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Eine Landpartie

Auf den Brücken der Oberspree standen barfüßige Jungen und kleine Mädchen und begrüßten mit lautem Hallo den unter der Brücke durchfahrenden buntbewimpelten Dampfer. Aber nicht nur die Berliner Straßenjugend verfolgte das lustige Fahrzeug mit sehnsüchtigen Blicken, auch jeder der Vorübergehenden blieb stehen und hatte seine Freude an dem anmutigen Anblick, den die festlich gekleideten Mädchen dort unten auf dem laut tutenden Dampfer boten.

Kein Gedanke heute an Latein und Mathematik. Der ganze gelehrte Kram war heute aufs strengste verbannt, Übermut und Frohsinn, heiteres Lachen, Scherz und Sang erscholl aus den jungen Kehlen; auch die Lehrenden waren wieder jung und fröhlich mit den Fröhlichen.

Hilde thronte hoch oben am Bug des Schiffes. Sie hatte bereits mit dem berußten Klingeljungen Freundschaft geschlossen und schenkte ihm großmütig einige gebrannte Mandeln aus der umfangreichen Tüte, die sie in ihrer nächsten Umgebung eifrig hin und her wandern ließ, Fräulein Doktor Geßner, die Hilde gegenübersaß, konnte schon keine gebrannte Mandel mehr sehen, wie sie der sie stets aufs neue quälenden Hilde immer wieder versicherte, und die für Süßigkeiten sonst so empfängliche Daisy war heute sonderbarerweise auch keine rechte Abnehmerin.

Die starrte mit verlorenem Blick in den silberweißen Wellengischt, den der Dampfer erzeugte, und betrachtete dann wieder sinnend ihre schmale, weiße Rechte. Ein verträumtes Lächeln lag in den blauen Augen.

»Daisy, du döst ja schon wieder, haben die Spreenixen es dir dort unten angetan?« Hilde lehnte sich ebenfalls über das Geländer und schaute in die ziemlich schmutzige Wasserflut.

»Sag' mal, Hilde, ist es nicht ganz so, als ob man auf einem richtigen Schiffe über den Ozean fährt?« Daisys Augen suchten die Ferne.

»Nee –,« meinte Hilde in unverfälschter Berliner Mundart, »Meerwasser ist sauberer, und das Schiff schaukelt ein bißchen mehr, auch sieht man, glaube ich, keine Ufer mit Fabrikschornsteinen – aber sonst stimmt's!«

Daisy schwieg gekränkt, Hilde hatte doch keine Spur von Phantasie und poetischer Schwärmerei. Die stand mit ihren kleinen Füßen fest auf dem Boden des Realen. Auch jetzt wickelte sie recht prosaisch zwei leckere Schinkensemmeln aus und machte sich eifrig an die Vertilgung der einen.

»Daisy, was hast du zum Frühstück mit?«

»Butterbrot,« war die abwesende Antwort.

»Mit nichts belegt?« erkundigte sich Hilde interessiert.

Daisy nickte und dachte an Günter Berndt.

Einen Abschiedsblick noch warf Hilde auf ihr verlockendes Brötchen, dann war der heimliche innere Kampf zu Ende.

»Deine Tante Malwine ist ein alter Geizkragen, aber da, Daisychen,« sie drückte der erstaunten Freundin ihre Semmel in die Hand, »wir teilen redlich, ich esse nachher dafür von dir Butterstullen mit.«

Daisy schlang beschämt den Arm um Hilde und bat ihr im stillen die ungerechten Vorwürfe ab, sie hatte doch ein goldenes Herz!

Auch Fräulein Doktor Geßner hatte den Vorgang beobachtet und ihr Urteil über Hildes selbstlosen Charakter wieder einmal bestätigt gefunden. Freundlich nickte sie ihr zu.

