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Auf dem Maskenball

Weiche Stimmungen hielten niemals lange bei Hilde an. Sie schämte sich derselben stets, ihrem gesunden Naturell war jede Sentimentalität entgegen. Auch Doktor Werner gegenüber zeigte sie im Laufe des Winters gar oft wieder kindisch trotziges Aufbegehren.

Doktor Gerhard Werner war zuerst über den jähen Wechsel in Hildes Stimmungen recht traurig. Er glaubte schon vollständig gewonnenes Spiel zu haben und hielt ihren ungestümen Trotz für immer gebrochen; daher traf ihn die Enttäuschung umso schmerzlicher. Aber als er sah, wie leid Hilde jedesmal gleich darauf ihr ungestümes Aufwallen tat, tröstete er sich damit, daß auf den ersten Hieb kein Baum fällt. Sie war ja noch so sehr jung, er mußte ihr Zeit lassen, das zarte weibliche Empfinden in sich langsam zur Reife zu bringen.

Es wurde ein fleißiger Winter für die beiden Freundinnen.

Das mußte man der Hilde lassen, sie quälte die Eltern nicht wegen Bällen, Gesellschaften und Vergnügungen, trotzdem sie doch nun fast achtzehn Jahre alt war. Vaters Wort: »Firlefanz und solchen Mumpitz gibt's dann nicht,« klang ihr noch immer im Ohre. Sie sehnte sich auch gar nicht danach – ohne Daisy machte es ihr keinen Spaß. Den Eltern war das zurückgezogene Leben in ihrer behaglichen Häuslichkeit in diesem Winter sehr willkommen. Frau Doktor Dahlen bemerkte seit geraumer Zeit mit geheimer Sorge, daß ihr Gatte im letzten Jahre auffallend gealtert war. Und wenn er sich unbeobachtet glaubte, saß er manchmal ganz müde und apathisch da; aber jede ängstliche Frage der Seinen schnitt er mit einem ungeduldigen Scherz ab – er fühle sich ganz wohl.

Sein hartnäckiger Husten wollte und wollte nicht weichen, es war aber auch ein selten strenger, eisiger Winter. Die jungen Mädchen jubelten über die anhaltende Kälte. Der neue See im Tiergarten war schon wochenlang fest zugefroren. Hilde und Daisy tummelten sich, die blank geschliffenen Schlittschuhe unter den Füßen, in ihren Freistunden auf der spiegelglatten Fläche. Daisy war eine glänzende Schlittschuhläuferin. Das schlanke Mädchen in dem einfachen dunkelblauen Kostüm, das in großen kunstvollen Bogen über das Eis flog, ohne es scheinbar zu berühren, erregte Aufsehen. Aber auch ihre etwas kleinere Begleiterin bot ein anmutiges Bild mit ihrer zierlichen, sich wiegenden Gestalt. Das frisch gerötete Gesicht blickte wie ein lichter Frühlingstag in die eisfunkelnde, mit Rauhreif behangene Winterlandschaft.

Gerhard Werner empfand jetzt oft das dringende Bedürfnis, seine Fahrt von der Universität heimwärts zu unterbrechen und noch vorher ein halbes Stündlein in dem schneeschimmernden Park spazieren zu gehen. Der größte Hunger und das verlockendste Mittagbrot, das seine Mutter, mit der er zusammenwohnte, für ihn bereitet, hielten ihn nicht, wenn das Thermometer unter Null zeigte, von seiner täglichen Promenade ab. Und meistens wurde dieselbe belohnt – zwei hellbraune Augen schauten schon suchend vom Eis aus auf die Spaziergänger, und frische rote Lippen lachten ihn erfreut an, sobald er auftauchte. –

