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Auf dem Gymnasium

An einem lichten Frühlingstage war's, warmer Lenzsonnenschein lachte siegreich vom Aprilhimmel herab und lugte neugierig durch die hohen, gardinenlosen Fenster in das große Klassenzimmer hinein.

Ei – so viele holde Frühlingsblüten, die mußte er sich doch näher ansehen. Übermütig glitt der flimmernde Sonnenglanz an den graugetünchten Wänden entlang, huschte über die große Landkarte durch den Atlantischen Ozean und streifte mit den goldenen Strahlenfingern weich und warm die blonden und braunen Mädchenköpfe, die sich eifrig über Hefte und Bücher neigten. An widerspenstigem braunen Gelock machte der lose Geselle plötzlich Halt, sprühende Goldfunken ließ er in Hildes Braunhaar aufblitzen, kitzelte sie neckend mit seinem Strahlenbüschel unter das kecke Näschen und malte ihr gar seltsame Figuren, Schnörkel, Kreise, Linien und Flecke auf das Rechenheft, bis Hilde mit einem leisen Seufzer das hübsche Köpfchen von der Arbeit hob. Sehnsüchtig folgten ihre Augen dem gleißenden und lockenden Spiel der glitzernden Sonnenstrahlen hinaus zum Fenster in die süße, weiche Frühlingsluft.

Leise schaukelte der große Kastanienbaum draußen seine knospenschwellenden Zweige im linden Lenzwind, zart lichtgrüne Blättchen, die sich wie winzige Kinderhändchen zusammenballten, lugten hie und da schon fürwitzig aus braunem Knospenbett hervor. Hilde blinzelte in wohliger Schläfrigkeit in das goldene Sonnengeflimmer hinaus, ihre roten Lippen öffneten sich durstig – würziges, frisches Wehen kam vom Flusse herüber; das halbgeöffnete Fenster, vor dem sie ihren Platz hatte, ließ den kräftigen Erdgeruch, der dem keimenden Boden entstieg, in die dumpfige Schulstube hineinströmen. Die Augen des jungen Mädchens leuchteten auf – zwitschernde Schwalben schossen plötzlich in großem Bogen am Klassenfenster vorüber, pfeilschnell durchschnitten sie auf schlanken Schwingen die blaue Luft – ach, wer doch mit könnte!

»Fräulein Dahlen, sind Sie mit der Kreisberechnung schon fertig?« klang es jäh in Hildes Frühlingsträume hinein.

Das junge Mädchen schrak empor, ein schneller Blick flog zum Katheder hinüber. Hatte Doktor Werner ihre Unaufmerksamkeit beobachtet? Er saß zurückgelehnt in seinem Stuhl, hatte die Arme über die Brust gekreuzt und blickte mit ernsten Augen fragend zu ihr herüber.

Der Blick war Hilde unbequem. Trotzig warf sie den Kopf zurück und begann verlegen an ihrem Federhalter zu kauen.

Ach du lieber Himmel – wenn er bloß auf dem Katheder sitzen blieb, wenn er nur nicht, wie es seine leidige Angewohnheit war, an den Fenstern auf und ab marschierte. Sie hatte ja noch nicht die Hälfte der Aufgaben gelöst!

Und als ob Doktor Werner ihre geheimen Gedanken erraten hätte, erhob er sich plötzlich und trat zum Fenster.

Hilde neigte den Kopf tief über ihre Arbeit und begann eifrig Zahlen und Buchstaben hinzuschreiben, ohne Sinn und Verstand. Diese vertrackte Kreisberechnung! Sie kam damit nicht zustande. Doktor Werner wandte ihr den Rücken, er schien ganz versunken in die sonnige Frühlingswelt da draußen. Hilde benutzte die Zeit.

»Daisy,« sie zupfte die neben ihr sitzende Freundin aufgeregt am Ärmel, »du – was kommt denn heraus?«

Daisy hörte nicht, sie rechnete und schrieb, ohne aufzublicken, mit heißen Wangen, daß Hilde vom Zusehen allein schon brühwarm wurde.