Es war jetzt allgemeine Fütterung auf dem Dampfer. Die Fahrt dauerte zwei volle Stunden. Auch Doktor Werner, der von seinen Getreuen umringt war, zog das Frühstücksbrot aus der Tasche. Hilde hatte sich absichtlich nicht unter die Germanicusschwärmerinnen gesetzt, sie fand das »Ranschmeißen« gräßlich. Auch gehörte der größte Teil der ihn hofierenden jungen Damen schon der Prima, die ebenfalls an dem Ausflug beteiligt war, an.

Aber immer wieder wanderte Hildes Blick von den in leuchtend bunten Herbsttönen prangenden Ufern zu der angeregten Gruppe, deren Mittelpunkt Doktor Werner bildete, herüber. Sie hatte es selbst gar nicht gewußt, daß sie solch ein Neidhammel war.

Doktor Werner hatte sich erhoben, er ließ sich von einem der Kollegen Feuer für seine Zigarre geben und schritt dann die schmale Reihe entlang. Oben am Bug des Dampfers blieb er stehen. Er schien Hilde, die gerade neben ihm in einen saftigen Pfirsich biß, nicht zu sehen.

Unbehaglich rückte sie auf ihrem Platz hin und her, brühheiß wurde ihr, sie mußte den Hut vom Kopf nehmen. Der frische, mutwillig einherstürmende Wind kühlte wundervoll die heißen Schläfen, er zauste Hildes schimmerndes hellbraunes Gelock und spielte kosend mit ihren Nackenlöckchen, die sich eigensinnig an dem zarten Halsansatz krausten. Doktor Werners Blick wanderte jetzt von den kieferumbuschten Ufern zu diesen lustig im Winde flatternden Löckchen; Hilde hatte den Kopf, ärgerlich über sein völliges Übersehen, mit der ihr eigenen herrischen Bewegung zurückgeworfen und ihm den Rücken gewandt.

Mit unvermuteter Kraft setzte plötzlich der Wind ein, der Hut wurde flüchtig. »Mein neuer Hut!« schrie Hilde entsetzt, doch da segelte das unselige Hütchen schon auf den schmutziggrauen Fluten.

Mit einem Satz war Doktor Werner über die Barriere neben dem Klingeljungen.

Die lange Stange, die zum Abstoßen des Schiffes benutzt wurde, handhabte er mit großer Geschicklichkeit, um den Flüchtling wieder zu ergattern. Weit lag er mit seinem Körper über dem Geländer.

»Herr Doktor – ach, bitte, Herr Doktor – lassen Sie doch um Himmels willen meinen Hut – ach, kommen Sie doch bloß wieder herauf!« bat Hilde in Todesangst. Doch da stand Doktor Werner schon wieder fest auf beiden Füßen, triumphierend schwang er das aufgeweichte blaue Etwas in der Hand.

Hilde sah ihm mit verstörtem Gesicht entgegen, das Blut wollte noch immer nicht wieder in ihre blaß gewordenen Wangen zurückkehren.

Der lustige Scherz, mit dem Doktor Werner Hilde ihr Eigentum wieder zustellen wollte, erstarb ihm auf den Lippen, als er ihr entfärbtes Gesicht gewahrte – hatte sie um ihn gesorgt?

»Ist für mich hier wohl ein Plätzchen?« fragte er höflich Fräulein Geßner, die bereitwillig zur Seite rückte.

Und so saß er nun Hilde gegenüber, schien ernsthaft die immer idyllischer werdende Landschaft zu betrachten und hatte dabei doch nur Auge für sein reizendes Gegenüber, auf dessen lebhaftem Gesicht die Farben jetzt kamen und gingen.

Hilde war zufrieden, als die Fahrt zu Ende war. Ein unbekanntes Etwas hatte auf dem Dampfer ihre frische Munterkeit eingedämmt. Erst im Wald bei den harmlosen Spielen gewann sie ihre muntere Beweglichkeit zurück.

In jedem Wettrennen blieb die leichtfüßige Hilde Siegerin. Wie eine Waldelfe huschte sie in dem leuchtend blauen Voilekleid zwischen den bemoosten Waldstämmen hin und her. Doktor Werner lehnte gegen eine Blutbuche und sah dem kraftvoll anmutigen Spiel der schlanken Gestalt zu. Jede Bewegung war ursprünglich und temperamentvoll.

