dann hatte er sich vor das Bett gestellt, ganz bestürzt, die Hände in den Haaren.
Das Haus stand am jenseitigen Ufer des Flusses, am Ende des Tales, zwischen zwei großen Felsblöcken, die ihm aufs Dach zu kriechen schienen. Auf dem gegenüberliegenden Ufer begann die Anhöhe im Dunkel zu verschwinden, das vom Tale heraufzog, wo alles schwarz war und wo man nur noch mit Mühe den weißen Streifen des Fußsteiges wahrnehmen konnte. Beim Sonnenuntergang waren die Nachbarn von der Kaktusfeigenweide herbeigeeilt, um nachzusehen, ob die Kranke nichts benötige, die regungslos im Bette lag, den Todesschatten auf dem Antlitz.
»Schlimmes Zeichen!« hatte Verwalter Decu gesagt. »Hätte ich nicht die Schafe da oben, bei diesem Wetter, das jetzt im Anzuge ist, würde ich dich diese Nacht nicht allein lassen. Rufe mich, wenn es an der Zeit sein sollte.«
Carmenio nickte bejahend mit dem Kopfe, an den Türpfosten gelehnt; aber als er sah, wie der Verwalter sich Schritt für Schritt entfernte und in der Finsternis verschwand, hatte er große Lust ihm nachzueilen, ihn anzurufen, sich die Haare auszuraufen … und er wußte selbst nicht was!
»Wenn du mich benötigen solltest,« rief ihm Verwalter Decu von ferne zu, »dann laufe bis zur Kaktusfeigenweide; dort sind Leute.«
Die Weide vermochte man jetzt noch da oben wahrzunehmen, inmitten der matten Dämmerung, die auf den Gipfeln der Berge lag und die dunkeln Flecken der Kaktusfeigenhecken durchbrach. Aus weiter Ferne, gegen das Tal zu, vernahm man, kaum hörbar, das langgedehnte Heulen der Hunde, das einem das Blut in den Adern erstarren machte. Die Schafe begannen nun scharenweise das Gehege zu durchbrechen, von einem tollen Schrecken erfaßt, fast wie wenn sie den Wolf in der Nachbarschaft gehört hätten; und bei diesem unerwarteten Gebimmel der Herdenglocken schien es, wie wenn in der Dunkelheit mit einem Male tausend feurige Augen aufleuchteten! Dann blieben die Schafe plötzlich unbeweglich stehen, eng aneinandergeschmiegt, mit gesenkten Köpfen; und der Hund beschloß sein Geheul mit einem langgedehnten, klagenden Winsellaut und setzte sich auf seinen Schweif.
Wenn ich das gewußt hätte, dachte Carmenio, dann wäre es besser gewesen, Verwalter Decu zu sagen, er solle mich nicht allein lassen.
Aus der Dunkelheit ertönte von Zeit zu Zeit das Gebimmel der Schafglocken, wenn die Tiere zusammenschreckten. Durch die Mauerspalte sah man das Viereck der Türöffnung wie den Schlund eines Feuerofens, und sonst nichts. Und das gegenüberliegende Ufer und die Anhöhen und das tiefe Tal und die Ebene an der Lamia, alles war in das undurchdringlichste Schwarz gehüllt, und es schien, als sähe man bloß den rauschenden Strom da unten, der schwellend und dräuend schäumte und tobte.
Hätte Carmenio auch das gewußt, er wäre vor Einbruch der Nacht zu seinem Bruder geeilt, um ihn herbeizurufen, und gewiß wäre er jetzt schon hiergewesen, und mit ihm auch Lucia und die Schwägerin.
Da fing die Mutter zu sprechen an, aber man konnte nicht verstehen, was sie sagte, und sie tastete mit den fleischlosen Händen auf der Decke umher.
»Mutter! Mutter! Was wollt Ihr?« fragte Carmenio. »Sagt es mir, ich bin ja hier bei Euch!«
Aber die Mutter antwortete nicht. Sie bewegte den Kopf hin und her, wie wenn sie nein sagen wollte. Der Knabe leuchtete ihr mit der Kerze unter die Nase und brach vor Angst in Tränen aus.
»O Mutter! Meine Mutter!« jammerte Carmenio. »Ich bin ja ganz allein und kann Euch nicht beistehen.«
Er öffnete die Türe, um die Nachbarn herbeizurufen; aber niemand hörte ihn.
Überall war ein dichter Schimmer, auf den Anhöhen jenseits des Ufers, im Tal, in der Ebene – wie wenn alles in schimmernde Baumwolle eingehüllt gewesen wäre.
Plötzlich vernahm man den gedämpften Ton einer fernen Glocke, und es schien, als brächte der Glockenton den Schnee zum Schmelzen.