Mit fliegender Hand kritzelte Hilde ein paar Zeilen auf ihr Löschblatt und schob es Daisy zu.

»Schreibe mir flink die Resultate vom Inhalt, Sektor und Kreisbogen auf,« las Daisy erstaunt.

Sie sah unzufrieden auf die Freundin – Hilde war doch kein Kind mehr – sie arbeitete doch für sich und nicht für den Lehrer!

»Versuche es doch noch einmal, es ist gar nicht schwer,« bat Daisy kaum hörbar.

Hilde schüttelte ärgerlich den Kopf – solche Zumutung – sich noch einmal mit diesem mopsigen Kreis abquälen, das konnte ihr fehlen! In ihrem Kopf ging es schon davon wie im Kreise herum.

Sie wartete, beobachtete gähnend, wie der Frühlingswind das volle blonde Haar Doktor Werners leise bewegte, wie tadellos der dunkelgraue Anzug seine hohe, breitschulterige Gestalt umschloß, und wie eine kecke Frühfliege langsam über seinen schneeweißen Kragen spazierte. Daisy würde ihr die Ausrechnung schon schicken – sie kannte sie ja!

Und ihre Zuversicht täuschte Hilde nicht. Die gutmütige Daisy ließ das Löschblatt mit den Resultaten zurückwandern – Hilde war mit ihren Aufgaben fertig.

Eine stärkere Luftwelle flutete plötzlich zum Fenster herein. Doktor Werner wandte sich um – Hilde griff erschreckt nach ihrem Löschblatt, das der boshafte Wind gerade zu Füßen des Lehrers hintrieb. Es war zu spät – schon hatte Doktor Werner sich gebückt und reichte der errötenden Hilde ihr Eigentum zurück, ohne scheinbar einen Blick auf das Blatt zu werfen.

Hilde atmete auf.

»Bitte, Fräulein Steinau, was haben Sie bei der ersten Aufgabe herausbekommen?« Doktor Werner schritt an den Fenstern auf und nieder. Er war der einzige Lehrer am Gymnasium, der die jungen Mädchen mit »Fräulein« anredete. Daher fühlten sie sich auch verpflichtet, sich wie junge Damen in seiner Stunde zu benehmen.

Die Gefragte, eine kleine Blondine, nannte das richtige Resultat.

»Weiter – Fräulein Dahlen.«

Hilde begann siegesgewiß mit lauter Stimme die abgeschriebenen Resultate zu verlesen.

»Ihre Ausrechnung, bitte?« er stand neben ihr und streckte die Hand nach ihrem Heft aus. Daisy wurde totenbleich. Hilde aber biß sich auf die Lippen und reichte Doktor Werner stumm das Korpus delikti dar. Ihre hellbraunen Augen sahen kampfbereit zu ihm auf.

Doktor Werner überflog das unsinnige Zahlen- und Buchstabengewirr – bis in den Hals hinein fühlte Hilde ihr Herz schlagen – eine Ewigkeit dünkte ihr jede Sekunde.

Ihr Mut verflog allmählich – jetzt klappte Doktor Werner das Heft zu. Hilde senkte schuldbewußt in Erwartung der kommenden Strafe das Haupt.

»Es ist gut,« hörte sie ihn plötzlich mit ruhiger Stimme sagen. Das Unglücksheft lag wieder vor ihr auf dem Tisch.

Verdutzt blickte Hilde auf – das war alles?

Die Stunde nahm ihren Fortgang. Eifriger als sonst beteiligte sich Hilde am Unterricht, aber Doktor Werner nahm keine Notiz mehr von ihr. Ihre Wangen brannten vor Scham, und ihre Augen blitzten vor verhaltenen Tränen – hätte er sie doch vor all den Mitschülerinnen bloßgestellt und heruntergemacht – hätte sich doch ein Donnerwetter über sie entladen – nur nicht solche schweigende Verachtung!

