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Das Abiturium

Durch die heißen, sonnendurchglühten Straßen der staubigen Großstadt rasselten die mit Koffern beladenen Autos. Kinderaugen schauten erwartungsvoll heraus, und Extrazüge wurden allenthalben abgelassen – die großen Sommerferien hatten wieder einmal begonnen.

Auch Frau Doktor Dahlen hatte ihre Gartenwohnung zugeschlossen und war mit Hilde in die einsame Försterei in der sogenannten »märkischen Schweiz« übergesiedelt. Dort war es abgelegen und billig, ihre noch immer angegriffenen Nerven fanden hier das notwendige Ausruhen.

Solche Mutter hatte doch ewig zu sorgen. Kaum war Richards Assessorexamen glücklich vorüber, Max an dem großen Elektrizitätswerk angekommen, um vor dem Ingenieurexamen ein Jahr praktisch zu arbeiten, und nun mußte sie schon wieder an Hilde denken. Die sah blaß und abgearbeitet aus, eine Erholung tat ihr dringend notwendig.

Aber nicht nur Erfrischung fanden die beiden Damen in dem idyllischen Forsthause unter den rauschenden Tannen. Hilde hatte Muße und Sammlung, um die schon erworbenen Kenntnisse in sich zu befestigen und weiter auszubauen. Nach achttägigem Aufenthalt langte an Hildes Mutter ein Brief von Daisy an, der lautete:

»Liebe Frau Doktor!

Tante Malwine hat mich wieder einmal einfach auf die Straße gesetzt. Die großen Koffer sind gepackt und meine Verwandten reisefertig. Sie fahren morgen nach Ostende. Sie hätten mich seelenruhig in der leeren Wohnung zurückgelassen.

Aber Onkel Wilhelm ist gutmütig genug, mir das Geld zu einem Landaufenthalt zu bewilligen, und nun wende ich mich wie schon einmal voll Vertrauen an Sie, verehrte Frau Doktor. Wollen Sie der Obdachlosen wieder ein Asyl gewähren, mich in Ihr Tuskulum einlassen und unter Ihren mütterlichen Schutz nehmen? Hilde und ich würden uns schon vertragen und uns bei unserer Arbeit gegenseitig fördern. Ich harre voll Erwartung Ihrer Antwort – es wäre zu schön! Sie herzlich grüßend mit einem Kuß für meine Hilde

Ihre dankbar ergebene
Daisy Greeham.«

Hilde jubelte, als der Brief kam; und zwei Tage später hielt Daisy in dem in Waldeinsamkeit träumenden Forsthause ihren Einzug. Die Mutter war für Hilde froh, daß sie mit der Freundin zusammenhauste. Sie selbst war manchmal ganz apathisch, die Wunde, die der Tod des Gatten ihr geschlagen, wollte nicht heilen, bei der leisesten Berührung begann sie wieder zu bluten.

Von morgens bis abends lagen die jungen Mädchen in dem würzig duftenden Heidekraut. Ihre blassen Stadtwangen röteten sich bei dem kräftigen Waldozon und der frischen Milch der Frau Försterin, und die für die Ferien geplanten Aufgaben wurden erledigt. Unter gackernden Hühnern und schnatternden Gänsen erklangen die Verse Virgils, bei den grunzenden Schweinen wurde des göttlichen Sauhirten gedacht, und die blauen Schwälbchen am Dachfirst horchten neugierig auf, wenn sogar zur Schlafenszeit gelehrte lateinische Reden aus dem Mansardenstübchen zu ihnen herausschallten.

Der biedere, vierschrötige Förster wurde ihnen ein Lehrer in der Botanik und Zoologie des Waldes; was da kreucht und fleucht machte er seinen Pflegebefohlenen anschaulich. Wenn die Abendglocken aus dem Dörfchen herüberhallten, und die Schatten der Nacht sich leise herabsenkten, saß man vor dem mit Hirschgeweihen geschmückten Tor, und der Förster gab, große Dampfwolken aus seiner Pfeife paffend, launige Jagdgeschichten und seltsame Heidemärchen zum besten.

Frau Doktor Dahlens trübe Stimmungen verflogen bei diesem friedlichen, gesunden Leben. Sie machte mit den jungen Mädchen weite Spaziergänge und nahm wieder an ihren Interessen teil. Nur singen mochte sie nicht wie einst mit Daisy zusammen, jeder Ton tat ihr weh. Wie auf einem einsamen, weltentrückten Eilande lebten sie dahin, nur selten erinnerten sie Karten, daß es noch ein »Draußen« gäbe.

