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Das Abschiedslied

Was ziehen wir an? Diese Frage bildete jetzt einen wichtigen Faktor in dem Gedankengange der jungen Mädchen; sie waren doch nicht blaustrümpfig genug, um nicht alle die weibliche Eitelkeit zu besitzen, sich möglichst schön zur Landpartie zu machen. Das Wetter schien warm und sonnig zu bleiben, da konnte man noch einmal die hellen Sommerkleider hervorsuchen.

Nur Daisy beteiligte sich nicht an den eifrigen Toilettendebatten, erstens war die Auswahl ihrer einfachen Kleider keine allzu große, und zweitens war sie mit ihren Gedanken überhaupt gar nicht bei dem Dampferausflug.

Morgen reiste Günter Berndt nach Hamburg, und dann schiffte er sich ein zu dem fernen, fernen Erdteil. Ach, wenn nur kein Sturm dem »Bismarck«, auf den er an Bord ging, drohte, keine ruhige Minute würde sie jetzt sechs Monate lang mehr haben. Heute schon zitterte und bangte sie für ihn, dem sie doch so vollständig gleichgültig war, der ihr jedesmal, wenn sie ihn bei Dahlens traf, so kühl und gemessen entgegentrat. Seit jenem Regentage, wo er ihr die Markttasche getragen und wo sie seine freundlichen Worte so häßlich zurückgewiesen, war er steif und förmlich gegen sie geworden. Was war sie doch für ein törichtes Mädchen, daß sie so unsagbar darunter litt, daß sie allen guten Vorsätzen zum Trotz wieder und wieder an ihn denken mußte. Heute, am letzten Abend, war er noch einmal bei Dahlens, Hilde hatte es erzählt.

»Komm doch auch,« hatte Hilde harmlos gesagt, »Günter Berndt ist jetzt nach dem Examen viel verdaulicher geworden. Es wird sicher ein fideler Abend werden.«

»Nein, nein, ich muß arbeiten.« Daisy hatte so eifrig abgewehrt, als ob ihr Hilde wer weiß was für eine Zumutung gemacht hätte.

Und jetzt hätte sie sich dafür prügeln können.

Sie saß an dem alten kleinen Schreibtisch, der noch aus der Mädchenzeit ihrer Mutter stammte, und starrte abwesend in das Physikbuch. Es war ihr nicht möglich, die Gedanken zur Arbeit zu sammeln, die kommunizierenden Röhren waren ihr totgleichgültig. Jetzt war Günter Berndt gewiß schon bei Dahlens, und morgen ging er fort – für lange Zeit! Hätte sie doch Hildens Einladung angenommen!

In Gedanken verloren stützte sie den Kopf in die Hand und schaute Fränzen zu, die vor dem Spiegel eine neue Haarfrisur ausprobte. Wie die Nordseesonne den kräftigen Hautton der Cousine verbrannt hatte, krebsrot sah sie aus. Heute abend gingen die Verwandten alle zum Geburtstag einer Tante, sie hatte man wie gewöhnlich nicht mit aufgefordert. Wie schön hätte sie den freien Abend bei Dahlens verbringen können – sollte sie noch ...

»Nein,« sagte sie plötzlich laut und schroff zu sich selbst. Fränze fuhr empor.

»Was ist denn los?«

»Ach, nichts, gar nichts.« Daisy strich sich erschreckt mit der Hand über die Augen und beugte verwirrt den Kopf wieder über das Buch.

»Man nimmt eine U-förmig gebogene Röhre, füllt sie mit Wasser und dann steigt die Flüssigkeit in beiden Röhren zu gleicher Höhe,« murmelte sie mechanisch vor sich hin, ohne den Sinn der Worte zu fassen.

Ob er sehr bleich und überarbeitet aussah? Sie hatte ihn noch gar nicht nach dem Examen gesehen, wenn sie am Ende doch noch ... Seufzend klappte sie das Physikbuch zu.