Hilde saß in ihrem Zimmer und kaute an dem Federhalter. In großen weichen Sternen wirbelten draußen die Schneeflocken hernieder. Sie schaute in das Schneetreiben hinaus und dann wieder auf den deutschen Aufsatz vor sich, der noch seiner Vollendung harrte. »Preußens Unglücksjahr 1806« lautete die Überschrift, Hilde hatte versucht, nicht nur die Begebenheiten aneinander zu reihen, sondern dieselben in der Vergangenheit zu begründen und die Zukunftsbilder daraus zu entwickeln. Sie war ganz zufrieden mit dem bereits Geschriebenen; nun noch die Flucht der Königin Luise! Solch ein arges Schneewetter war es gewiß damals auch, als die Königin im Schlitten gen Memel hatte flüchten müssen – eine tolle Fahrt mußte es gewesen sein!

Helles Schellengeläut vorüberjagender Schlitten klang von der Straße in Hildes stilles Arbeitszimmer hinauf. Da war es um ihre Sammlung geschehen. Die Feder spritzte ungestüm auf das weiße Papier, und Hilde sprang zum Fenster.

Herrliche Bahn mußte es jetzt sein. Ach, wenn sie doch auch einmal eine Schlittenpartie mitmachen könnte! Richard war zu philiströs dazu, aber Max, der war schon eher dafür zu haben. Einen Entschluß fassen und ausführen war stets eins bei Hilde. Schon stand sie im Zimmer des Bruders.

»Na, Kleinchen, wo muß ich wieder Lückenbüßer sein, Latein oder Mathematik? Schnell losgeschossen, ich habe hier eine schwierige Konstruktionsberechnung vor.«

»Max – ich habe eine geniale Idee, wir wollen eine Schlittenpartie veranstalten. Ich fordere meine Bekannten auf, und du die deinigen; gibt das nicht einen famosen Fez?«

Statt jeder Antwort begann Max das wenig schmeichelhafte Lied »Du bist verrückt, mein Kind« zu pfeifen. Hilde aber nahm diese brüderliche Offenheit absolut nicht übel.

»Aber warum denn nicht, Max? Du bist schon ebenso spießbürgerlich wie Richard. Zwei Brüder besitze ich, und dabei habe ich noch niemals eine Schlittenpartie gemacht – es ist wirklich ein Skandal!«

»Ich sehe zwar weder das Skandalöse darin ein, noch verstehe ich den geheimen Zusammenhang zwischen deinen Brüdern und einer Schlittenpartie, liebes Kind. Ich kann mich aber auch jetzt nicht in die verborgene Logik vertiefen, denn ich habe Wichtigeres zu bedenken.«

Er stützte gedankenvoll den Kopf in die Hand.

»Was denn, Söhnchen?« Hilde zauste liebkosend das braune Kraushaar ihres guten Kameraden. »Mußt du dich auch mit dummen Berechnungen so plagen wie ich?«

»Ach wo – es ist ganz was anderes,« er stöhnte wieder schmerzlich.

»Na, was denn, sag' es doch, was quält dich denn so?« Hildes Neugier war geweckt.

»Der Maskenball!« stieß Max unwirsch hervor.

»Wa–as?« Hilde sah den Bruder verständnislos an. »Welcher Maskenball?«

»Na ja, es sollte eigentlich eine Überraschung für dich sein. Die Teutonia will als diesjähriges Winterfest einen Maskenball veranstalten und dazu soll ich die Einladung in Versen machen.«

»Aber Max,« jubelte Hilde, »das ist ja ganz famos!«

»Das ist ganz und gar nicht famos, sage ich dir,« legte Max ärgerlich los, »wenn man hier seit drei Stunden sitzt und dichten will, und das Vieh, der Pegasus, ist störrisch und läßt sich nicht zügeln. Da sieh, sechs Reihen hab' ich erst.«

Hilde durchflog die mit Bleistift hingekritzelten, vielfach durchstrichenen und verbesserten Zeilen.

»Na, die sind auch danach,« meinte sie dann ehrlich.

»Mach's besser,« fuhr Max sie an.

