Else Ury
Lotte Naseweis und andere Schulmädelgeschichten
Else Ury

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Die Leseratte

Liselotte war selig. Onkel Max, der zweimal im Jahre auf der Durchreise die kleine Stadt berührte, in der Liselotte lebte, hatte ihr ein neues Buch mitgebracht. »Violetta« – in glänzenden Buchstaben prangte es auf dem Deckel, der Titel sowohl als der dickleibige Umfang des Buches ließ auf eine wundervolle Geschichte schließen. Am liebsten hätte sich Liselotte, anstatt die seltene Gegenwart des Onkels zu genießen, sofort in irgendeine stille Ecke des Gartens vergraben und geschmökert. Aber als Haustöchterchen mußte sie der Mutter fleißig zur Hand gehen. Liselotte war ein tüchtiges Mädel. Trotzdem sie erst zwölf Jahre alt war, nahm sie der zarten Mutter einen großen Teil der halb ländlichen Wirtschaft mit gutem Willen und Geschick aus den Händen. Nur wenn die Lesewut sie überfiel, dann war das Mädel wie ausgetauscht. Dann war sie zu rein gar nichts zu gebrauchen, sie lebte und webte dann nur noch in ihrer Traumwelt. »Leseratte« nannten sie die kleineren Geschwister respektlos. Die Mutter schalt, der Vater schüttelte den Kopf – Liselotte ließ sich nicht stören. Darum bekam sie von den Eltern nie Unterhaltungsbücher geschenkt, aber der gute Onkel Max, der die Vorliebe seines Lieblingsnichtchens kannte, umging hin und wieder den elterlichen Wunsch.

Voll Mißtrauen sah Frau Apotheker heute wieder auf das umfangreiche Buch. Am verständigsten wäre es gewesen, das neue Buch gleich an sich zu nehmen. Aber Liselotte war den feindseligen Blicken der Mutter gefolgt, fest preßte sie ihre »Violetta« gegen die Brust.

»Mutterchen, ich verspreche dir, heute kein bißchen mehr zu lesen«, das Versprechen war leicht zu geben, da sie voraussichtlich sowieso nicht dazu kommen würde.

Die alte Standuhr im Apothekerhausflur ließ zehn dünne Schläge erzittern, als Liselotte gähnend ins Bett kroch. Aber als sie die Kerze eben auslöschen wollte, fiel ihr Blick auf das neue Buch. Wie Gold blitzte der Titel in der gelben Strahlensonne des Lichtes. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. Nur einmal nachgucken, wovon es handelt. Ganz flink die beiden ersten Seiten durchflogen, das Schicksal der kleinen Geigerin fesselte Liselotte so sehr, daß sie wieder ganz munter wurde. Ort und Zeit vergaß sie. Sie dachte nicht mehr daran, daß Vater den Kindern streng verboten hatte, im Bett noch zu lesen, Seite auf Seite schlug sie mit heißen, erregten Wangen um. Das Licht knisterte warnend, es flackerte und zischte – immer näher neigte Liselotte den hübschen Blondkopf dem qualmenden Lichtstümpfchen. Ein scharfer, sengender Geruch durchzog das Zimmer, aber Liselotte atmete gerade den Duft der herrlichen Fliederbüsche vor Violettas Haus, die merkte es nicht. Da verlöschte das Licht mit lautem, ärgerlichem Knacken.

Als Liselotte am nächsten Morgen mit fliegender Hand Toilette machte, da sie sich erst eine halbe Stunde vor Schulanfang zum Aufstehen hatte entschließen können, blickte sie entsetzt in den Spiegel. Statt des reichgelockten Blondhaares standen versengte bräunliche Borsten wie die Stacheln dem Igel um ihr blühendes Gesicht. Tränen traten in Liselottes graue Augen, aber jetzt hatte sie keine Zeit mehr, um ihre Haare zu betrauern. Geschwind die Bürste ins Wasser getaucht und die Verräter zurückgestrichen. Liselotte striegelte ihren Blondkopf, wie Johann am Samstag den Braunen. Den Kaffee im Stehen hinuntergestürzt, Onkel Max einen flüchtigen Abschiedskuß versetzt, und da raste sie auch schon über den Marktplatz, zwischen den Schulbüchern trotz aller Eile – Violetta.