Sie waren doch alle gleich, diese Zahlenmenschen, einer wie der andere. Nicht ausstehen konnte Hilde sie. Entweder trocken und ledern wie 'n Paar alte Stiefel oder so – so – Hilde ballte zornig die Hände.

Eigentlich war es ihr ja total schnuppe, was Doktor Werner von ihr dachte – ja, war es ihr auch! Aber sie galt doch jetzt als erwachsenes Mädchen, und er sagte doch auch »Fräulein« zu ihr. Da durfte sie sich nicht wie eine Schulgöre benehmen. Sich entschuldigen – i wo – sie war doch kein Baby, selbst als Kind hatte sie nur schwer eine Abbitte über die widerstrebenden Lippen gebracht. Doktor Werner schloß die Stunde, er nahm sein Notizbuch vor und begann Verschiedenes einzutragen. Die jungen Mädchen hatten ihre Bücher zusammengepackt und zogen sich draußen auf dem Korridor an. Allen voran war Hilde hinausgestürmt, der Boden brannte ihr förmlich unter den Füßen, es war ihr, als ob sie in der Klasse ersticken müßte.

»Bist du fertig, Hilde?« fragte Daisy, zum Gehen bereit.

»Ja, – einen Augenblick – halt – ich habe meine lateinische Grammatik drinnen liegen lassen; geh immer voraus, Daisy, ich komme gleich nach.«

Hilde trat in die leere Klasse zurück. Doktor Werner sah nicht auf.

Langsam näherte sie sich dem Katheder.

»Ich – es – es ist mir so peinlich, Herr Doktor,« begann sie blutübergossen mit stockender Stimme. Er hob den klugen Kopf und sah sie unverwandt an.

»Daß – daß ich keine Ausrechnung hatte,« vollendete Hilde leise.

»Sie betrügen nur sich selbst, nicht mich,« sagte er kalt und wandte die Augen von ihrem reizenden Gesichtchen wieder seinem Buche zu.

Hilde kämpfte mit sich – eigentlich war sie verabschiedet – warum ging sie denn nicht?

»Bitte, seien Sie mir nicht mehr böse,« bat die eigenwillige Hilde plötzlich ganz schüchtern, – »aber die Kreisberechnung ist auch zu eklig!« Durch die eben noch so weiche Stimme klang schon wieder ein klein wenig kriegerischer Geist.

Es zuckte belustigt über Doktor Werners Gesicht.

Hilde sah es nicht.

»Sie wissen, Fräulein Dahlen, daß Sie mich so oft fragen können, wie Sie wollen, wenn Ihnen etwas unklar geblieben ist, ich werde es Ihnen immer wieder gern erklären – aber die Lüge, und wäre es auch nur ein kindisches Sichselbstbetrügen, verzeihe ich allerdings nicht.«

Da war es wieder, dieses Unnahbare in seinen Worten, das Hilde stets so reizte und empörte.

Sie drehte sich kurz um.

»Guten Tag!« sagte sie schroff und war zur Tür hinaus.

Er trat zum Fenster und blickte auf die Brücke hinunter, auf der Daisy Greeham ungeduldig auf und ab ging.

Jetzt machte sie einige Schritte zurück; ein schlankes Mädchen im grauen Kostüm mit heißen, brennenden Wangen hing sich an den Arm der Freundin, trapp–trapp ging's über die Brücke, und jetzt bogen sie um die Straßenecke.

»Wie der Frühlingswind ist sie, das kleine Ding,« dachte Doktor Werner, »süß und herbe zugleich, eigenwillig und ungestüm, und dabei doch von köstlicher, erquickender Frische.«

Hilde und Daisy schlenderten langsam durch die durchsonnten Pfade des Tiergartens dem Stadtviertel zu, in dem ihre Wohnung lag.

Dieser tägliche Spaziergang nach dem stundenlangen Sitzen bei geistiger Arbeit war ihnen beiden eine Wohltat. Hilde reckte die kräftigen Arme in die laue Luft und sog in vollen Zügen den milden, balsamischen Lenzhauch ein, während Daisy mit weicher Hand liebkosend über die jungen Blättchen und Knospen strich. Wie ein zartgrüner, duftiger Schleier hing es über Baum und Strauch.