Acht Tage vor Schluß der Ferien stellte sich noch ein neuer lieber Gast in dem Heidehaus ein; Fräulein Doktor Geßner, mit der Hilde in Briefwechsel gestanden, wollte hier noch ein paar Tage von ihren anstrengenden Hochtouren ausruhen. Das wurde ein hübscher Abschluß der Ferien, denn auch Daisy hatte längst mit dem einst so verschmähten »Wickelkind« Freundschaft geschlossen.–

Die Badetünche auf den Wangen der jungen Mädchen verflog bald wieder bei angestrengtem Stubenhocken. Nicht einmal für den Sport blieb Zeit. Das Schreckgespenst, das Abiturium, lag nicht mehr in ungreifbarer Ferne. Näher und näher rückte es heran; die Monden und Wochen flogen dahin; schon sprach man im Gymnasium von nichts anderem mehr. Welcher Schulrat wird dabei sein – wohl keines der jungen Mädchen streckte sich abends auf ihr Lager, ohne diesen Gedanken nicht unruhig in beklommener Brust zu hegen.

Selbst Hilde war von dem allgemeinen Examenfieber angesteckt; sie erweiterte die ständige Frage noch dahin: »Wer wird Mathematik prüfen?« Das war ihre größte Sorge. Geriet sie an einen wenig zugänglichen Examinator, der sie pedantisch in die Enge trieb, dann war sie trotz allen Arbeitens verloren.

»Sie sollen es sehen, Herr Doktor,« jammerte sie in einer der letzten Privatstunden, »ich rede das blödsinnigste Zeug kunterbunt durcheinander – in Mathematik rassele ich bestimmt.«

»Aber Kindchen,« versuchte Doktor Werner ihre Erregung zu dämpfen und sah ihr besorgt in das abgearbeitete, von Nachtarbeit zeugende Gesicht, »Sie geben mir doch hier in der Stunde ganz vernünftige, klare Antworten. Sie beherrschen jetzt alles Notwendige. Wenn Sie aufmerksam dem Fragenden zuhören und dann überlegt und sachlich antworten, müssen Sie bestehen.«

Er bangte innerlich selbst um ihr Examen.

Hilde war noch lange nicht beruhigt.

»Hier bei Ihnen in der Stunde ist es etwas anderes, Herr Doktor, wenn ich Ihnen gegenüber sitze –« sie brach plötzlich ab.

»Na – was ist dann?« forschte er.

»Sie geben mir Ruhe und Besonnenheit,« fuhr Hilde, ohne ihn anzusehen, fort, »aber wenn ich ins Examen steige und ein fremdes Gesicht vor mir sehe, dann vergesse ich sicher auch die einfachste Formel.«

»Aber Fräulein Hilde, Sie sind ja wie ausgetauscht. Ich habe Sie immer für solch tapferes Mädchen gehalten, habe gedacht, na, die Hilde Dahlen geht doch sicher mutig und keck ins Examen.«

»Ja – ich kenne mich selbst nicht mehr,« gestand sie kleinlaut, »das kommt alles bloß daher, weil ich immer und ewig zum Examen ochse. Man verdummt ja rein dabei.«

Er schüttelte den Kopf über ihre derbe Ausdrucksweise.

»Ich meine zum Examen büffeln,« entschuldigte sich Hilde, und ein amüsiertes Lächeln flog über Doktor Werners Züge – an der Hilde war doch Hopfen und Malz verloren.

Aber merkwürdig, je näher die Tage des schriftlichen Examens heranrückten, und je aufgeregter und nervöser die anderen wurden, allen voran Daisy, umso ruhiger und zuversichtlicher ward Hilde. Sie hatte der Mutter den Termin des Examens verheimlicht, um ihr die Sorge zu ersparen, und war bereits mitten im Schriftlichen, als Frau Doktor Dahlen das Examen noch weit entfernt wähnte. Die schriftliche Prüfung in den gewohnten Klassenräumen bei den bekannten Lehrern ging zur Zufriedenheit von statten. Daisy behauptete zwar steif und fest, den deutschen Aufsatz »Das Parzenlied« aus Iphigenie total verhauen zu haben, und Hilde schlich sich scheu um Doktor Werner herum, da sie die vierte mathematische Aufgabe nur halb gelöst hatte. Aber im allgemeinen war die Stimmung eine gehobene. Allerdings flaute sie wieder ab, als die drohende mündliche Prüfung nun unmittelbar bevorstand. Daisy und Hilde gehörten nicht zu den Glücklichen, die auf Grund ihres guten schriftlichen Examens vom Mündlichen befreit wurden.