Hilde war heute ganz in ihrem Element. Ihre Schaukel flog zu Daisys Entsetzen hoch in die Lüfte; eine Butterdose und einen Stieglitz hatte sie bereits erwürfelt; und Fräulein Doktor Kurz und einige ältere Lehrerinnen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, als sie Hilde plötzlich auf einem Pferd im Karussell lachend im Herrensattel herumreiten sahen.

Sie war doch wirklich zu unweiblich, diese Hilde Dahlen! Am Nachmittag aber, als man die langen Tafeln am Wasser zum Kaffee deckte und den bräunlichen Trank selbst bereitete, da zeigte es sich, daß Hilde doch zu Hause bei ihrer Mutter eine gute Schule durchgemacht haben mußte. Sie half so geschickt und umsichtig, daß Fräulein Doktor Geßner ihr ihre Anerkennung nicht vorenthielt.

Jede der Lehrerinnen hatte sich eines der jungen Mädchen zur Hilfe gewählt, und Hilde war nicht wenig stolz darauf, daß Fräulein Geßner sie zu ihrem Adjutanten gekürt hatte.

Sie schleppte die weißen Riesenkaffeekannen, die mit lautem Hallo begrüßt wurden, zu den buntgedeckten Tafeln, half den mitgebrachten Kuchen zierlich schneiden und auf die Teller ordnen, sah, daß jeder Milch und Zucker hatte, und schritt geschäftig von einem zum andern, um den herrlich duftenden Mokka zu kredenzen.

Doktor Werner saß eingekeilt zwischen Martha Tiedemann und Alice Marx, die durch List glücklich die heißersehnten Plätze erwischt hatten. Von beiden Seiten redeten sie auf ihn ein und merkten es gar nicht, wie wenig ihr Germanicus auf ihre Worte hörte. Seine Augen folgten Hilde, die ihm bei ihrer hausfraulichen Tätigkeit so gut gefiel wie noch nie. Es lag etwas Weiches, anmutig Weibliches über das eben noch so wilde, kindische Ding ausgegossen. Nun kam sie eifrig, die schwere Kanne in beiden Händen haltend, auf Doktor Werner zu, um ihm die Tasse zum zweiten Male zu füllen. Sein Blick umfaßte ihre liebreizende Gestalt, er machte sie ganz unsicher. Und da war's geschehen – die schwärzliche Flüssigkeit rieselte statt in die Tasse über Doktor Werners hellen Sommeranzug. Hilde starrte mit entsetzten Augen auf die großen dunklen Flecke.

»Aber, Hilde, wie ungeschickt!« rief Alice Marx empört, während Martha Tiedemann schnell ein Tuch ergriff und eifrig die mißhandelte Jacke zu bearbeiten begann.

Hilde konnte kein Wort der Entschuldigung hervorbringen. Sie war wie gelähmt vor Schreck. Schweigend ließ sie die Vorwürfe der Gefährtinnen über sich ergehen, ihre Augen suchten angstvoll in Doktor Werners Mienen zu lesen – war er sehr böse?

Einige Sekunden nur weidete sich Doktor Werner an Hildes hilflosem Gesicht, dann streckte er ihr lachend die Hand entgegen.

»Fräulein Dahlen, ich glaube gar, Sie nehmen die Sache tragisch, das wäre ja noch schöner – lassen Sie doch meine Jacke in Frieden, Fräulein Tiedemann, ich will den Kaffeefleck zur Erinnerung an unsre heutige Landpartie mit nach Hause bringen – so, Fräulein Dahlen, und nun bitte, nicht mehr solch Armsündergesicht!«

Die Kaffeetafel war aufgehoben, in zwanglosen Gruppen begab man sich wieder zu dem im bunten Herbstgewand prangenden Walde. Doktor Werner hatte sich zu Hilde gesellt.