»Frühling – Frühling wird es nun bald,« begann Hilde trällernd. Daisy hielt sich entsetzt beide Ohren zu.

» Shocking indeed – Hilde hör' auf mit deinen Frühlingsgefühlen, nicht ein Ton war richtig.«

Hilde lachte ohne jede Empfindlichkeit.

»Na, wenn du meine holde Stimme so wenig zu würdigen weißt, halte ich eben den Mund, zum Dank für deine werktätige Hilfe heute bei den schauderhaften Mathematikaufgaben.«

»Ach, Hilde – ich war mehr tot als lebendig – aber das war doch nett von Werner, nicht, das mußt selbst du zugeben?«

»Ja, es war riesig anständig von ihm,« räumte Hilde ein.

»Aber du hättest ihm irgend etwas sagen müssen, Hilde, ja ganz bestimmt, wenn du ihn auch nicht ausstehen kannst, du warst ihm doch eine Erklärung schuldig.«

»Was ist da viel zu erklären,« meinte Hilde, »daß ich gemogelt habe, hat er ja selbst gesehen, aber im übrigen beruhige dich,« – ihr aufrichtiger Charakter siegte – »ich habe pater pecavi gesagt.«

»Was – du hast – – –«

»Jawohl,« fiel Hilde ungeduldig ein, »war natürlich nur Mumpitz mit der vergessenen Grammatik. Ich bin in Kanossa gewesen und habe wie ein artiges Kind Abbitte geleistet, und zum Dank dafür bekam ich ein Solokolleg zu hören über kindischen Selbstbetrug und so weiter. Aber nun Schluß der Debatte, ich will mir den schönen Tag nicht durch den langweiligen Werner verderben.«

»Langweilig ist er gar nicht,« widersprach Daisy, »im Gegenteil, er weiß einem selbst das trockenste Zeug interessant zu machen, ich finde ihn am nettsten von allen Lehrern am Gymnasium.«

»Na, dazu gehört nicht viel,« seufzte Hilde, »das habe ich in den drei Wochen nun auch schon weg, Gymnasium ist gerade so öde wie Schule – natürlich unter Diskretion, Daisy – zu Hause bin ich selbstverständlich von allem begeistert – sogar von Werner. Nein – den Gefallen tue ich den Jungens nicht, zu sagen, daß es mir dort nicht gefällt!«

»Ich finde es in der Tat riesig nett und anregend; sieh mal, Hilde, Literatur bei der Kurz ist doch ganz famos.«

»Ja, der Unterricht geht ja noch an, aber die Kurz selbst ist gerade solche alte Tante, wie wir sie an der Schule hatten. Immer und ewig hat sie an mir herumzunörgeln; wie kann sie sich erlauben, mir zu sagen, ich solle nicht wie das Mecklenburger Wappen dasitzen. Ich bin doch ein erwachsenes Mädchen!«

»Umso schlimmer, wenn du trotzdem noch die Ellbogen unmanierlich auf den Tisch stütztest,« lachte Daisy.

Hilde schwieg.

»Böse?« Daisy hob Hildes Kinn zu sich empor.

»Quatsch – auf dich bin ich doch niemals verknurrt, Daisy. Aber mit der Kurz setzt es noch manchen Tanz, ich habe solche Ahnungen – Lehrerinnen konnten mich niemals leiden.«

»Dafür hat dich aber der alte Collmann umso mehr in sein Herz geschlossen. Latein wird dir doch geradezu beneidenswert leicht.«

»'s wäre mir lieber, wenn ich in Mathematik nicht so vernagelt wäre; denkst du vielleicht, es ist mir angenehm, vor jeder Aufgabe wie ein Ochse vorm Berge zu stehen und den gelehrten Herrn Doktor Gerhard Werner so niederträchtig vor sich hin lächeln zu sehen! Weiß der Kuckuck – jedesmal, wenn ich einen Gähnkrampf kriege, muß er mich gerade angucken.«

»Er hat doch wundervolle dunkelblaue Augen, nicht? Die Mädels schwärmen ja fast alle für ihn,« sagte Daisy.