»Rein in die Hölle,« kommandierte Hilde, als Daisy an dem Schreckenstage herzklopfend an der Eingangstür zur Aula halt machte.

Daisy wurde nach ihrem Aufsatz tüchtig in Deutsch-Literatur herangenommen, aber gerade den Laokoon, über den sie befragt wurde, hatte sie am letzten Abend noch einmal durchgelesen.

»Sehen Sie sich den spanischen Erbfolgekrieg ordentlich an, Hilde,« hatte Fräulein Geßner ihr geraten, »das ist immer eine beliebte Examensfrage,« und richtig – sie bekam ihn! Mit glückstrahlendem Gesicht schnurrte Hilde die Namen, Zahlen und Daten herunter, so daß der Schulrat ganz erstaunt aufsah. Wenn nur Mathematik nicht gewesen wäre. Hilde fühlte ein leises Zittern in den Beinen, wenn sie daran dachte. Jetzt würde es losgehen – nun hieß es, allen Mut zusammennehmen!

Aber da zog der Schulrat die Uhr – trat ans Fenster und wandte sich dann zu den jungen Examinandinnen: »Professor Döring, der in Mathematik prüfen sollte, ist leider plötzlich erkrankt. Ich habe bereits Doktor Werner bitten lassen, für ihn einzuspringen – es scheint den Damen ja allen sehr unangenehm zu sein,« setzte er gutgelaunt hinzu, als er ringsum strahlenden Mädchenaugen begegnete.

Hilde hätte den Schulrat am liebsten umarmt, so erleichtert fühlte sie sich auf einmal. Und als nach kurzer Zeit Doktor Werner in Frack und weißer Binde eilig die Aula betrat, warf sie ihm einen glückselig triumphierenden Blick zu. Da wußte er, es war bisher gut gegangen.

So ganz leichten Kaufes kam sie aber doch nicht davon. Gerhard Werner fühlte sich seinem Gewissen gegenüber verpflichtet, gerade Hilde tüchtig heranzunehmen. Aber sein Blick flößte ihr Klarheit ein. Die Aula mit den ernsten Herren ringsum und die bebrillten Augen des gestrengen Herrn Schulrats versanken plötzlich vor ihr, sie sah sich wieder in dem stillen Studierzimmer, und ohne Erregung und Hast gab sie zufriedenstellende Antworten.

Das Abiturium war vorüber, sie hatten alle, ohne Ausnahme, bestanden!

Die Mädel gebärdeten sich wie die Verdrehten. Sie sprangen, tanzten und sangen nach Verlesung des Resultats auf dem Schulhof wie die Gören. Am ausgelassensten war Ilse Petersen.

»Kinder, nur mit edler Dreistigkeit kommt man durch die Welt,« rief sie mit lachenden Augen, »ich habe doch keine blasse Ahnung von Zoologie und mir fest eingeredet, ich komme bei den Käfern heran. Das ist das einzige, was ich kenne. Und da gibt man mir Unglückswurm die Singvögel. Na, entweder glückt es mir, dachte ich, oder ich plumpse rein und sagte also ganz unverschämt: Die Hauptnahrung der Singvögel besteht in Käfern. Was nun die Käfer anbelangt, so teilt man dieselben in die und die Klassen. Und ließ Singvögel Singvögel sein und warf ihnen mit einer Geschwindigkeit alles, was ich von den Käfern wußte, an den Kopf, daß die Herren vor lauter Staunen ganz vergaßen, mich zu unterbrechen. Na, ihr ward ja selbst dabei, der Schulrat muß die Frage wohl überhört haben, denn er brummte, als ich glücklich in meiner Naht innehielt, ein vernehmliches ›Gut‹, und die Herren waren anständig genug, mich durchschlüpfen zu lassen.«

»Ja,« sagte Hilde bewundernd, »du hast mir kolossal imponiert, Ilse!«

Daisy indessen war eine derartig dreiste Unverschämtheit ganz unbegreiflich.