Diese schielte von Zeit zu Zeit immer noch scheu zu dem großen dunkelumrandeten Kaffeefleck hin; wie unangenehm, daß sie sich gerade Doktor Werner gegenüber so trampelig benommen hatte!

»Sie sind so ungewöhnlich schweigsam, Fräulein Dahlen,« Doktor Werner schaute ihr prüfend in das rosige Gesicht, »sollte dieser Missetäter« – er wies auf den Fleck – »wirklich noch daran schuld sein?«

Hilde nickte betrübt.

»Aber, liebes Kind, heute morgen habe ich Sie bewundert, mit welchem stoischen Gleichmut Sie das verdorbene Hütchen in Empfang nahmen, und jetzt bringt Sie ein Fleck, der nicht einmal auf Ihrem Kleide prangt, um alle Stimmung. Auf einer Landpartie macht man doch kein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.«

Doktor Werner hatte seinen Zweck erreicht, Hilde lachte wieder ihr herzerquickendes frisches Lachen.

»Papa sagt immer, wenn Mama über ein verdorbenes Kleidungsstück schilt, ein Beinbruch ist schlimmer,« erzählte sie ihm treuherzig.

»Ihr Herr Vater scheint mir ein sehr kluger Mann zu sein,« meinte Doktor Werner lächelnd.

»Vaterchen ist der klügste, schönste und beste von allen Männern auf der Welt,« rief Hilde begeistert.

»Na, das ist nicht gerade schmeichelhaft für uns andere,« neckte Doktor Werner.

Hilde schlugen die Flammen ins Gesicht. Hilfesuchend packte sie den Arm der vor ihr gehenden Daisy.

»Wir wollen noch Erika pflücken, Herr Doktor,« damit war sie ihm wie ein Wiesel entschlüpft und zog Daisy hinter sich her.

Welche innige Liebe zum Vater, welch warmes kindliches Gefühl hatte eben aus Hildes wenigen Worten geklungen; sie hatte doch ein tiefes Empfinden und ein sonniges Gemüt dazu, die kleine Hilde! Doktor Werner schloß sich nachdenklich den übrigen Kollegen an.

Hilde und Daisy gesellten sich zu den übrigen, die sich im Walde malerisch in dem violett schimmernden, bienendurchsummten Heidekraut lagerten.

Ilse Petersen reichte Zigaretten herum.

»Wir dürfen in der Schule nicht rauchen,« mahnte eine Gewissenhafte.

»Hier ist keine Schule, sondern Ausflug,« beruhigte man sie. Lustig begannen die Mädels drauflos zu paffen.

»Aber wenn Fräulein Kurz uns erwischt,« wandte die brave Daisy ein.

»Ja, sind wir denn Schuljören oder Gymnasiasten?« begehrte Hilde auf. »Laßt ihr euch wirklich noch so gängeln? Ich nicht. Ich lasse mir sogar jetzt meine Zigarre schmecken.« Damit zog sie zum Gaudium der ganzen Gesellschaft eine lederne Zigarrentasche ihres Vaters heraus und steckte sich mit Todesverachtung einen der bräunlichen Glimmstengel in den Mund.

»Um Himmels willen, Hilde, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?« rief Daisy entsetzt. » Shocking indeed!« Vergeblich versuchte sie Hilde die Zigarre zu entreißen. »Hilde macht ja nur Spaß – sie wird sich hüten, das ekelhafte Zeug zu rauchen – die Hilde Dahlen muß doch immer eine Extrawurst haben,« so schwirrten die Stimmen der Kameradinnen durcheinander.

Sie erzielten gerade das Gegenteil bei Hilde. Hatte sie in der Tat Vaters Zigarren auch nur mitgebracht, um einen Ulk zu machen, jetzt erlaubte es ihre Ehre nicht, den Rückzug anzutreten. Sie ließ sich Feuer geben und begann mit heldenhafter Selbstüberwindung an dem braunen Ding zu ziehen. Es schmeckte ekelhaft. Halb belustigt, halb entsetzt schauten die übrigen ihrem Treiben zu. Nur Daisy beschwor sie, aufzuhören.