»Du, wie mir scheint, nicht am wenigsten,« fuhr Hilde los. »Die richtigen kleinen Backfische – blaue Augen und hoher Wuchs – futsch sind sie – na, mir kann's ja ganz pipe sein!« Sie knickte vor Ärger ein lichtgrün sprießendes Zweiglein ab. Daisy nahm das junge Reis behutsam auf.

»Pfui, Hilde, wie ungestüm du bist,« sagte sie vorwurfsvoll, »die armen jungen Triebe können doch nichts für deine Abneigung gegen Werner – du kannst die Person eben nicht von der Sache trennen.«

»Ja, nimm ihn nur auch noch in Schutz!« höhnte Hilde.

»Hilde, du weißt es doch selbst, daß ich an ganz anderes zu denken habe als an dumme Mädchenschwärmereien,« sagte Daisy ernst, aber ein klein wenig rot wurde sie doch dabei – und Günter? Das war keine Schwärmerei, nein, Günter Berndt hatte sie wirklich lieb gehabt – und es war ja vorüber!

Hilde schlang stürmisch den Arm um die Freundin.

»Sei nicht böse, Daisychen, ich bin ein rechtes Scheusal. Hast es schon so schwer daheim und nun ärgere ich dich auch noch,« sie zog Daisys Kopf zu sich herab und küßte sie herzhaft.

»Was nicht Worte können sagen, sagt ein einziger süßer Kuß,« klang es da plötzlich neckend von frischen Stimmen hinter ihnen. Die Mädchen sahen sich erschreckt um. Lachende Studenten zogen des Wegs.

»Schnell, Hilde, daß sie uns nicht belästigen.« Wie gehetzt eilte Daisy der Freundin voran.

»Lauf doch nicht so,« rief Hilde hinter ihr her, »sie tragen Gelb, Rot, Schwarz, das ist ja eine befreundete Verbindung von Max.«

Aber Daisy hörte nicht, erst als sie die breite Chaussee erreicht hatten, die zur Stadt führte, blieb sie atemschöpfend stehen.

Hilde lachte, daß ihr alles weh tat.

»Au – ich kann – nicht mehr – Daisy – du Hasenfuß – läufst vor deinen eigenen baldigen Kollegen davon, vor ganz harmlosen, lustigen Studenten! Ach, das hätten Richard und Günter Berndt sehen müssen!«

»Hilde – dein Wort, daß du nichts erzählst!« Daisy umkrampfte flehentlich Hildes Hand.

»Ist doch ganz selbstverständlich, Daisy, Diskretion Ehrensache! Aber Wurst wider Wurst, hast du morgen für mich eine Stunde Zeit?«

»Wieso?«

»Du sollst die mathematischen Aufgaben noch einmal mit mir durchkauen; wenn ich Max frage, quatscht er mir immer so viel von X vor, daß mir von all seinen Ixen schon allein ganz trieselig im Kopf wird. Und Abschreiben werde ich mir vorläufig verkneifen müssen. Werner nimmt mich jetzt sicher aufs Korn, da muß ich mich eben ins Unvermeidliche fügen und meinen armen Kopf malträtieren.« Hilde stieß einen schweren Stoßseufzer aus.

»Ja, morgen muß ich mit Fränze zur Schneiderin zur Anprobe. Aber warte mal – um sechs hat Fränze Violinstunde – well, dann arbeite ich eben heute mehr.«

»Hat die Fränze immer noch bei dem schüchternen, kurzsichtigen Jüngling mit dem komischen Namen Unterricht, für den sie so schwärmt? Na, so ein Blödsinn, lernt ja doch nichts, die ist genau so unmusikalisch wie ich,« sagte Hilde mit der ihre Person betreffenden eigenen Ehrlichkeit.