In der ersten Pause heischte das neue Buch bereits ein neues Opfer. Liselotte entzweite sich mit ihrer Busenfreundin, Kreisbauinspektors Ilse.

»Du riechst wie eine gesengte Gans und siehst aus wie ein geschorener Pudel, hast dir wohl die Haare brennen wollen?« meinte die Freundin harmlos.

Aber Liselotte, die schlecht geschlafen hatte, war heute kribbelig.

»Geht dich ja nichts an«, sagte sie patzig und drehte ihrer Intima den Rücken.

Ilse war auch kein Lamm, so kam es, daß Liselotte mit Amtsrichters Irmchen und Ilse mit Landrats Juditha, die sie doch alle beide nicht recht leiden konnten, Arm in Arm auf dem Schulhofe einherstolzierten.

Liselotte wußte nicht, welcher Seelenschmerz der größere war, der um die verlorenen Locken oder der um die verlorene Freundin. Aber statt den Missetäter »Violetta« von ihrem Angesicht zu verbannen, griff sie nach demselben als einzigen Lichtstrahl in einer Welt der Finsternis.

Es war in der Botanikstunde. Doktor Hertel sprach über das Veilchen. Da öffnete Liselotte leise unter dem Tische das eingeschmuggelte Buch. Bald hatte sie ihren Gram, den alten Herrn Doktor nebst seinem Veilchen und die ganze umsitzende Klasse vergessen.

Dem Lehrer entging ihre Unaufmerksamkeit nicht?

»Wovon sprach ich soeben, Liselotte?« fragte er.

Freundschaftliche Fäuste pufften die ganz versunkene Liselotte in den Rücken. Die fuhr verdöst empor.

»Von – von Violetta«, stieß sie, noch ganz in ihrer Erzählung, hervor.

Die Mädels ringsum verbargen die kichernden Gesichter in die schützenden Taschentücher. Sie hatten Liselottes neues Buch bereits bewundert. Der Herr Doktor schüttelte unzufrieden sein würdiges Haupt.

»Nicht doch – du meinst wohl viola, so heißt das Veilchen auf lateinisch. Aber gebrauche doch den deutschen Namen.«

Auch beim Heimweg, den sie sonst immer Arm in Arm mit Ilse im Schlendertrott machte, mußte Violetta heute die verknurrte Freundin vertreten. Den Florentiner mit dem feuerroten Mohnkranz schief auf dem goldblonden Kopf, das Näschen in das aufgeschlagene Buch gesteckt, so schlich das Apothekertöchterlein im Schneckentempo heimwärts. Autos und Elektrische gab es nicht, die Karren, bald mit duftendem Heu, bald mit quiekenden Ferkeln beladen, welche ihren Weg kreuzten, fuhren höflich zur Seite. Die Leseratte vergaß den Knicks vor der vorübergehenden Frau Kreisphysikus. Erst als sie unsanft gegen einen ihr entgegenkommenden Herrn anprallte, sah sie erschreckt auf.

»Na, aber –«, sagte der ärgerlich. Dann stammelte Liselotte errötend eine unverständliche Entschuldigung, und der Herr setzte mit mißbilligendem Blick auf »Violetta« seinen Weg fort.

Liselotte blickte ihm nach. Es war ein älterer, elegant gekleideter Herr, sie kannte ihn nicht. Das empfand sie als eine Erleichterung. Denn am Nachmittag war Damenkaffee, da konnte die Mutter leicht Wind davon bekommen.

Auf dem altertümlichen Steinvestibül der Apotheke am Markt stand die Mutter und schaute nach der so lange säumenden Tochter aus.

»Kind, wo bleibst du denn bloß?« empfing sie dieselbe leicht gereizt. »Ich weiß mich vor Arbeit nicht zu retten, und du stehst gewiß wieder Gott weiß wie lange mit Ilse herum.«

»Ich bin nicht mit Ilse gekommen«, brummte Liselotte, während ihr die Feindschaft mit derselben einen Stich ins Herz gab.

Die Mutter achtete nicht auf das betrübte Gesicht ihrer Ältesten.

»Die Herren von der Revision sind da, sie haben bereits das Oberste zu unterst gekehrt, jetzt sind sie zu Tische, aber abends speisen sie bei uns. Was meinst du, ob ich nachmittags zum Kaffee bei Bürgermeisters absage?«

Das Herz des Apothekertöchterleins schlug rascher. Sie kannte den plötzlichen alljährlichen Überfall der Revision aus der Hauptstadt seit vielen Jahren, sie wußte, daß ihr Vater die vorgesetzte Prüfungsbehörde nicht zu scheuen hatte. Und trotzdem waren es immer unruhige, aufregende und anstrengende Tage.