»Siehst du, den Vorschlag wollte ich dir gerade auch machen. Verse schmieden, das geht bei mir wie geschmiert. Ich habe doch immer die Ulk- und Spottgedichte auf die Lehrer gemacht. Komm, wir machen die Geschichte zusammen. Verdienen tust du's zwar nicht, daß ich dir aus der Klemme helfe, wo du mich eben so angesäuselt hast. Aber ich freue mich ja unmenschlich auf den Maskenball – Papa wird es doch erlauben?«

Und nun ritten Bruder und Schwester einträchtig miteinander das jetzt sanfte und gefügige Musenroß. Hilde brachte die ulkigsten Reime zustande; lautes Lachen zeigte bald, daß die Verse gelungen waren.

Vergessen hatte Hilde die geplante Schlittenpartie, vergessen den deutschen Aufsatz, die Königin Luise mußte sich lange auf ihrer Fahrt gedulden, ehe Hilde sie ihr Ziel erreichen ließ. Hilde lebte und webte von jetzt an nur noch in dem Gedanken an den bevorstehenden Maskenball.

Dem Vater hatte sie ohne große Mühe die Erlaubnis dazu abgebettelt. Der war jetzt seinem Liebling gegenüber noch nachgiebiger als früher, und manchmal schaute er sie so seltsam an, mit so traurig zärtlichen Augen – es wurde Hilde ganz bange dabei ums Herz.

Jetzt aber hatte sie gar keine Zeit, an Trübes zu denken. Die große Kostümfrage nahm all ihre Gedanken in Anspruch. Hundert Pläne hatte sie schon gefaßt und wieder verworfen. Ob sie nicht doch mit Daisy beraten sollte?

Eigentlich sollte die sie auch nicht erkennen, denn Daisy mußte natürlich dabei sein, ohne die war das Fest ja ganz undenkbar. Hilde hatte deshalb sogar Max veranlaßt, der Fränze auch eine Einladung zu schicken, denn nur so war die Erlaubnis seitens Daisys Tante gesichert.

Fränze ließ sich, wie Daisy Hilde anvertraute, ein kostspieliges seidenes Kostüm anfertigen. Daisy selbst mußte das ihrige von dem sowieso schon recht mageren Taschengeld bestreiten. Aber Hildes Mutter, die gute Frau Doktor Dahlen, wußte wie immer Rat. Ihr Mann war seit einigen Tagen wieder frischer, da hatte auch sie mehr Lebensmut und Lust, sich an der Vorfreude der jungen Mädchen zu beteiligen.

»Wißt ihr was, Kinder,« unterbrach sie die tollen Vorschläge, in denen Hildes phantastisches Köpfchen sich überbot, »ihr fertigt euch eure Kostüme im Hause selbst an. Ich schlage euch vor, ihr geht beide als Babies. Ich habe noch wundervollen Spitzenstoff von der verstorbenen Großmutter, das gibt zwei prächtige weiße Hänger; ganz gleich geht ihr, eine wie die andere, daß man euch gar nicht unterscheiden kann. Ihr sollt mal sehen, das gibt einen Hauptspaß.«

Hilde, die es eigentlich nicht unter Rundfunk oder Zeppelin hatte tun wollen, nahm den bescheidenen Vorschlag freudig an, da sie mit Daisy das gleiche Kostüm tragen sollte.

»Und du ziehst Schuhe ohne Absätze an, Daisy, und ich welche mit ganz hohen, dann sind wir ziemlich gleich groß, und blonde Lockenperücken nehmen wir, ja, Daisy, die mußt du schon spendieren. Ach, das gibt ja einen Jokus, wenn uns alle verwechseln werden!«

Auch die gesetzte Daisy brannte lichterloh.