Keines von den jungen Mädchen hörte, daß sich Schritte auf dem weichen Waldboden näherten. Keines sah Doktor Werner, als bis er mitten unter ihnen stand.

»Sie haben sich hier ein idyllisches Plätzchen zum Dolce far niente ausgesucht, meine jungen Damen,« sagte er lächelnd. »Aber der würzige Waldozon ist auffallend mit Dampf durchsetzt – ei – ei – Zigaretten?« Er drohte lächelnd, während die meisten ihre Zigarette errötend auf dem Rücken bargen.

Da – Doktor Werner traute seinen Augen nicht – sein suchender Blick hatte Hilde Dahlen erreicht. Da saß sie unter einer Kiefer, eine – Zigarre im Munde. Sie blies, scheinbar unbekümmert um die Anwesenheit des Lehrers, mit Seelenruhe Dampfwolken in die Luft. Die andern sollten sie nicht für feige halten.

Doktor Werners Auge ruhte voller Mißbilligung auf ihr. »Wirf die Zigarre weg, darling,« flüsterte die getreue Daisy bittend.

Aber Hildes Trotz bäumte sich empor. Das Blut stieg ihr unter Doktor Werners abfälligem Blick zu Kopfe. Sie zog das Lederetui hervor. »Zigarre gefällig, Herr Doktor?« fragte sie, alle ihre Keckheit zusammenraffend.

Starr über diese Dreistigkeit saßen die andern da. Zwischen Doktor Werners Augenbrauen erschien die kleine Falte, die ihn so unnahbar machte und die Hilde stets reizte. Ohne das kecke Mädel einer Antwort zu würdigen, wandte er sich und verschwand im Walde.

Ein allgemeiner Sturm der Entrüstung entlud sich, nachdem er gegangen, über die Sünderin, und besonders Doktors Werners Verehrerinnen fühlten die Schmach, die Hilde ihrem Abgott angetan, doppelt und dreifach.

Hilde hatte auf alle Vorwürfe nur ein gleichgültiges Achselzucken zur Antwort. »Was geht's euch an!« sagte sie schließlich kurz und unfreundlich. Das fehlte mir, mich so wie ihr an den Triumphwagen dieses Herrn zu spannen, nein, dazu ist meines Vaters Tochter zu gut! Meinetwegen mag er mich auch bei der Kurz verpetzen, da hab' ich doch schon ganz anderes ausgefressen.«

Sie warf die Zigarre, die schuldige Ursache von all der Aufregung, in weitem Bogen fort. Die vorsorgliche Daisy löschte sie, damit es keinen Waldbrand gab. Laut vor sich hinpfeifend nahm Hilde möglichst gleichmütig Daisys Arm und folgte den andern zum Wirtschaftsgarten.

Auf die sanften Vorwürfe der Freundin hatte Hilde nur ein gleichgültiges Achselzucken. Aber ganz so ruhig und gleichmütig, wie sie sich den Anschein gab, sah es doch nicht in Hildes Innerem aus. Da gärte und brodelte es ganz gehörig; unreifer Trotz und klares Empfinden, unrecht gehandelt zu haben, kämpften einen tollen Kampf in ihrem wild pochenden Herzen. Immer lauter und deutlicher wurde die Stimme des Gewissens, und schließlich war der böse, aufbegehrende Trotz ganz klein und demütig geworden. Hilde hätte was darum gegeben, die Sache ungeschehen zu machen. Überdies war ihr hundselend nach der Zigarre.

Drinnen in dem großen Tanzsaal schoben sich die jungen Mädchen bei den Klängen eines Grammophons im Foxtrott auf und nieder. Die Lehrer mußten wohl oder übel ebenfalls das Tanzbein schwingen. Mit guter Laune ergaben sie sich in ihr Schicksal. Hilde und Daisy schauten von draußen durch die geöffneten Fenster dem Tanze zu. Unter den teils altväterischen, teils ungelenken Bewegungen der übrigen Lehrer hob sich Doktor Werners hohe Gestalt, der so leicht und geschickt seine Dame führte, besonders vorteilhaft ab. Mit brennenden Augen verfolgte Hilde jede seiner Bewegungen. Eine nach der andern der jungen Mädchen forderte er auf. Wie wunderbar er tanzte!