»Mutterchen, du kannst ruhig zu Bürgermeisters gehen, ich will dich schon vertreten. Ich werde den Herren den Kaffee pünktlich hineinschicken und für den Abendbrottisch Sorge tragen«, versprach Liselotte eifrig.

»Gib mir das neue Buch, Kind, sonst ist kein Verlaß auf dich«, meinte die Mutter besorgt.

»Aber Mutterchen,« Liselotte machte ein beleidigtes Gesicht, »wenn ich Pflichten übernehme, erfülle ich sie doch auch. Du kannst mir wirklich vertrauen«, stürmisch schlang sie die Arme um die zarte Gestalt der Mutter.

Violetta wanderte in das Schränkchen, und Liselotte zum Mittagessen.

Das Haustöchterchen nahm es ernst mit Mutters Vertretung. Sie saß in der Kinderstube und hatte acht, daß die zwei Kleinen nicht lärmten und die beiden Größeren ihre Aufgaben aufmerksam machten. Sie kam sich dabei ziemlich überflüssig vor. Die kleinen Mädchen spielten so artig mit ihren Puppen, und die beiden Buben rechneten so emsig, daß Liselotte herzhaft zu gähnen begann.

Mit ihren Schularbeiten war sie bereits fertig.

Wie – wenn sie sich Violetta ein wenig zur Gesellschaft holte? Sie hatte zwar der Mutter versprochen, das Buch nicht vorzunehmen, aber Mutter war doch stets gegen jede Zeitverschwendung, und sie konnte jetzt wirklich nichts Besseres tun. Das Kaffeebrett mit Tassen und Zucker stand fix und fertig nebenan auf dem Tisch. Zum Eingießen des Kaffees war es noch zu früh.

Wenn man Entschuldigungsgründe für eine unrechte Tat sucht, findet man sie stets. Bald saß Liselotte zwischen Puppen und Federkästen mit in die Ohren gestopften Zeigefingern. Die Rechenexempel waren der deutschen Grammatikarbeit gewichen, die Püppchen der Kochmaschine, und Violetta war inzwischen das berühmte Wunderkind geworden – Liselotte las noch immer.

Da klopfte es an die Tür.

Es war der langaufgeschossene Apothekerlehrling. Der Herr ließe fragen, wo denn der Kaffee bleibe. Entgeistert schleuderte Lotte Violetta in den Winkel und stürzte hinaus.

»Leseratte – Leseratte –« empfingen die Brüder die ganz echauffiert zurückkehrende Schwester.

Klatsch – da prangten zwei wohlgezielte Ohrfeigen auf den Wangen der dreisten Schlingel. Ein zweistimmiges Geheul erhob sich.

Herrgott, wenn die Herren das hörten – für ganze zehn Pfennige Gummizucker mußte sie jedem der Bengel versprechen, damit das Brüllen sich in gemäßigtes Weinen verwandelte. Das war das dritte schmerzliche Opfer, das Violetta forderte.

Im Wäscheschrank unter den größten Pack Schürzen versteckte jetzt Liselotte ihren Schatz vor sich selbst. So oft sie durch das Zimmer mußte, machte sie einen ängstlichen Bogen um den gefährlichen Schrank. Zwei ganze Stunden bis zu Mutters Rückkehr dauerte ihre Standhaftigkeit an. Das Töchterchen hatte alles zu Mutters Zufriedenheit bereitet. Die Kleinen hatte sie zu Bett bringen helfen. Der Abendtisch war zierlich gedeckt, ein farbenprächtiger Nelkenstrauß aus dem Garten prangte darauf. Aber Mutters liebevolles Lob erfreute das Töchterchen heute nicht. Es hatte ein schlechtes Gewissen wegen des verspäteten Kaffees.

»Liselotte, spring' doch noch mal nach dem Vorratskeller hinunter und fülle die Schale mit Viermus, es ist noch eine Viertelstunde Zeit bis zum Abendessen«, rief die Mutter.