»Weißt du, darling, Milchflaschen mit Gummipfropfen müssen wir uns umhängen wie richtige Babies, und dann nehmen wir Puppen auf den Arm, nicht?«

»Nein, lieber Luftballons, das ist noch ulkiger,« entschied Hilde, das Überlegen und Beraten wollte kein Ende nehmen. Die Arbeit kam in diesen Tagen ein wenig zu kurz. Aber die jungen Mädchen trösteten sich damit, daß sie in den Osterferien, die vor der Tür standen, schon alles nachholen würden. Umso eifriger wurde in Hildes Zimmer bei verschlossenen Türen zugeschnitten und geschneidert. Frau Doktor Dahlen legte selbst mit Hand an, und Hilde, die sonst nicht zehn Minuten ruhig bei der Näharbeit sitzen konnte, brachte es fertig, stundenlang die Nadel durch den weißen Spitzenstoff zu führen.

Aber wie schön wurden auch die Kostüme!

Zart und duftig wie eine lichte Wolke hingen sie an dem endlich herangenahten Abend über dem Sofa, mattblaue Schärpen schmückten sie, und große Spitzenhüte vervollständigten den kleidsamen Anzug. Daisy zog sich bei Hilde an, denn Fränze wollte auch, um nicht erkannt zu werden, allein zum Maskenball fahren.

Die beiden Mädel fanden sich, als sie fertig waren, gegenseitig süß. Aber sie sahen wirklich ganz allerliebst aus, auch die Mutter meinte es; die Milchflaschen und Luftballons vervollständigten den drolligen Eindruck. Und als sie sich die seidenen Larven vor das Gesicht gebunden, war die Mutter im Augenblick selbst im Zweifel, welches ihre Hilde und welches die Freundin sei.

Doktor Dahlen wollte durchaus dem Maskenball beiwohnen, seiner Frau Bitten, sich doch lieber zu schonen und mit ihr daheim zu bleiben, verklangen ungehört.

Die Brüder, die sich auch in geheimnisvollster Weise verkleidet hatten, waren schon fort, als Hilde und Daisy herzklopfend im Wagen ihrem Ziele zurollten.

Der erste Ball – wohl jedes junge Mädchenherz schlägt neben aller jubelnden Freude etwas bange und zaghaft. Selbst die kecke Hilde war nicht ganz frei von Ballfieber, und Daisy pochte das Herz bis in den Hals. Und noch eins beschäftigte Hilde lebhaft, würde Doktor Werner da sein?

Geladen war er, das wußte sie durch Max. Aber ob er kam? Er hatte kein Wort über den Maskenball ihr gegenüber verlauten lassen, und sie hatte nicht gewagt, ihn zu fragen.

Es war schon kolossal viel ›Stimmung‹, als die beiden Babies Hand in Hand den lichtschimmernden Saal betraten. Lautes Hallo begrüßte die reizenden Kleinen. Ein dreister Hanswurst nahm Daisy sogleich ihren Luftballon weg und zerknallte ihn unter lautem Jubel aller Masken. Ein alter Dorfschulmeister im abgeschabten schwarzen Röckchen, mit der Hornbrille auf der aufgesetzten Nase, meinte, das Rohrstöckchen schwingend, solche kleinen Würmer wie sie gehörten auf den Federball und nicht auf den Maskenball. Hilde schaute den langen Dorfschulmeister an und erkannte ihn nicht, und dabei war es doch Bruder Max, der ebenfalls keine Ahnung hatte, daß er mit der Schwester sprach.

Es kamen viele von Maxens Freunden und schrieben einem der Babies H. D. in die Hand, welche aber die Hilde sei, das bekam keiner heraus. Hilde hatte, um die Verwechslung aufrecht zu erhalten, ihr lebhaftes Temperament möglichst gedämpft, sie sprach nur mit verstellter Stimme.