»O heilige Mutter Gottes!« schluchzte Carmenio. »Was mag diese Glocke bedeuten? Nachbarn! Zu Hilfe! Heilige Christenheit! Zu Hilfe! Zu Hilfe, ihr guten Christen!«
Doch er rief vergeblich.
Endlich hörte man vom Gipfel des Kaktusfeigenberges eine ferne Stimme, wie die Glocke von Francofonte. »Holla! … Was ist? Was ist? …«
»Hilfe, zu Hilfe, um Jesu Christi willen! Hier, zum Verwalter Decu! …«
»Holla! … Eilt den Schafen nach! … Eilt ihnen nach! …«
»Nein, nein! Es sind nicht die Schafe … nein!«
In diesem Augenblick kam ein Uhu geflogen, setzte sich aufs Haus und hub zu kreischen an.
»Da haben wir's!« murmelte Carmenio, während er das Zeichen des Kreuzes machte. »Nun hat der Uhu den Tod gerufen. Nun stirbt die Mutter.«
Als er nun so allein mit der Mutter in dem einsamen Hause war und sie kein Wort mehr sprach, da überkam ihn ein großes Verlangen, sich auszuweinen.
»Mutter, was habt Ihr? Mutter, so antwortet mir doch! Mutter, ist Euch kalt?«
Sie atmete fast gar nicht mehr, und ihr Gesicht war schwarz. Er machte das Feuer an zwischen den beiden Steinen am Herd und blickte nun auf die glühenden Holzscheite, in denen das Feuer aufflammte; und es war ihm, als sprächen die Flammen zu ihm eine geheimnisvolle Sprache.
Als er noch auf der Weide von Resecone war und dort öfters wachen mußte in der Nacht, da hatte er zuweilen gewisse Geschichten von Hexen erzählen gehört, die auf Besenstielen reiten und die Flammen im Herd beschwören. Carmenio erinnerte sich jetzt all der Leute auf dem Bauernhof, die da versammelt waren, um mit weit aufgesperrten Augen den Erzählungen zu lauschen; ein Lichtchen brannte auf dem Pfeiler des großen, finsteren Mahlganges und keiner hatte das Herz, sich in seine Ecke schlafenzulegen in jener Nacht.
Giusto hatte das Amulett unter dem Hemd auf der Brust und den Streifen aus dem Gewande der heiligen Agrippina um das Handgelenk, das mit der Zeit schon ganz schwarz geworden war. In der Tasche des Wamses trug er sein Pfeifchen aus Schilfrohr, das ihn an die Sommerabende erinnerte, wenn man die Schafe in die goldgelben Stoppelfelder treten läßt, und die Grillen zirpen und die Lerchen trillernd sich auf die Scholle herablassen und die Feldminze und der Rosmarin zu duften beginnen … Und dann dachte er wieder an das heilige Christfest, wenn er da zu den Seinen heimgekehrt war und vor dem hellerleuchteten und mit Orangenzweigen geschmückten Altar die Novena läuten hörte, und wenn die Knaben vor allen Türen in der klaren Dezembersonne mit den kleinen Kugeln spielten. Dann dieses Gedränge auf den Gassen, wo eine festlich geputzte, fröhliche Menge zur Messe eilte! Ach, warum stand es jetzt so schlecht mit ihm? Und die Mutter sprach nichts mehr! Und es war schon so spät in der Nacht. Von den Wänden ohne Mörtel schienen tausend feurige Augen aus jeder Ritze hervorzugucken, die ihn finster anstarrten!
Auf seinem Bettsack in einer Ecke lag, hingeworfen, eine Joppe, deren Ärmel sich aufzublähen schienen; und der Teufel auf dem Heiligenbild des Erzengels Michael über dem Bette fletschte die weißen Zähne, die Hände in den schwarzen Haaren, inmitten des roten Feuers der Hölle.
Am nächsten Tage kamen, bleich wie Tote, Santo, die Rote mit den Kindern und Lucia, die in dieser Todesangst vergessen hatte, ihren Zustand zu verbergen. Vor dem Lager der Toten raufte sie sich die Haare und schlug sich mit den Fäusten auf den Kopf, ohne an irgend etwas zu denken. Dann, als Santo bemerkte, wie seine Schwester aussah und welche Schande sie ins Haus brachte, da sagte er inmitten all dieser Totenklagen: »Hätte sie wenigstens erst die arme Alte die Augen schließen lassen! …«
Und Lucia stammelte aus ihrer Ecke: »Wenn ich es nur gewußt hätte! Ich hätte ihr den Arzt und den Apotheker bezahlt, jetzt, wo ich zwanzig Unzen habe!«
»Sie ist im Paradies und betet zu Gott für uns arme Sünder,« fügte die Rote hinzu. »Sie weiß, daß Ihr die Aussteuer habt und ruht in Frieden, die Ärmste. Meister Brasi wird Euch nun sicher heiraten.«