»Komm, wir wollen auch hineingehen,« sagte Hilde, nachdem ihr besser zumute war, und mischte sich unter die Tanzenden. Alle holten sie Hilde zum Tanz, die Lehrer, die das lustige hübsche Ding trotz ihrer dummen, kindischen Streiche im Grunde gut leiden mochten. Nur er, gegen den sie sich so ungehörig benommen, und um dessentwillen sie doch den Tanzsaal nur betreten, kümmerte sich nicht um sie. Das schlanke Mädel im blauen Voilekleid mit den heißen erregten Wangen und den bettelnden braunen Augen war vollständig Luft für ihn.

Hilde ballte die kleinen festen Hände. Mit jeder einzelnen hatte er sich schon im Tanze gedreht, jetzt kam er gerade auf sie zu, nun mußte er sie doch in den Arm nehmen. Aber einige Schritte vor ihr machte er plötzlich, ohne ihren erwartungsvollen Blick zu sehen, kehrt und schritt auf Daisy zu. Schon zum zweiten Male forderte er sie auf.

Ein häßliches Gefühl des Neides quoll in Hilde empor, als sie die Freundin anmutig im Arm Doktor Werners vorübertanzen sah. Da großer Herrenmangel war, tanzten die jungen Mädchen flott untereinander. Aber Hilde, die sonst ebenso leidenschaftlich wie gut tanzte, verspürte heute gar keine Lust dazu.

Still schlich sie sich aus dem Saal.

Nach einiger Zeit fand Fräulein Doktor Geßner sie einsam am Wasser stehen und trübe in die schwarzgrauen Fluten starren.

»Nanu, Hilde, so ganz solo hier im stillen Zwiegespräch mit den Nixen, oder hegen Sie etwa Selbstmordgedanken?« scherzte sie, ohne Hildes tränenverhaltenen Blick im Dunklen zu gewahren. »Geschwind kommen Sie, der Dampfer läutet schon zum zweiten Male, sonst müssen wir am Ende noch hier draußen kampieren.«

Der zur Abfahrt bereite Dampfer bot einen feenhaften Anblick. Bunte brennende Lampions schaukelten lustig im linden Abendwinde. Lustige Kobolde sangen in fideler Stimmung.

Still und in sich gekehrt saß Hilde unter der ausgelassenen übermütigen Schar, ihr Auge haftete starr am Boden. Nur ab und zu irrte der Blick scheu zu jener Ecke herüber, wo es am allerlustigsten herging. Das ungewisse, zuckende Licht des roten Ballons zeigte ihr Doktor Werners lachendes, angeregtes Gesicht – so wenig also kümmerte ihn das unartige Wesen eines Schulmädels!

Ja, die jungen Mädchen waren sämtlich heute total futsch in ihren Germanicus, so liebenswürdig und fidel hatten sie ihn noch niemals gesehen. Der dachte sicher nicht mehr an die unreife Hilde Dahlen. Oder doch?

Die schnell am Himmel dahinsegelnden Wolken gaben auf einige Sekunden die volle Scheibe des Mondes frei, und in seinem matten Silberlicht schaute Gerhard Werner durch eine Lücke, die zwei helle Strohhüte bildeten, eine schweigende Gestalt im blauen Kleide. In der einen Hand hielt sie den Vogelbauer mit dem flatternden Stieglitz und die gewonnene Butterbüchse, während die andere einen großen Strauß rötlicher Erikas umspannte. Über das abgewendete blasse Gesicht aber rieselten die Tränen herunter, eine nach der andern und – da schob sich eine dichte schwarze Wolke am Himmel daher, und der fürwitzig herablugende Mond und der angelegentlich herüberäugende Doktor Werner hatten beide das Nachsehen.

So endete die so fröhlich begonnene Landpartie.


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