Und Daisy fühlte sich unter ihrer Maske so sicher, und es machte ihr solchen Spaß, allgemein für Hilde gehalten zu werden, daß sie ganz aus sich herausging. Eine kecke Satanella in feurigem Seidenkostüm drängte sich dreist an die beiden Freundinnen heran und schrieb ihnen immer abwechselnd ihre Namenszüge in die Hand, das mußte Fränze sein. Hilde sowohl als Daisy hatten nur auf alle Fragen ein stummes Kopfschütteln zur Antwort. Daisy ging auf Doktor Dahlen, der als älterer Herr kein Kostüm brauchte, zu und küßte ihm die Hand. Der fuhr liebkosend dem Baby über die blonde Lockenperücke und meinte leise zu ihr: »Hilde – Liebling, tanze nicht so toll!«

Ja, Hilde sowohl als Daisy waren begehrte Tänzerinnen. Sie kamen gar nicht zur Besinnung. Jedesmal, wenn Hilde nach Doktor Werner ausspähen wollte, holte sie einer zum Tanz. Er war sicherlich nicht da, sonst hätte sie ihn unter all den Rittern, Zigeunern, Italienern, Mönchen, Tirolern und Clowns bestimmt schon entdeckt. Der schwarze Ritter mit dem herabgelassenen Visir; der nicht von ihrer Seite wich und am liebsten jeden Walzer mit ihr getanzt hätte, konnte es nicht sein. Doktor Werner war viel breitschultriger und von kräftigerem Wuchs. Sicher war das einer von Maxens Freunden.

Er hatte ihr D. G. in die Hand gezeichnet, und sie hatte, um ihn irrezuführen, genickt.

Nun hielt er ihr fortdauernd seine Hand hin, um zu sehen, ob sie ihn auch erkannt habe. Aber welche Namenszüge Hilde auch hineinschrieb, es stimmte nie.

Ganz merkwürdige Fragen stellte er während des Tanzes an sie, ob sie das Lied ›Er ist gekommen in Sturm und Regen‹ gern hätte, und als sie darauf den Kopf geschüttelt hatte, war er eine Weile ganz still geworden. Und dann hatte er sie gefragt, ob sie nicht lieber das Studium aufgeben wolle. Diese Zumutung hatte Hilde mit aller Empörung zurückgewiesen. Aber als er sie noch leise gefragt, ob sie wohl einmal im letzten Winter an Indien gedacht habe, da begann Hilde an seinem Verstande ernstlich zu zweifeln.

Er aber wurde immer stiller und langweiliger. Daisy schien sich mit ihrem Herrn drüben viel besser zu unterhalten. Das war ein frommer Eremit, mit langem, eisgrauem Bart, der war seiner Sache ganz sicher, daß er keine andre als Hilde Dahlen am Arm führte.

»Na, Sie Trotzkopf, sind Sie endlich sanft und fügsam geworden?« fragte er Daisy beim Charleston.

Diese antwortete mit verstellter Stimme: »Ich bin ein kleines artiges Baby und stets sanft wie eine Taube.«

Und als er die Frage an sie richtete, ob sie gern Zigarren rauche, und sie die Milchflasche mit dem Gummipfropfen statt jeder Erwiderung stillschweigend an den Mund setzte, da gab es für ihn keinen Zweifel mehr.

Nur Hilde konnte in so ulkiger Weise antworten.

Er drückte die behandschuhte Rechte während des Tanzes mit so viel Feuer, daß Daisy den greisen Gottesmann ganz erschrocken von der Seite ansah.

Bei der Tombola gab es ein großes Gedränge.

»Komm, wir wollen schnell unsre Herren wechseln,« flüsterte Hilde Daisy zu. Und ohne, daß die Betreffenden es gemerkt hätten, führten sie mit einem Male eine andere Dame am Arm.

Der Eremit setzte das angefangene Gespräch mit seiner vermeintlichen Partnerin fort.

»Also Sie denken es sich wirklich schön, ein eigenes Heim zu haben und dem Haushalte vorzustehen?«

»Ich –« meinte Hilde erstaunt, »nicht im geringsten!«

»Aber Sie haben es mir doch eben schon zugestanden?« Dem Eremit schien sehr viel an der Beantwortung dieser Frage zu liegen.