»Ich muß heute den nächsten Weg nach Haus, es ist schon spät,« Daisy blieb auf dem großen Platz stehen, von dem verschiedene Straßen abzweigten.

Elektrische Bahnen sausten klingelnd vorüber, Autos tuteten schrill, Lastwagen fuhren rasselnd dahin, es war ein ohrenbetäubender Lärm – man verstand sein eigenes Wort kaum.

»Also auf morgen – soll ich nachmittags zu dir kommen?« Daisy erhob ihre Stimme.

»Geht nicht – großes Frühlingsreinmachen – fürchterliches Scheuerfest bei uns – Mama wird sowieso nicht sehr begeistert davon sein, wenn ich desertiere. Aber was tut man nicht alles für seine Lehrer!«

»Na, also schön, Hilde, dann sei um sechs bei mir, allerdings Fränzes Geigengewinsel bei Herrn Lämmerhirt oder Lämmergeier, wie du ihn immer nennst, müssen wir in den Kauf nehmen.«

Daisy bog in die vornehm stille Straße ab, während Hilde sich dem vorwärtsflutenden Menschenstrom anschloß. – – –

Es war nach dem Abendessen. Um den gemütlichen runden Eßtisch hatten sich die Mitglieder der Dahlenschen Familie versammelt. Der Vater las medizinische Zeitschriften, Richard und Max spielten Schach, und nur Mamas fleißige Hände feierten noch immer nicht.

Neben ihr stand ein großer Korb mit zerrissenen Strümpfen – eifrig stopfte sie die großen und kleinen Löcher.

»Schade, Hilde – ich hatte gehofft, du würdest mir helfen, wenigstens deine feinen Flor- und Seidenstrümpfe könntest du dir wohl selber ausbessern.« Ein vorwurfsvoller Blick flog zu der Tochter herüber.

Diese hatte beide Zeigefinger in die Ohren gestopft, die Arme auf den Tisch gestützt und die lateinische Grammatik vor sich aufgeschlagen.

»Mensa – mensae – mensae – mensam –« deklinierte sie halblaut vor sich hin.

»Ja – aber Mama, ich muß doch meine Aufgaben machen; wenn ich nicht arbeite, kriege ich einen Anranzer, und wenn ich lerne, erst recht.«

»Man darf nichts übertreiben. Kleine, auch im Eifer soll man Maß halten,« der Vater wunderte sich heimlich schon lange über Hildes ungewohnte Strebsamkeit.

»Himmel, wann soll ich denn da arbeiten?« Hilde sah höchst unglücklich aus.

»Eine halbe Stunde früher aufstehen,« nickte Mama vor sich hin, »dann ist die Zeit mit Leichtigkeit eingebracht.«

Mit einem lauten Bums schlug Hilde das lateinische Buch zu.

»Na, denn nicht,« unwirsch vor sich hin brummend, ergriff sie einen hellen Seidenstrumpf.

»Schimpfe nicht, du dachsiger Sextaner, du,« Richard ließ seinen Turm nach der andern Seite wandern, »nähere Bekanntschaft mit Strümpfen kann solchem Blaustrumpf nur förderlich sein.«

»Oho – wieso Sextaner – ich bin Obersekundanerin!«

»Der Baum ist grün – das Faß ist rund – die Eltern sind gut – diese unumstößlichen Wahrheiten übersetzten wir bereits als kleine Dreikäsehoch in Sexta.«

»Kann ich vielleicht dafür, wenn im Vita Romana, solch blödes Zeug steht?« Hilde zog mechanisch den Faden durch das feine Gewebe.

»Ihr Mädels könnt mir mit eurem Unterricht überhaupt gestohlen bleiben,« meinte jetzt auch Max, »Griechisch, womit wir uns haben so quälen müssen, fällt ganz fort, da ist es kein Wunder, wenn ihr beim Examen nicht rasselt.«

»Oh, bitte sehr, früher wurde Griechisch verlangt,« verteidigte Hilde das Mädchengymnasium, »früher waren es humanistische Gymnasialkurse –«

»Hu – wie gebildet!« beide Brüder hielten sich lachend die Ohren zu.