»Nanu, Fräulein Hilde, haben Sie sich tätowiert?« fragte Doktor Werner, der mit einem lauten Hoch von den Abiturientinnen empfangen wurde, nachdem er allen herzlich gratuliert.

»Wieso?« fragte Hilde erstaunt. Sie standen beide an dem breiten Korridorfenster, und er hielt, ihr noch einmal allein Glück wünschend, immer noch ihre Hand umschlossen.

Doktor Werner warf einen fragenden Blick auf ihre Finger. Wie von der Tarantel gestochen zog Hilde plötzlich ihre Hand zurück.

Die rosigen Nägel waren mit allerlei schwarzen seltsamen Zeichen und Strichen bemalt – was war denn das für Allotria?

Hilde mußte sich dazu bequemen, wohl oder übel Aufklärung zu geben.

»Es ist nur Latein,« versuchte sie sich zu verteidigen, aber vor seinem ernsten Blick senkte sie verwirrt das Auge.

Er schwieg beredt.

»Nur ein paar lateinische Vokabeln, die ich absolut nicht kapieren konnte,« fügte sie kleinlaut hinzu. »Das tun die Jungen immer. Mein Bruder Max hat es im Abiturium noch schlimmer getrieben. Wir Mädel haben doch keine Manschetten, auf denen man sich ein paar Notizen machen kann,« setzte sie, in altem Trotz die Lippen aufwerfend, hinzu.

Doktor Werner schien Hildes letzte Argumente vollständig zu überhören. Er sah traurig aus.

»Also doch wieder unwahr, immer noch nicht vom Selbstbetrug geheilt. Sie haben mich enttäuscht, Fräulein Hilde.« Er wandte sich zum Gehen.

Hilde blieb erstarrt stehen. Dann aber, einem plötzlichen Impuls folgend, holte sie ihn mit schnellen Schritten ein.

»Herr Doktor, Sie betrüge ich nicht, gegen Sie bin ich nie – niemals mehr unwahr gewesen,« es lag solche flehentliche Abbitte in ihren hellbraunen Augen, daß Doktor Werners strenger Blick milder wurde.

»Sie sollen auch gegen andere wahr sein und vor allem gegen sich selbst,« sagte er, ihr in das bewegte Gesicht schauend, mit Nachdruck, und doch – er fühlte bei Hildes Worten, wie seine Brust sich ungestüm hob, wie eine heiße Glückswelle ihm zum Herzen flutete.

Die Mädel waren alle schon nach Hause gestürmt, um den Eltern die frohe Botschaft zu melden. Daisy und Hilde waren die letzten hinter denen sich die Schulpforten, die Tore der Kindheit, schlossen.

Nichtsahnend saß Frau Doktor Dahlen an ihrem Nähtisch und besserte Kleidungsstücke aus.

Da wurde die Tür aufgerissen, ein rascher Schritt – »Hilde – jetzt schon!« – und da lag sie der Mutter am Halse und »Ich bin durch, Muttchen!« jubelte sie.

Fest preßte Frau Doktor Dahlen ihr Kind an sich. Wieder flossen die Tränen über ihr feines blasses Gesicht, aber diesmal waren es Tränen reinster Freude.

»Wenn doch Vaterchen das erlebt hätte!« sagte Hilde leise. Und dann fuhren sie beide zu der efeuumschmiegten Ruhestatt hinaus, und Hilde brachte ihrem Vaterchen die ersten Veilchen. –

Von Richard kam ein ulkiges Telegramm in Versen, und Max eilte spornstreichs herbei, um sich den frischgebackenen weiblichen Mulus persönlich anzusehen.

Hilde war es zumute wie einem gefangenen Vöglein, das plötzlich in Freiheit gesetzt wird, sie wagte es noch gar nicht, ihre Schwingen zu entfalten.

Auch Günter Berndt erschien mit herrlichen Blumen zur Gratulation.

»Ich hätte es wirklich nicht gedacht, Hilde, daß Sie es so weit bringen würden.«

Hilde zuckte die Achseln, sie hatte ein für allemal das Kriegsbeil zwischen ihnen begraben.

»Und was wird nun?« fragte er weiter. »Wirklich studieren – haben Sie sich den Schritt auch wohl überlegt?«

»Da gibt es nichts mehr zu überlegen,« sagte Hilde ruhig.