»Da haben Sie mich total mißverstanden,« sagte Hilde, die sich vor Lachen kaum halten konnte, »nichts ist mir greulicher, als im Haushalt mich abraxen zu müssen.«

»Aber wenn Sie einen so recht liebhaben?«

»Ich habe aber keinen lieb,« fuhr Hilde auf. Wie kam der fremde Mensch dazu, sie derartig auszuhorchen!

Da wurde auch der noch eben so redselige Eremit ganz schweigsam und zurückhaltend. – Hilde hätte gar zu gern gewußt, wer er war.

»Sie sind ja so still,« sagte das andre Baby inzwischen zu dem unbekannten Ritter.

Dieser zuckte die Achseln.

»Sie haben mich bitter enttäuscht.«

»Aber wieso denn?« Das Baby riß so verwundert die Blauaugen hinter der schwarzseidenen Maske auf, daß auch der letzte Zweifel bei dem Ritter schwand – Daisy Greeham und keine andre hatte er vor sich.

»Was würden Sie von einem Mädchen denken, die jemand in dem Glauben läßt, daß sie warm für ihn empfindet, und nach geraumer Zeit jede Erinnerung daran ausgelöscht hat?« fragte er ernst.

»Und das hätte ich getan?« Daisy wurde es ganz beklommen ums Herz – wo hatte sie den schwarzen Ritter bloß schon gesehen?

»Nicht in jedem Herzen ist der Ton des Liedes so schnell verklungen–«

»Zur Demaskierungspolonäse antreten!« Die leisen Worte des Ritters wurden von dem lauten Ruf des Festordners unterbrochen.

»Wir tauschen unsre Herren wieder aus,« flüsterte Hilde, die sich mit ihrem stummen Eremiten noch mehr langweilte als mit dem Ritter, übermütig Daisy zu.

Es gelang ihnen, in dem Gewühl wieder unauffällig zu ihren ersten Herren zurückzukehren. Aber das Gespräch wollte hüben und drüben nicht mehr recht in Fluß kommen. Auf beiden Seiten lag Verstimmung, und jedes weitere Wort der Babies verstärkte dieselbe noch.

Der Ritter sah die vermeintliche Daisy gar nicht mehr an und bemerkte es daher auch nicht, daß das Baby mit einem Male hellbraune Augen hatte.

»Also solche Angst haben Sie vor dem Abiturium,« hörte Hilde inzwischen den Eremiten zu der vor ihr gehenden Daisy sagen, »in welchem Fach sind Sie denn am besten?«

»In Mathematik,« war die ruhige Antwort.

»Na, hören Sie mal,« legte der Eremit da plötzlich los, und merkwürdig, seine Stimme klang gar nicht mehr so heiser und zittrig wie bisher, sondern stark und voll, Hilde stutzte – diese Stimme ...

»Na, ein bißchen viel Selbstgefühl haben Sie ja, kleines Baby,« fuhr der Eremit lachend fort, »wenn Sie in den andern Unterrichtszweigen nicht besser sind als in Mathematik, ist es schlimm um das Examen bestellt.«

»Ja, woher wissen Sie denn das?« verwunderte sich Daisy, und auch Hilde horchte erstaunt auf.

»Das Rätsel soll sich Ihnen gleich bei der Demaskierung lösen. Es ist Mitternacht.«

Der Eremit reichte dem Baby den Arm, und auch der Ritter schloß sich mit Baby Nummer zwei dem vor ihnen schreitenden Paare an.

Die jungen Mädchen brannten darauf, die Herren in ihrer wahrhaften Gestalt vor sich zu sehen. Sie hatten keine Ahnung, wer sie sein könnten.

Der Eremit und der Ritter waren weniger begierig, glaubten sie doch ganz genau zu wissen, wen sie am Arme führten.

Die Jazzkapelle blies jetzt einen lauten Tusch, und »Masken ab!« erscholl das Kommando.