»Und jetzt sind überall Realgymnasien für Mädchen eingeführt,« fuhr Hilde unbeirrt fort, »dafür plagen sie einen eben umso mehr in modernen Sprachen, Naturwissenschaften und Mathematik – lieber lern' ich schon Griechisch.« Die letzte Mathematikstunde tauchte düster wieder vor Hilde auf.

Wenn die Jungen wüßten, wie schauderhaft sie sich heute blamiert hatte! Dieser Doktor Werner war wirklich für sie das Schreckgespenst am Gymnasium – und trotzdem imponierte er ihr durch seine sich stets gleichbleibende überlegene Ruhe. Ob er wußte, daß die dummen Dinger alle so für ihn schwärmten? Martha Tiedemann, die älteste, benannte ihn nicht anders als Germanicus – er hatte auch wirklich etwas von dem Typus des alten, urwüchsigen Germanenvolkes. Man konnte sich seine kraftvolle Gestalt gut, in Bärenfelle gekleidet, am Waldfeuer hingestreckt denken, das Horn mit Met auf einen Zug leerend. Aber so augenscheinlich brauchte ihn die Tiedemann deshalb doch nicht anzuhimmeln, es wurde Hilde stets ganz blümerant bei ihrem Augenaufschlag; da mußte Werner ja eingebildet werden!

Am Ende – Hildes Denkkraft stockte plötzlich vor der Ungeheuerlichkeit des Gedankens – am Ende bildete sich dieser Mensch auch noch gar ein, daß sie ebenfalls von der allgemeinen Epidemie ergriffen sei – ach, hätte sie sich doch bloß nicht entschuldigt!

Der Vater beobachtete das lebhafte Mienenspiel seiner Tochter. Weiß der Himmel, das Mädchen fehlte ihm doch am Nachmittag auf Schritt und Tritt jetzt, wo es immer bei den Büchern saß. Hilde pflegte früher während der Sprechstunde die Tür zu öffnen, ihm den Kaffee in sein Studierzimmer zu bringen, ja, hatte bei leichteren Operationen geschickt hin und wieder Handreichungen gemacht. Sogar seinen Abendspaziergang, auf dem sie ihm eine treue Begleiterin gewesen, mußte er nun meist auch ohne sie machen. Doktor Dahlen seufzte leise. Er wollte nicht egoistisch sein, man erzog die Kinder ja nicht für sich.

»Schläfst du etwa, Mädel?« Der Vater hob plötzlich Hildes Kopf hoch, der tief auf die Arbeit gesenkt war. »Aber Kindchen, was ist denn los – wo ist dir denn die Petersilie verhagelt? – Na, so rede doch, Kleine.«

Ärgerlich beschämt wischte Hilde sich geschwind mit dem Handrücken die Tränen ab, die an ihren langen Wimpern hingen. Mutter und Brüder sahen erstaunt auf – was war denn dem Mädchen?

Ja, was war ihr?

Hilde wußte es selbst nicht. Sie hatte nur an die morgigen Stunden gedacht, und da – da sah sie sich mit einem Male wieder in der Klasse vor dem Katheder stehen. Sie sah wieder die goldenen Strahlenbündel, welche die Sonne auf das einförmige Schwarz des Lehrertisches warf, jetzt tauchte sie das blonde Haar Doktor Werners in ein rötlich flammendes Lichtmeer, und nun fuhr sie zuckend über seine ernsten, leuchtend blauen Augen, daß er geblendet die hellen Wimpern senkte. Aber nur für einen Augenblick, dann schauten sie seine Augen wieder durchdringend und streng an und: »Die Lüge verzeihe ich allerdings nicht!« klang es kalt und verächtlich wieder an Hildes Ohr.

Und darum hatte sie geweint? Lächerlich – sie verstand sich selbst nicht! Um allen weiteren Fragen aus dem Wege zu gehen, sagte sie eiligst gute Nacht und verschwand alsbald in ihr Zimmer.


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