Sie wollte es lieber mit der französischen Präparation versuchen, Racine nahm die Gedanken doch mehr in Anspruch als die öde Physik. Fränze war nun glücklich gegangen, so hatte sie einen stillen Abend zur ungestörten Arbeit. Also fort mit den dummen Träumereien und forsch ans Übersetzen; eifrig begann Daisy in ihrer Ledermappe zu kramen.

Wo war denn nur ihr Vokabelheft? Mindestens zehn Seiten Vokabeln hatte sie schon herausgezogen – ach, richtig – Hilde hatte es sich ja gestern von ihr geliehen, die sich die Arbeit erleichtern und die Vokabeln von ihr abschreiben wollte. Ein glückselig triumphierendes Lächeln verklärte plötzlich Daisys Gesicht. Nun mußte sie doch – nun ging es nicht anders – und schon hatte sie den Hut aufgestülpt und eilte spornstreichs, ohne auch nur noch einen Blick in den Spiegel zu werfen, die Treppe hinab und die Straße entlang, dem Hause der Freundin zu. Hilde quietschte direkt vor Freude, als Daisy so unerwartet vor ihr stand, jubelnd zog sie die Freundin ins Zimmer.

Da saßen sie alle um den runden gemütlichen Tisch, Hildes Eltern, die Brüder und neben Richard ein bleiches Antlitz mit dunkelumschatteten Augen – hatte es nicht eben in den grauen Augen ein ganz klein wenig aufgeleuchtet, als Daisy unvermutet ins Zimmer trat?

Es war wohl Täuschung, denn Günter Berndt ergriff nur flüchtig Daisys dargebotene Rechte und erwiderte ihren schnell hervorgestoßenen Glückwunsch nur mit einer leichten Verbeugung.

»Das ist recht, Daisy,« meinte Richard, ihr einen Stuhl an den Tisch schiebend, »daß Sie Freund Günter fortfeiern helfen. Sehen Sie sich nur das Bleichgesicht einmal an, grün- und gelbkariert sieht der arme Kerl aus, ja, › magna cum laude‹ will errungen sein.«

»Mach doch Miß Greeham nicht bange, Richard,« wehrte Günter ab, »wie lange wird's dauern, und sie steht an derselben Stelle.«

Daisy biß sich auf die Lippen. Da hatte er doch schon wieder die Rede auf ihr Studium gebracht, in jedem Gespräch zielte er darauf hin, er sah nur noch die künftige Kollegin in ihr.

»Daisy, du stehst ja da wie 'ne Katze, wenn's donnert,« lachte Hilde los, »setz' doch den Hut ab und mach's dir bequem; möchtest du Tee oder Bier?«

»Nein, danke, ich will gleich wieder fort. Nur mein Vokabelheft mußte ich mir holen, Hilde, ich konnte absolut nicht weiter präparieren,« so – nun wußte Günter Berndt doch wenigstens, daß sie nicht etwa seinetwegen gekommen.

»Ausgeschlossen – einfach ausgeschlossen,« damit hatte Hilde Daisy geschickt den Hut entrissen, und der lange Max hängte ihn gefällig hoch oben an die Deckenbeleuchtung.

»Sehen Sie – nun gibt's kein Auskneifen mehr, Daisy,« neckte er, »Französisch können Sie auch noch morgen genießen, das läuft nicht davon; aber Günter Berndt können Sie morgen nicht mehr sehen, der ist dann schon beinahe in Kalkutta.«

Daisy warf einen schnellen Blick zu Günter herüber – keine Miene zuckte in seinem ruhigen Gesicht.

»Bitte, Max, geben Sie meinen Hut her. Hilde, indeed I must go, es ist niemand zu Hause ...«

»Na also – dann kannst du dir überhaupt jedes weitere Wort sparen, Daisy. Sei doch nicht so ungemütlich! Hier hast du einen Teller – so, nun iß. Ja, ich weiß schon, was du sagen willst, nach Hause gebracht wirst du, auch vor zehn Uhr, wenn du keinen Schlüssel hast!« damit hatte Hilde Daisy auf einen Stuhl niedergedrückt und begann eifrig, ihr Salat vorzulegen.