Lautes Lachen und Ausrufe der Enttäuschung wurden laut. Der schwarze Ritter aber starrte erschreckt statt in Daisys in – Hildes heißes Gesichtchen, die voll Erstaunen »Günter Berndt, Sie!« ausrief.

Da wandte sich das voranschreitende Baby, das lachend die Verwandlung des Eremiten in ihren blonden Mathematiklehrer mit ansah, jäh um – das Blut entwich dem zarten Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen wie auf eine Geistererscheinung blickte sie auf Günter Berndts seegebräuntes Antlitz.

Und noch zwei Augenpaare kreuzten sich und blieben fest ineinander haften. Doktor Werner glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er Hilde am Arm eines andern erblickte. Diese Täuschung war ihm unfaßbar. Sekundenlang nur währte diese starre Verwunderung, dann löste Hildes helles Lachen den Bann, der sie alle vier umfangen hielt. Und bald wurde den beiden Herren, die einen Eid darauf ablegen wollten, daß sie mit der Dame des Partners getanzt hätten, die ulkige Hintergehung offenbart.

»Das kostet Strafe,« meinte Günter Berndt lachend zu der wieder rosig angehauchten Daisy, »der nächste Tanz und alle folgenden gehören mir. Das ist die geringste Genugtuung, die Sie mir geben müssen.« Er war glückselig, daß nicht Daisy, sondern Hilde seine inhaltschweren Fragen so unbefriedigend beantwortet hatte.

»Aber wo kommen Sie denn bloß her, Günter, ich dachte, Sie schwimmen noch auf dem Ozean?« fragte Hilde endlich.

»Gestern war ich noch in Hamburg, heute, als Sie in der Schule waren,« ein neckender Blick streifte Hilde, »war ich bei Richard, da hat mich Max gleich zu heute abend gekeilt. Ich nahm ihm eine Einlaßkarte ab unter der Bedingung, daß keiner etwas von meinem Hiersein erfährt. Die Überrumplung ist ja fein gelungen.« Sein Auge suchte wieder die verklärt dreinschauende Daisy.

»Na, na,« begehrte Hilde auf, »die Überrumpelten sind wie immer die Herren. Mit wem haben Sie denn nun eigentlich getanzt, Herr Doktor Werner?« Schalkhaft sah sie zu dem gestrengen Lehrer empor.

»Wir haben schon so manchen Tanz miteinander gehabt,« ging er auf ihren lustigen Ton beim Foxtrott ein. »Heute wollen wir von der Landpartie nachholen.« Hilde nickte strahlend.

»Wollen wir auch tanzen?« fragte inzwischen Günter Berndt das andre Baby.

Dieses schüttelte den Kopf.

»Lieber plaudern, Sie müssen mir von Ihren Reiseerlebnissen erzählen und von – Ihrer Lotosblume am Ganges,« setzte sie mutwillig hinzu.

Günter war mehr als einverstanden damit.

Hilde tanzte »ohne Maß und Verstand«, nach Ausspruch des Vaters, und Doktor Werner, der mit Hildes Eltern, Richard, Günter Berndt, Daisy und Fränze einen gemütlichen Tisch in einer der Nischen gebildet hatte, gab ihm heimlich recht. Er fand es überhaupt unnötig, daß sie mit den andern allen tanzte.

Die Mutter aber meinte mit wehmütigem Lächeln: »Mein Gott, der erste Ball!«

Günters Blick haftete ernst an Doktor Dahlens graubleichem Gesicht. Wie hatte sich der kräftige Mann in der kurzen Zeit verändert!

Hilde hätte niemals geglaubt, daß es auf ihrem ersten Ball so himmlisch sein würde. Als sie endlich im Bette lag und die Ereignisse des Abends noch einmal durchlebte, umspielte ein seliges Lächeln im Einschlafen ihren Mund in Erinnerung an die herrlichen Stunden – es war der letzte frohe Augenblick, den Hilde für lange Zeit haben sollte.

Durch das Fenster graute trübe und regenschwer der neue Tag herein.


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