»Und Ihre Freundin Daisy – natürlich auch durch?«

»Daisy – das bedarf doch keiner Frage,« Hilde schaute ihn an, als ob sie an seinen fünf gesunden Sinnen zweifelte. »Die ist jetzt fein heraus. Gefreut haben sie sich weiter nicht, ihre lieben Verwandten, über das bestandene Examen. Aber ihr Onkel hat ihr eine jährliche Summe während ihrer Studienzeit ausgesetzt. Nun kann sie studieren, wo sie Lust hat. Vielleicht gehen wir im nächsten Jahr zusammen nach Heidelberg – Daisy ist ganz glücklich.«

»Sie ist ganz glücklich, ihr fehlt nichts mehr zu ihrem Glücke,« sagte sich Günter Berndt immer wieder, als sein unvernünftiges Herz ihn dazu drängte, Daisy einen Glückwunsch zu senden. Er unterließ es. Daisy hatte auch eigentlich keine Gratulation von ihm erwartet. Aber als sie nun wirklich ausblieb, tat es ihr doch sehr weh.

Es war so schwer, sich in das Unabänderliche zu fügen!

»Habt ihr denn auch Muluskneipe, ihr Mädel?« fragte Bruder Max lachend und packte Hilde wie in seinen Jungenjahren an den goldbraunen Locken.

Hilde nickte.

»Viel was Schöneres noch, Bier schmeißen kann jeder – wir geben ein Mulusessen!«

»Ist denn auch das nötige Kleingeld dazu vorhanden?« erkundigte sich Max lebhaft, der selbst öfters mal in der Geldklemme saß.

Hilde brachte eine alte Streichholzschachtel zum Vorschein. Sie war mit Fünfzigpfennigstücken gefüllt.

»Seit Wochen habe ich schon mein Taschengeld nicht mehr angerührt,« berichtete sie dem Bruder stolz – »Sonnabend wird alles verjubelt, ich habe noch viel dazu zu dichten. Es soll wunderschön werden.«

Und es wurde wunderschön!

Die jungen Muli hatten ihre Lehrer und Lehrerinnen zum Abendessen geladen, und sie kamen alle.

Von Anfang an herrschte frohe, ausgelassene Stimmung. Ein jeder hatte die Würde der Schulstube gänzlich zu Hause gelassen. Man trank und toastete, man sang und schwang Reden, und dann beim Eis erschien Hildes »Neues Kommersbuch«.

Sie hatte darum gebeten, nicht als Verfasserin genannt zu werden. Aber als man in dem fröhlichen Kreise die von Witz und Laune sprühenden Verse nach den alten Studentenweisen absang, wußte ein jeder, wer dieselben verbrochen. Keiner ging leer aus, ein jeder bekam sein Teil. Selbst die Respektspersonen, Lehrer und Lehrerinnen, mußten sich ein Durchhecheln gefallen lassen.

»Bin ich denn wirklich manchmal so unnahbar und unfehlbar, Fräulein Hilde, wie Sie mich eben nach den Klängen der Lindenwirtin gezeichnet haben?« fragte Doktor Werner belustigt.

»Ich,« erstaunte Hilde, »ich lese diese Verse eben das erstemal.«

»Die Wahrheit!« drohte er lächelnd.

»Wenigstens gedruckt,« gestand sie ein.

Auch die übrigen hatten die harmlosen, lustigen Seitenhiebe mit Humor pariert, und als nach dem Essen Ilse Petersens »Hobelbank« vorgeführt wurde, war der Jubel auf dem Höhepunkt.

Ilse hatte als echte Tochter ihres Vaters künstlerische Karikaturen angefertigt. Ein jeder der ausgelassenen Gesellschaft erblickte sich in irgend einer Eigenschaft auf dem Bilderbogen festgehalten. Da sah man Germanicus den Zirkel gleich einem Speer schleudern gegen die Dummheit und Verbohrtheit in der Mathematikstunde. Hier erschien Fräulein Kurz in Schutzmannskleidung und inspizierte die Klassen, Fräulein Geßner erblickte man als Wickelkind im Steckkissen, griechische Geschichte lehrend, und Hilde sah sich zu ihrem Entsetzen im Heidekraut liegen, eine dicke Zigarre im Munde. Doktor Werners Blick suchte, als der Vers auf Hilde von der Korona gesungen ward, Hildes Auge. Sie war wie mit Blut übergossen. Als ihren getreuen Schatten aber hatte Ilse Petersen Daisy hingemalt. Einer nach dem andern kam daran, und der Jubel und Hallo wuchs bei einem jeden neuen Bilde. Es machte den Lehrern riesigen Spaß, ihre geheimen Spitznamen und Eigenheiten aus den Karikaturen kennen zu lernen.