Die weiche, nachgiebige Daisy vermochte ihren Widerspruch nicht länger aufrecht zu halten. Bald hatte sie das beklemmende Gefühl, das die grauen Augen ihr gegenüber verursachten, überwunden und vermochte unbefangen in das übermütige Scherzen und Lachen der andern einzustimmen.

»Günter, bist du auch seefest?« erkundigte sich Richard.

»Ich denke,« meinte dieser erstaunt.

»Na, sonst könntest du ja meinen Vater noch mal konsultieren, bist hier ja im Hause eines Augenarztes,« ulkte Richard ihn an.

»Au –« machten alle, und Hilde gab dem Bruder für den schlechten Witz einen schwesterlichen Puff.

Günter Berndt hatte seine strahlendste Laune mitgebracht, so hatte Daisy ihn noch nie gesehen. Er dichtete aus dem Stegreif und sang mit prachtvollem Bariton Kneiplieder, in welche die ganze Korona dröhnend mit einfiel.

»Daisy, warum schweigst du in allen Tonarten und bohrst mit deinen Blicken ein Loch in die Luft?« fragte Frau Doktor Dahlen lächelnd, »wem der liebe Gott eine so schöne Stimme gegeben hat wie dir, der hat auch die Verpflichtung, sie vor seinen Mitmenschen erschallen zu lassen.«

»Sie singen, gnädiges Fräulein? – davon hatte ich ja keine Ahnung,« Günter Berndt wandte sich interessiert Daisy zu. Es war das erstemal heute abend, daß er sie direkt ansprach.

»Sie haben eben von vielem keine Ahnung, was meine Daisy kann,« Hilde streichelte zärtlich Daisys schlanke Hand und sah Günter schnippisch an.

»Frieden halten, Hilde,« lachte dieser, »heute am letzten Abend ist Waffenstillstand, sonst kriegen Sie keine Ansichtskarte aus Bombay.«

»Sing uns doch ein Lied, Daisychen,« bat die Mutter. »Genieren – ach, Unsinn, du bist doch ein vernünftiges Mädel!«

»Ja, singen Sie Günter ein Abschiedslied, Daisy,« Richard begann kunstvoll: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus«, zu pfeifen.

»Und du mein Schatz bleibst hier,« vollendete Max höchst unnötigerweise.

»Na, wo bleibt der Schatz denn eigentlich?« mischte sich jetzt auch Doktor Dahlen neckend ins Gespräch. »Los, Günter, beichten Sie mal!«

Günter lachte.

»Am Ufer des Ganges wartet sie auf mich, meine schlanke Lotosblume,« scherzte er.

Daisy hatte sich erhoben.

»Ich singe Ihnen das nächste Mal etwas vor, Frau Doktor,« entschuldigte sie sich, »es ist schon drei Viertel zehn, ich komme sonst nicht ins Haus.« Sie trug die Noten, die Frau Doktor Dahlen schon für sie herausgesucht hatte, ins Nebenzimmer zurück zum Instrument.

»Nein, Daisy, die Uhr geht über zwanzig Minuten vor, du kannst noch eine halbe Stunde bleiben,« rief Hilde hinter ihr her.

Günter Berndt war ihr zum Klavier gefolgt. Er blätterte in den Noten.

»Bitte, singen Sie mir noch ein Lied – ja?« bat er leise. So hatte er sie schon lange nicht mehr angesehen.

Daisy nickte. Sie sah wie gebannt in die tiefen grauen Augen.

»Was soll ich singen?« Ihre Stimme klang verschleiert.

Er schlug das Liederbuch auf.

»Hier, mein Lieblingslied, wollen Sie?«

Sie warf einen Blick auf das ausgewählte Lied, dann stieg glühendes Rot ihr bis zu dem weichen Blondhaar empor.

Sie nahm auf dem Klavierstuhl Platz.

»Aber bitte, 'reingehen,« bat sie ängstlich, als er Miene machte, sich hinter ihren Stuhl zu stellen, »wenn Sie hier bleiben, kriege ich keinen Ton heraus.«

Er fügte sich ihrem Wunsche.

Das laute Gespräch im Nebenzimmer verstummte plötzlich.