»Nimm dir Licht mit, Liselotte.« Dora, das Mädchen, brachte eiligst die große Laterne herbei. »Es ist schon schummerig, und die ollen Ratzen kommen aus dem Pferdestall des Abends öfters in unsere Kellerräume. Schließe auch den Steintopf nachher fest, daß nichts herankommt.«

Liselotte lief in ihr Zimmer, um die große Schürze wieder vorzubinden. Mit dem grauen Dämmerlicht verschwammen die Umrißlinien des Wäscheschrankes schemenhaft. Geheimnisvoll lockend sah er aus. Liselotte zerrte bereits Violetta aus ihrer Verbannung hervor. Sie hatte es durch ihre Enthaltsamkeit wahrlich verdient, daß sie wenigstens noch erfuhr, wie es endigte. Eine Viertelstunde war noch Zeit bis zum Essen. Nachher wurde sicher nichts aus dem Lesen. Die Ratten oder Ratzen, wie Dora sie nannte, waren allerdings recht peinlich, aber es war ja noch nicht ganz dunkel und sie war ein beherztes Mädel.

Erst die Pflicht, dann das Vergnügen. Liselotte tat das Kompott auf und vertiefte sich dann beim zitterigen Schein der Laterne in ihr Buch. Die Buchblätter raschelten, aber auch in den Ecken und Winkeln des Steingewölbes begann es zu rascheln – abwesend hob Liselotte den Kopf. Das waren wohl die Herren von der Revision, welche nebenan den Medikamentenvorrat prüften.

Nun mußte der Lakai gleich kommen, der Violetta die Aufforderung brachte, vor der Landesfürstin zu spielen.

An Violettas Tür pochte es und – einen lauten Schrei ausstoßend, starrte Liselotte in die dunkle Kellerecke. Dort war es verschwunden – dort – das schwarzgraue Ungeheuer, sicherlich eine Ratte!

Angstvoll griff Liselotte nach Laterne und Kompottschale und eilte wie gehetzt die Steinstufen hinauf. Violetta und der unverschlossene Topf mit Viermus blieben in der unheimlichen Gesellschaft drunten im Keller zurück.

Mutter wartete schon, denn die Herren waren bereits im Speisezimmer.

Als Älteste durfte Liselotte mit bei Tische speisen. Sie knickste bescheiden und nahm ihren Platz unten an der Tafel ein.

Da fiel ihr Auge auf den neben dem Vater Sitzenden.

Allmächtige Schokolade – das war ja der Herr, den sie heute auf dem Schulweg mit Violetta angerempelt – ein neuer Schreck – sie hatte die Ärmste ja im Keller vergessen!

Einer der Herren wandte sich freundlich an das anmutige Haustöchterchen. Aber Liselotte, die sonst jedem frei und frisch Rede und Antwort stand, wagte heute kaum den Mund zu öffnen. Die Mutter ärgerte sich, daß ihre Tochter sich den Gästen gegenüber so einfältig benahm.

Ob der fremde Herr dem Vater schon was verraten hatte? Immer wieder gingen Liselottes Blicke angstvoll zu ihm. Dem Fremden mußte das schließlich auffallen, auch er faßte sie schärfer ins Auge.

Plötzlich lächelte er.

»Nanu – ist das nicht die kleine Leseratte von heute mittag?« meinte er belustigt.

Vater und Mutter machten erstaunte Gesichter, fragten aber zum Glück nichts weiter.

Liselotte erglühte dunkelrot. Nun nannte der Herr sie sogar schon bei ihrem Spottnamen! Die Tränen traten ihr in die Augen, sie war froh, als sie sich endlich zurückziehen durfte.

Violetta – schwer lag sie ihr auf dem Herzen, aber in den Keller ging sie heute abend nicht um alles in der Welt noch einmal. Morgen früh war ja auch noch Zeit dazu.

Als Liselotte gleich am nächsten Morgen in den Vorratskeller hinablief, war von Violetta nicht mehr viel zu sehen. Nur ein Häuflein zerrissener, zerbissener, zernagter und mit Viermus beschmierter Papierschnitzel zeugte von ihrem einstigen Vorhandensein. Die Ratten hatten sie mit Haut und Haar gefressen und sich dazu an Mutters Viermus gütlich getan.

Der halbgeleerte Topf mußte fortgegossen werden, und wenn Liselotte wissen wollte, ob Violetta der Landesfürstin hatte vorspielen dürfen, dann mußte sie danach ihre Namensschwester fragen – die »Leseratte«.



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