Zum Schluß wurde noch eine richtige Kneiptafel veranstaltet, man mußte doch wissen, daß man bei einer Mulusfeier war.

Daisy und Alice Marx, die ebenfalls eine reizende Stimme hatte, überraschten die Gesellschaft dabei als flotte Studentinnen, die in lustigen Couplets das Frauenstudium besangen.

Die meisten der jungen Mädchen beabsichtigten die Universität zu beziehen. Hilde und Daisy mit noch drei andern traten in Äskulaps Fußstapfen. Die andern studierten Volkswirtschaft, Rechtswissenschaft, Naturwissenschaften, Sprachen oder Geschichte; letztere gedachten ihren Studienrat zu machen, um später am Gymnasium zu unterrichten.

Es war ein höchst gelungenes Fest – ein würdiger Abschluß der schönen Gymnasialzeit – das fanden sie alle, als man sich spät trennte.

Doktor Werner begleitete erst Daisy und dann Hilde heim; schweigend, in Gedanken versunken schritt er an ihrer Seite.

Hilde blickte ihn verwundert von der Seite an – er war nach Daisys Abschied so still geworden.

Gerhard Werner schwankte – sollte er die günstige Gelegenheit benutzen und zu Hilde heute noch, wo sie nun nicht mehr seine Schülerin war, von dem sprechen, was sein Herz erfüllte. Würde das tiefe, gewaltige Gefühl einen Widerhall in ihrem Herzen wecken? Zuneigung hatte er oft in ihrem selbstvergessenen Blick zu lesen geglaubt, aber war dieselbe schon fest und stark genug, um als sichere Grundpfeiler den Bau ihres Glückes zu tragen? War Hilde überhaupt schon genügend reif, um sich ihrer Empfindungen vollständig klar zu sein?

Er sah auf sie herab, der Mondenschein webte ein glitzerndes Silbernetz um ihre schlanke Gestalt und ließ ihre jungen Züge bleicher und ernster erscheinen. Lauer Wind spielte kosend mit ihren krausen Löckchen. Es lag eine märchenhafte Stimmung in diesem stillen Nachtfrieden.

»Fräulein Hilde – also Sie wollen nun wirklich studieren?« begann er zögernd das bedeutungsvolle Gespräch.

Hilde blickte überrascht auf.

»Sie haben mir doch selbst vor dem Examen dazu geraten.«

Wie merkwürdig er mit einem Male war.

»Früher – aber ich habe meine Ansicht geändert –« wieder eine Pause.

Hilde machte immer erstauntere Augen – sie verstand ihn nicht. »Sie sind doch ein eifriger Verteidiger des Frauenstudiums, Herr Doktor?« fragend sah sie zu ihm auf.

»Ja – aber für Sie nicht – für Sie nicht,« seine Stimme klang erregt – nun mußte sie ihn doch verstehen.

Hilde stutzte. Einen Augenblick überlegte sie, und dann stiegen ihr Tränen des Zorns in die Augen.

»Also solch geringe Meinung haben Sie von mir. Ich soll nicht studieren, weil ich in Mathematik so verbohrt bin. Aber nun gerade, ich will Ihnen schon den Beweis bringen, daß Sie sich in mir geirrt haben.«

»Ich habe mich wirklich in Ihnen geirrt,« sagte Gerhard Werner langsam. Hildes heftige Entgegnung hatte sein heißes Herz wie ein kalter Wasserstrahl berührt – versunken war die Märchenstimmung.

Mochte sie ruhig studieren und den Kampf mit dem Leben aufnehmen. Noch war sie nicht reif genug, um ihn voll zu verstehen. Aber ein Schiff, das gegen Brandung und Wellen gekämpft hat, läuft erprobt in den sicheren Hafen ein. Er wollte geduldig warten.

Am nächsten Tage ließen sich die beiden Freundinnen an der Berliner Universität als stud. med. immatrikulieren.

Hilde und Daisy waren Studentinnen.


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