»Er ist gekommen in Sturm und Regen,
Er hat genommen mein Herz verwegen,«

tönte es in glockenreinen Tönen zu ihnen hinein.

Ein klein wenig gepreßt klang die weiche Altstimme im Anfang, dann aber schien sie jede einengende Fessel abzustreifen, jubelnd schwoll sie zum Schluß des Liedes an.

Traumverloren ließ Daisy die Finger von den Tasten gleiten. Der Morgen stand wieder deutlich vor ihren Blicken, wo er in Sturm und Regen gekommen war, und wo sie auf seine lieben Worte nur eine schroffe Zurückweisung gehabt.

Und jetzt stand er wieder an ihrer Seite, und in seinem bleichen Gesicht zuckte es vor Erregung.

»Ich danke Ihnen, Miß Daisy,« endlich nannte er sie wieder beim Vornamen, »Ihr Sang wird mich in die Fremde geleiten und mir dort die ferne Heimat vorzaubern.«

Tief tauchte sein Blick in ihr Auge.

Daisys Wimpern senkten sich.

Es brauste und toste vor ihren Ohren, es flimmerte ihr vor den Augen, sie mußte sich fest auf das Instrument stützen.

Hilde und die Brüder umringten sie beifallspendend, auch Frau Doktor Dahlen klopfte ihr die heiße Wange und meinte anerkennend: »Kind, so schön hast du noch nie gesungen!«

Zehn tiefe Schläge hallten plötzlich von der großen Standuhr durch das Zimmer, es war höchste Zeit zum Aufbruch.

Max machte Miene, Daisy zu begleiten.

»Bleib da, Max,« Günter Berndt war bereits in seinen Ulster geschlüpft, »ich gehe sowieso jetzt, muß morgen früh heraus. Ich habe ja denselben Weg wie Miß Greeham.«

Noch ein energisches Händeschütteln, viele gute Wünsche für die Seefahrt, lachende Neckworte und scherzende Gegenrede, und dann standen Daisy und Günter Berndt unten in der stillen Straße. Schweigend schritten sie nebeneinander her.

Jeder von ihnen war mit seinen Gedanken beschäftigt, und diese drehten sich merkwürdigerweise beiderseits um den andern.

Daisy empfand dieses stumme Nebeneinandergehen drückend, sie mußte unbedingt etwas sagen.

»Ich bedaure sehr, daß Sie meinetwegen so früh aufbrechen mußten,« es fiel ihr absolut nichts Gescheiteres ein.

Er sah gerade vor sich hin.

»Nach Ihrem Lied mochte ich nichts anderes mehr hören, das will ich still in mir verklingen lassen.« Daisy empfand den warmen Klang seiner Stimme, als ob eine zärtliche Hand ihr kosend über das Gesicht strich.

Sie hatten die Wohnung erreicht.

»Ihr heutiges Lied, Miß Daisy,« fuhr er langsam, Wort für Wort betonend, fort, »hat abstoßende Worte in meinem Gedächtnis ausgelöscht, es hat häßliche Monate versinken lassen. Wollen wir uns wieder vertragen, Miß Daisy?« Er hielt ihr die Hand hin.

Schüchtern schmiegten sich die bebenden Mädchenfinger in die kräftige Hand des Mannes.

»Also sind wir wieder gut?« fragte er weich.

Sie nickte – die Brust war ihr so eingeengt.

»Sehr gut – Daisy?«

»Sehr gut,« wie ein Hauch nur schwebten Daisys Worte zu Günters Ohr.

Da preßte er ungestüm seine heißen Lippen auf die kühle Hand, die er immer noch umfangen hielt, einmal – noch einmal – und dann hatte sich Daisy losgerissen und war in dem dunklen Treppenflur verschwunden.

Er starrte ihr nach.

Und leise, ganz leise, öffnete sich noch einmal die Haustür, ein heißes Mädchengesicht schaute hinaus, blaue Augen grüßten lieb, und eine gepreßte Stimme flüsterte: »Leben Sie wohl – und reisen Sie glücklich!«

Dann schlug das schwere Haustor hinter Daisy zu.


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